Bei Einbruch der Nacht feierte das jüdische Volk am Montag, 29. Elul, den Beginn des neuen Jahres, das wie alle anderen zuvor durch eine Zahl gekennzeichnet wird; diese Zahl wird auf allen Kalendern, persönlichen Briefen, Eheverträgen und anderen Urkunden stehen und schliesslich auch in die Geschichtsbücher eingehen: 5755. Gemäss der Tradition gibt diese Ziffer die Anzahl der Jahre an, die seit der Schöpfung vergangen sind. Weshalb gilt die Schöpfung als Ausgangspunkt für das Zählen der Jahre ? Wurde nach jüdischem Glauben wirklich mit absoluter Genauigkeit erwiesen, dass die Welt vor 5755 Jahren geschaffen wurde ?
Die Antwort auf die erste Frage ist mehr praktischer denn historischer Natur. Der heute geltende jüdische Kalender ist (im Gegensatz zum klassischen, dem tatsächlichen Mondzyklus folgenden Kalender) äusserst einfach zu berechnen. Ein auf einer einsamen Insel strandender Mensch wäre durchaus in der Lage, einen vollständigen Kalender des jüdischen Jahres zu erstellen: er braucht nichts weiter als einige Grundbegriffe der Arithmetik und ein paar einfache Regeln, zwei konstante Zahlen und eine Variable - die Anzahl Jahre seit der Schöpfung. Nach dem gegenwärtigen Kalender beginnt der jüdische Monat (und selbstverständlich das jüdische Jahr) im Prinzip am Tag des Neumonds. Der genaue Moment des Neumonds kann mit Hilfe gründlicher Kenntnisse in der Mathematik und der Astronomie bestimmt werden. Das tatsächliche Zeitintervall zwischen dem einen Neumond und dem nächsten, Mondmonat genannt, ist je nach Jahresezeit unterschiedlich lang. Die Mondmonate sind nämlich im Sommer und im Winter etwas kürzer, während sie im Herbst und im Frühling länger ausfallen. Die Astronomen der Antike und unsere Vorväter berechneten die durchschnittliche Länge eines Mondmonates und erhielten die Zahl von 29 Tagen, 12 Stunden und 793 Einheiten, wobei eine Stunde aus 1080 Einheiten besteht (und jede Einheit aus 3 1/3 Sekunden). Dieses Ergebnis, das vor zwei Jahrtausenden kalkuliert wurde, war erstaunlich genau und dient immer noch als Grundlage für unsere Berechnungen, auch wenn der durchschnittliche Monat etwas länger geworden ist.
In der Regel beginnt der Kalendermonat mit dem Tag, an dem der Mondmonat einsetzt, mit anderen Worten am Tag des Neumonds. Da wir von einem durchschnittlichen Mondmonat ausgehen, beginnt der Kalendermonat üblicherweise zum Zeitpunkt des durchschnittlichen Neumonds. Ein nach einem Mittelwert festgelegter Neumond ist jedoch kein konkretes Ereignis und muss daher mittels eines willkürlich gewählten Zeitpunktes ermittelt werden, indem die Dauer des durchschnittlichen Mondmonates mit der Anzahl der seit dem willkürlich festgelegten Anfangspunkt verflossenen Monate multipliziert und das Ergebnis zu diesem Zeitpunkt hinzugezählt wird. Wenn wir beispielsweise diesen willkürlich gewählten Zeitpunkt als x bezeichnen und wissen, dass seit x acht Monate vergangen sind, wird der durchschnittliche Neumond bestimmt, indem zu x achtmal die Dauer eines durchschnittlichen Mondmonats hinzugerechnet wird. Neben der Länge des durchschnittlichen Mondmonates haben unsere Vorväter uns auch einen zeitlichen Ausgangspunkt überliefert, auf dessen Grundlage wir den tatsächlichen Neumond berechnen können. Dieser Zeitpunkt ist angeblich der erste Neumond in der Geschichte der Welt und hat bei der Schöpfung stattgefunden.
Gemäss der Überlieferung wurde der Mensch am ersten Tag des Monats Tischri geschaffen, d.h. am Neujahrstag, und wir wissen, dass es ein Freitag war; unsere Vorväter haben demnach diesen Freitag als den Zeitpunkt des ersten Neumonds bestimmt, genau vierzehn Stunden nach Einbruch der Nacht am Vortag des Freitags (die Tage der jüdischen Woche beginnen am Abend) oder zwei Stunden vor Sonnenaufgang. Wenn wir die Monate zählen, die seit diesem Tag verflossen sind, und diese Zahl mit der durchschnittlichen Dauer des Mondmonates multiplizieren, erhalten wir das Datum des gegenwärtigen Neumonds ! Dieser Tag fällt in der Regel auf den ersten Tag des neuen Kalendermonats; dieses "in der Regel" bedeutet, dass der erste Tag des Monats entweder auf diesen oder auf den darauffolgenden Tag fällt, was durch die Anwendung dreier Grundregeln ermittelt werden kann. Der oben erwähnte Schiffbrüchige auf seiner einsamen Insel braucht nur die durchschnittliche Dauer des Mondmonates zu wissen, die Anzahl der seit der Schöpfung vergangenen Monate zu kennen und sich an die Regel zu erinnern, mit welcher festgelegt wird, ob der Neumond wirklich auf den ersten Tag des Monats fällt. Diese praktischen Regeln rechtfertigen eigentlich die Zählung ab dem Tag der Schöpfung. Durch das Wissen um die Anzahl Jahre, die seit der Schöpfung vergangen sind, können wir die Anzahl Monate seit eben dem Freitag ermitteln, an dem Adam geschaffen wurde. Der Leser wird jetzt davon ausgehen, dass dazu bloss die Anzahl Jahre mit zwölf multipliziert werden müssen. Doch das wäre wirklich allzu simpel ! Bestimmte jüdische Jahre weisen nämlich zwölf Monate auf, während andere - um den Einklang mit dem Sonnenjahr zu wahren - dreizehn zählen. In jeder Gruppe von neunzehn Jahren gibt es zwölf Jahre mit zwölf Monaten und sieben Jahre mit dreizehn Monaten. Die Schaltjahre fallen auf das dritte, das sechste, das achte, das elfte, das vierzehnte, das siebzehnte und das neunzehnte Jahr. Daher haben wir, um die Anzahl der seit der Schöpfung vergangenen Monate zu bestimmen, zunächst die Jahre durch neunzehn dividiert. So sind bis zum gegenwärtigen Jahr seit der Erschaffung der Erde 302 Gruppen von neunzehn Jahren verflossen; jede Gruppe zählt 154 Monate, was bei 302 Gruppen insgesamt 45'602 Monate ausmacht. Da das vergangene Jahr das fünfzehnte in der 303. Gruppe war, beträgt die Gesamtanzahl Monate seit der Schöpfung bis zum Neumond von Tischri 45'831 Monate. Diese Zahl wird mit der durchschnittlichen Dauer eines Mondmonats multipliziert, zum Freitag - vierzehn Stunden nach Einbruch der Nacht - hinzugezählt, und es ergibt sich der Mittelwert für den Neumond von Tischri, den "Molad von Tischri" !
Noch sind wir aber nicht am Ende unserer Anstrengungen. Diejenigen, welche die arithmetische Übung bis jetzt durchgehalten haben, werden jetzt nervös auf ihrem Bleistift herumkauen und brummeln: "Das ist ja alles sehr gut und schön, doch es fehlt noch ein Jahr ! Der Autor hat den Artikel bestimmt für eine Ausgabe des letzten Jahres verfasst. Das zu Ende gehende Jahr war 5754, folglich sind bereits 302 Gruppen und sechzehn Jahre und nicht 302 und fünfzehn Jahre vergangen !" Ja und nein, lautet die Antwort. Nach der Zählweise unseres Kalenders fand der Freitag, an dem Adam erschaffen wurde, vor erst 5753 Jahren statt, das zusätzliche Jahr existiert nur in der Phantasie. Wenn Sie Ihrem Kind erzählen, dass der Mensch am ersten Tag des ersten Jahres geschaffen wurde, wird es fragen: "Ja, aber in welchem Jahr lag dann der Sonntag, an dem das Licht geschaffen wurde ?" Sie werden sagen: "Das war natürlich im Jahr 1 weniger Eins." Es wurde bestimmt, dass das erste Jahr des Kalenders aus den fünf ersten Tagen der Schöpfung besteht, und dass der Mensch am ersten Tag des zweiten Jahres erschaffen wurde. (Das Jahr 1 ist demnach ein imaginäres Jahr, und man hat entschieden, dass der imaginäre Neumond des Monats Tischri auf einen Montag fiel, fünf Stunden und 204 Einheiten nach Sonnenuntergang. Dieses Jahr ist in Wirklichkeit das Jahr 1 der ersten Gruppe von neunzehn).
All diese Angaben sind heute von Bedeutung, da wir unseren Kalender gemäss dem durchschnittlichen Mondmonat erstellen. Dies wurde aber nicht immer so gehandhabt. Während den beiden Jahrtausenden nach der Flucht aus Ägypten galt derjenige Tag als der erste des Monats, in dessen Verlauf der Neumond zum ersten Mal gesehen wurde. Dies geschah folglich ein oder zwei Tage nach dem Datum des Neumonds, da er davor ja überhaupt nicht zu sehen ist. In dieser gesamten Zeit, die sich bis in das 4. Jahrhundert der gegenwärtigen Zeitrechnung erstreckt, besass die Berechnung mit Bezug auf die Schöpfung keinerlei praktischen Wert, und wir stellen tatsächlich fest, dass sie nirgendwo erwähnt wird, weder in Urkunden noch auf Verträgen oder auf Grabinschriften dieser Zeit. Auch die Schaltjahre wurden nicht anhand einer gleichbleibenden Formel bestimmt, sondern wurden ad hoc durch einen Beschluss der obersten Entscheidungsinstanz, des Sanhedrins, als solche verkündet.
Wir besitzen in Wirklichkeit keinen Anhaltspunkt um festzustellen, wieviele Schaltjahre in diesen beiden Jahrtausenden stattgefunden haben, und wissen daher überhaupt nicht, wieviele Monate seit der Schöpfung tatsächlich verflossen sind. Ausserdem wurde im endgültigen Talmudbeschluss in der Abhandlung Rosch Haschana 10b anscheinend festgelegt, dass der Mensch am ersten Tag des Monats Nissan und nicht Tischri geschaffen wurde. Daraus folgt, dass das gesamte Grundgerüst des jüdischen Kalenders historisch gesehen ungültig ist ! Und dennoch funktioniert das System...
Das Festlegen eines Ausgangspunktes, an dem der Monatserste auf einen Tag zwischen der letzten Wahrnehmung des abnehmenden Mondes und dem ersten Erscheinen des neuen Mondes fällt, verkörpert eine sensationelle Leistung der astronomischen Statistik. Diese Entdeckung des letzten Sanhedrins in der Mitte des 4. Jahrhunderts bestimmt den heutigen Kalender. Es wurde beschlossen, ein Datum für die Schöpfung und einen genauen Zeitpunkt für den ersten Neumond zu wählen, der mit diesem Datum zusammenfällt. Das System hat sich bewährt, und bis heute sind alle ersten Tage des Monats aus der Sicht der Mond-Zeitrechnung auf den richtigen Zeitpunkt gefallen. Es scheint, dass der für die Berechnungen unerlässliche Ausgangspunkt im Verlauf des 4. Jahrhunderts festgelegt und auf ein Datum abgestimmt wurde, den man als den Tag der Schöpfung bestimmte.
Wir möchten hier noch einmal betonen, dass das Neujahrsdatum für alle bindend ist und vom gegenwärtigen System des jüdischen Kalenders mit absoluter Sicherheit bestimmt wurde. Gemäss der Überlieferung erhielt Moses auf dem Berg Sinai die Befugnis, ein derartiges System auszuarbeiten. Der Zeitpunkt der Schöpfung stellt einen aus praktischen Überlegungen gewählten willkürlichen Faktor dar, denn in der jüdischen Geschichte wurden die Jahre traditionsgemäss von bedeutenden Ereignissen an gezählt, wie beispielsweise der Flucht aus Ägypten, der Krönung eines Königs, dem Bau des Tempels oder der Rückkehr nach Zion. Diese Referenzpunkte tauchen in der Bibel, auf alten Dokumenten und auf Grabmälern auf. Der heute geltende jüdische Kalender, der kurz vor dem zweiten Verlassen des Landes Israel angenommen wurde, behält das System des Mondmonats mit einer durchschnittlichen Dauer bei und ermöglicht daher die Erstellung eines Kalenders auf der Grundlage einer relativ einfachen Berechnung. Er versinnbildlicht unseren berechtigten Stolz auf unser Erb- und Kulturgut.
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