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Inhaltsangabe Reportage Herbst 1999 - Tischri 5760

Editorial - Herbst 1999
    • Editorial

Rosch Haschanah 5760
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Politik
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Interview
    • Gefahren und Verantwortung

Analyse
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    • Jörg Haider - Ein Mann in Wartestellung

Kunst und Kultur
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Reportage
    • Vernichtung durch Sklavenarbeit
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Porträt
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Vernichtung durch Sklavenarbeit

Von Roland S. Süssmann
In einer herrlichen Gegend mit ländlichem Charme liegt ein kleines, typisch österreichisches Dorf, das auf den ersten Blick reizend wirkt. Sein Name: MAUTHAUSEN ! Schon allein die Erwähnung dieses Ortes lässt all jene erschaudern, die wissen oder entdecken, was sich wirklich im gleichnamigen Konzentrations- und Vernichtungslager abgespielt hat, das vor den Toren dieses entzückenden Städtchens liegt. Sein Ruf als Lager des Schreckens war so furchterregend, dass die SS-Schergen von Auschwitz ihren Opfer drohten, “sie zur Strafe nach Mauthausen versetzen zu lassen”.
“Mauthausen” ist der Name des Hauptlagers, das in Wirklichkeit das Zentrum der gesamten österreichischen Infrastruktur der Arbeitslager darstellte ; es gab insgesamt 60 (!) untergeordnete Lager, von denen die meisten ebenso gross waren wie Mauthausen. Gusen I, Gusen II, Ebensee, Melk usw. stehen heute für die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen und für Bedingungen, die an Schrecken alles übertrafen, was in den meisten Vernichtungslager an der Tagesordnung war. Die Gefangenen wurden zur Arbeit gezwungen, doch was sie in Zwangsarbeit herstellten, bis sie daran zugrunde gingen, war eigentlich völlig unwichtig. Es handelte sich darum, die zum Tode Verurteilten wirtschaftlich auszunutzen. Das Ausmass des Grauens und des Zynismus der Nazis kann man nur verstehen, wenn man weiss, dass es Richtwerte für die Steigerung der Qual bei der Art und Weise der Ermordung gab, die man folgendermassen beschreiben könnte, ohne auf makabre Einzelheiten einzugehen: lieber erschossen als vergast werden – lieber vergast als bei lebendigem Leib zermalmt oder in einem Granitsteinbruch, einer unterirdischen Fabrik oder einem Minentunnel im Arbeitskomplex von Mauthausen zu Tode zu ersticken.
Das Hauptlager, ungefähr 160 km von Wien und 26 km von Linz entfernt, wirkt zunächst wie ein mittelalterlicher Kerker, doch der Besucher erkennt sehr bald, dass für jeden Stein, den man für den Bau dieser Burg des Schreckens verwendet hat, … der Körper eines Menschen zerdrückt wurde. Die Deportierten stammten aus allen Regionen des Reichs, sie waren nicht alle Juden, sondern es gab unter ihnen auch politische Widersacher und Homosexuelle.
Während des ganzen Krieges galt Mauthausen überall in Europa als “das entsetzliche Steinbruchlager”. Es gab in der Tat einen Granitbruch, der aus 186 Stufen bestand, die Todesstiege, die von steil abfallenden Felsen umgeben waren, von denen die Wächter ganze Gruppen von Gefangenen in den Abgrund stürzten. Nicht weit vom Hauptlager von Mauthausen entfernt befindet sich das düstere Schloss Hartheim, das damals als Ort der Folter und der Vergasung verwendet wurde… Heute sind Wohnungen daraus geworden, in denen sorglose österreichische Familien leben ! Einige Kilometer weiter westlich liegen Gusen I, Gusen II, Gusen III, diese Sklavenlager mit ihren Steinbrüchen, ihren riesigen Tunneln und in die Hügel gegrabenen unterirdischen Fabriken; noch weiter stösst man in der wunderbaren Gegend des Salzkammerguts auf dieselbe Art von Tunneln und unterirdischen Fabriken von Ebensee und Melk. Man muss sich bewusst sein, dass die Infrastruktur der deutschen Arbeits- und Todeslager sich über das gesamte österreichische Gebiet erstreckte.
Im Gegensatz zu den anderen Vernichtungslagern nahmen die Nazis nach der Ankunft der Züge keine Selektion vor, sie teilten ihre Opfer sofort den “Arbeitsbataillons” zu, damit sie sich buchstäblich “zu Tode arbeiteten”.
Mauthausen war von Himmler ausgesucht worden, bevor Österreich sich an Deutschland anschloss. Der Ort eignete sich hervorragend für den Bau eines Lagers, es gab bereits einen Granitsteinbruch, das Dorf lag an der Eisenbahnstrecke und besass auch einen Bahnhof. Am 8. August 1938 wurden die ersten Gefangenen von Dachau nach Mauthausen überführt, um das Lager zu errichten, das als einziges Lager dieser Art in die Kategorie “III” eingeteilt wurde, die schlimmste Stufe neben den Vernichtungslagern.
Der Lagerkommandant, der SS-Mann Franz Ziereis, war aussergewöhnlich grausam, er erlaubte sogar seinem elfjährigen Sohn auf die Gefangenen zu schiessen, als ob er Tauben abknallen würde.
Das Lager mit einer Gesamtfläche von 10 km2 war in drei Sektoren aufgeteilt, die je dreissig Baracken zählten, davon einige ohne Wasser oder Toiletten. Die Wohnbedingungen müssen gar nicht erst beschrieben werden, jeder kann sie sich vorstellen, jeder von uns hat Fotos davon gesehen.
Doch das Lager von Mauthausen besass auch seine Gaskammer und seine Verbrennungsöfen, neben denen sich eine Ecke für Exekutionen befand. Das Lager war nicht geheim, und wenn die Gefangenen aus den Zügen stiegen, warteten die Kinder der Dorfbewohner auf sie, um sie mit Steinen zu bewerfen. Die Bewohner selbst bedachten sie mit Beschimpfungen und riefen: “Bald werdet ihr euch in Rauch auflösen”.
ARBEIT war das Schlüsselwort der gesamten Infrastruktur von Mauthausen. Der Umfang dieser Sklaven- und Todesfabrik wird einem erst klar, wenn man weiss, dass sie vielfältige industrielle Aktivitäten betrieb: Herstellung von schweren und leichten Waffen sowie von Textilien, Arbeit in der Mine, in der Ziegelei, in bestimmten wissenschaftlichen Instituten und sogar in der Falschmünzerei. In Ebensee wurden 18’000 Gefangene für das Graben von Tunnels und unterirdischen Galerien eingesetzt, in Melk nahmen 10’000 an der Errichtung einer Waffenfabrik unter dem Boden teil und in Gusen II wurden ebenfalls 12’500 Personen für ein ähnliches Projekt eingeteilt.
Für diejenigen jedoch, die im Hauptlager von Mauthausen geblieben waren, beschränkte sich die Arbeit auf den Granitsteinbruch, der für die entsetzlichen Arbeitsbedingungen bekannt war. Nur wenige lebten dort länger als drei Monate. Die verwendeten Methoden waren überaus primitiv. Nachdem die Arbeiter einen Steinbrocken mit einem durchschnittlichen Gewicht von 25 Kilo hochgehoben hatten, wurden diese auf einen kleinen Waggon geladen, der aufgrund des Gewichts und des Umfangs der Ladung oft aus den Schienen sprang und dabei mehrere Menschen erschlug. Die Sprengung der Steine wurde ohne jegliche Rücksicht auf die Gefangenen vorgenommen, und viele von ihnen sind auf diese Weise umgekommen oder trugen schwere Verbrennungen davon. Eine von den Nazis bevorzugte und besonders zynische Behandlung bestand aus dem Tragen riesiger Steine durch die Gefangenen, die damit die 186 Stufen des Steinbruchs hochsteigen mussten. Unzählige von ihnen fielen unterwegs auf ihre Leidensgenossen und verletzten oder töteten sie bei ihrem Sturz. Diejenigen, die ohne Zwischenfall oben ankamen, mussten am nächsten und übernächsten Tag von vorn beginnen, bis sie irgendwann daran zugrundegingen oder bei ihrer Ankunft auf dem Gipfel in die Tiefe gestürzt wurden.
Doch Mauthausen war für noch viel Schlimmeres bekannt. Hier befand sich nämlich eines der grossen Zentren für das Programm der medizinischen Experimente der Nazis. Sterilisierungen, Kastrationen, Medikamentenversuche, Herzinjektionen und sogenannte “ besondere ” chirurgische Eingriffe gehörten zum Alltag. Darüber hinaus betrieben in Mauthausen einige Ärzte “Handel mit menschlicher Haut”. Die Leichen der Gefangenen wurden zerstückelt und ihre Haut ins Zentrum für Pathologie von Gusen geschickt, damit sie für die Herstellung von Handschuhen, Lampenschirmen und Koffern vorbereitet werden konnte. Tätowierte Haut hingegen wurde zu Bucheinbänden verarbeitet.
Die Lebens- oder Überlebensbedingungen im Lager waren dermassen unzumutbar, dass zahlreiche Häftlinge an Krankheiten und mangelhafter Ernährung starben. Irgendwann richteten die Nazis die Gaskammern ein, da es “mehr Arbeiter als Arbeit” gab. Die Deportierten wurden im Lager von Mauthausen selbst oder im unheimlichen Schloss von Hartheim vergast. Die Nazis hatten ebenfalls einen Eisenbahnwaggon in eine Gaskammer verwandelt, der zwischen Mauthausen und Gusen hin- und herfuhr ; bei jeder Fahrt konnten so 30 Personen ermordet werden. Besonders schockierend beim Besuch der Gaskammer ist das Guckloch, durch das die hohen Nazi-Funktionäre den Vergasungsprozess mitverfolgen konnten. Sie empfanden dabei ein zynisches Vergnügen, wenn nicht gar eine Art sadistischer sexueller Lust.
Mit dem Vorrücken der alliierten Truppen verschlechterten sich die Bedingungen in Mauthausen und das Grauen erreichte seinen Höhepunkt. Im Verlauf der ersten vier Monate 1945 wurden in Mauthausen 40’000 Menschen getötet!
Nach der Befreiung des Lagers 1945 starben weitere Tausende von Gefangenen infolge von Erschöpfung oder Krankheit.
Heute gehört das Hauptlager von Mauthausen zu den Orten, die von der österreichischen Regierung geschützt werden. Der Gipfel des Zynismus ist die Tatsache, dass Hunde, die so oft zur Einschüchterung und Folter der unglücklichen Lagerhäftlinge eingesetzt wurden, heute keinen Zugang mehr haben: “Ordnung muss sein ”.
Dies sind in grossen Zügen die historischen Gegebenheiten einer der Sklaverei dienenden Einrichtung, in der Erniedrigung, Folter und Mord an der Tagesordnung waren, vor den Augen all jener, welche die Kriegsmaschine der Nazis in Gang hielten… zum grössten Teil dank dem Gold, das die “gute” Schweiz für Hitler wusch. Kann man wirklich alle Schuld auf die Nazis schieben ? Es steht fest, dass ein kleiner Ausflug nach Mauthausen all jenen gut täte, die immer noch der Ansicht sind, die Affäre der jüdischen Bankkonten und der von den Nazis gestohlenen Vermögenswerte beschränke sich auf simple Geldforderungen.
Heute ist es vor allem wichtig, dass die Juden aus der ganzen Welt, und vor allem Schulen, Jugendgruppen, Gemeinschaftszentren und auch einzelne Familien diese Lager besuchen. Wenn wir dies nicht mehr tun, werden sie verschwinden. Die Erinnerung an die Männer, Frauen und Kinder, die dort ermordet wurden, geriete für immer in Vergessenheit… und die Welt hätte wieder ein ruhiges Gewissen.

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