News Neueste Ausgabe Befragung: Resultate Suchen Archiv Français English Русский עברית Español


Inhaltsangabe Justiz und Verbrechen Herbst 2009 - Tischri 5770

Editorial
    • Editorial - September 2009 [pdf]

Shalom Exklusiv
    • Die Wünsche des Ministerpräsidenten Israels [pdf]

Rosch Haschanah 5770
    • Rechte und Pflichten [pdf]

Politik
    • Isolation und Solidarität [pdf]

Interview
    • Kraft und Entschlossenheit [pdf]
    • Im Auge des Hurrikans [pdf]

Analyse
    • Die willkürliche Karte des Nahen Ostens [pdf]
    • Die Achse Syrien-iran [pdf]
    • Demografie [pdf]
    • Muslimischer und Arabischer Antisemitismus [pdf]

Wirtschaft
    • Gesund und Stark [pdf]
    • Kennen Sie die Ram-card? [pdf]

Jordanien
    • Jerusalem und Amman [pdf]
    • Jüdische Geschichte östlich des Jordans [pdf]

Judäa - Samaria
    • Normales Leben [pdf]
    • Die Problematik des Wassers [pdf]
    • Eine Viel Versprechende Zukunft [pdf]
    • Individuelle Verantwortung [pdf]
    • Karnei Schomron [pdf]
    • Kiddah [pdf]
    • Oliven und Trauben [pdf]
    • Kinor David [pdf]
    • Schomrijah [pdf]

Justiz und Verbrechen
    • Der Fall Demjanjuk [pdf]

Kunst und Kultur
    • Die Kunst in der Schoah [pdf]

Ethik und Judentum
    • Die Finanzielle Verantwortung [pdf]

Erinnerung
    • Die Ereignisse des Monats September [pdf]

Artikel per E-mail senden...
Der Fall Demjanjuk


Von Dr. Efraim Zuroff*
Zu dem Zeitpunkt, da dieser Artikel im Magazin Shalom erscheint, könnte das komplizierteste Dossier in der Rechtsgeschichte der nationalsozialistischen Kriegsverbrechen aller Wahrscheinlichkeit nach endlich mit einem gerechten Urteil abgeschlossen werden. Der Prozess von Ivan Demjanjuk, dem ukrainischen Wärter und Helfershelfer der Nazis, soll im Herbst 2009 vor einem Münchner Gericht beginnen; es besteht die Hoffnung, dass dies einen Schlusspunkt hinter eine juristische Odyssee setzt, die aufgrund zahlreicher Rückschläge und überraschender Wendungen seit 30 Jahren andauert. Obwohl auf mehreren Kontinenten viele Gerichtsverfahren durchgeführt wurden, kam es bisher zu keinem einzigen eindeutigen Urteil mit angemessener Bestrafung.

Die Affäre Demjanjuk beginnt in der Mitte der 70er Jahre, als Michael Hanusiak, ein amerikanischer Journalist ukrainischer Abstammung, von einer Reise nach Kiew heimkehrt, im Gepäck eine Liste von ukrainischen Nazi-Kollaborateuren, die nach dem 2. Weltkrieg in die USA flüchteten. Der Name Demjanjuk steht auch auf dieser Liste und trägt den Vermerk "Sobibor", eines der drei Vernichtungslager in Polen, die für die Durchführung der berüchtigten Aktion Reinhardt ausgewählt worden waren. Diese Aktion plante die Ermordung aller Juden in Polen und trug den Namen des Einsatzleiters Reinhardt Heydrich, der damals dem Reichssicherheitshauptamt der Nazis vorstand.

Die Tatsache, dass Demjanjuk auf dieser Liste stand, reichte aus, um in den USA eine Untersuchung zu seiner Person auszulösen, eine der ersten dieser Art in den Staaten. Die amerikanische Regierung entdeckte nämlich erst in der Mitte der 70er Jahre, dass ehemalige Nazis auf ihrem Staatsgebiet lebten: Unter den mehreren hunderttausend Flüchtlingen aus Osteuropa, die in den Jahren 1948 bis 1952 in den USA Asyl gefunden hatten, befanden sich unerkannt auch zahlreiche Kriegsverbrecher und Nazi-Kollaborateure. Das amerikanische Recht verbietet allerdings die Strafverfolgung dieser Personen in den USA, weil sie ihre Verbrechen nicht auf ihrem Territorium begangen haben und weil die Opfer keine US-Bürger waren. Da sie sie aber nicht einfach ignorieren kann, beschliesst die Regierung, diese Verbrecher wegen Verletzung des Immigrations- und Bürgerrechts zu verfolgen (die meisten der Einwanderer haben die amerikanische Staatsbürgerschaft erlangt); die Betroffenen haben bei der Einreichung ihres Gesuchs nämlich gelogen, da sie ihre Vergangenheit im Dienste der Nazis während des 2. Weltkriegs verheimlichten. Bei der Einreise auf US-Staatsgebiet mussten alle Einwanderer folgende Fragen beantworten: "Haben Sie gegen die Alliierten gekämpft? Waren Sie Mitglied einer Gruppierung, die andere Menschen aufgrund ihrer Rasse, Religion oder ethnischer Herkunft verfolgt haben?". Es ist offensichtlich, dass die Antwort der meisten Nazi-Kriegsverbrecher, die aus Europa geflüchtet waren, auf beide Fragen positiv gewesen wäre. Derartige Verstösse werden durch Entzug der Staatsbürgerschaft und anschliessenden Landesverweis geahndet. Im Falle eines Auslieferungsgesuchs durch ein anderes Land hat das Auslieferungsverfahren Priorität über den Landesverweis.
Die Untersuchung zu Demjanjuk befasst sich zunächst mit seiner Tätigkeit als Wärter in Sobibor, erfährt aber eine unerwartete Wendung, als einige Überlebende des Vernichtungslagers Treblinka befragt werden. Die früheren Lagerinsassen sollen sich zu einem ukrainischen Wärter namens Feodor Federenko äussern, dabei erkennen einige von ihnen in Demjanjuk "Ivan Grozny", Iwan den Schrecklichen, einen der beiden Helfershelfer in Osteuropa, die für die Gaskammern in Treblinka zuständig und für ihre Grausamkeit bekannt waren. Die Ironie des Schicksals wollte es, dass das Bild von Demjanjuk den befragten Zeugen rein zufällig vorgelegt wurde, doch die Tatsache, dass man ihn als Folterknecht in den Gaskammern identifizierte, wirkte sich natürlich auf sein Verfahren aus.
Wie aber war es zum Zufall mit den Fotos gekommen? Dazu muss man wissen, wie das Office of Special Investigations (OSI) in den USA bei der Identifizierung von Nazi-Kriegsverbrechern arbeitet. Die Beamten führen kein herkömmliches Identifikationsverfahren durch, sondern legen den Zeugen eine Serie mit rund 10 Fotos vor und bittet sie, die ihnen bekannten Personen zu bezeichnen. Die Vorschriften des OSI wollen es, dass alle Fotos, die den Überlebenden zur Identifikation gezeigt werden, von Personen derselben Nationalität und in etwa demselben Alter stammen wie der Verdächtige, und dass alle Aufnahmen während des 2. Weltkriegs oder kurz danach entstanden sind. Auf allen Bildern, die den Zeugen im Verlauf des Verfahrens zu Federenko vorgelegt wurden, mussten demnach Ukrainer abgebildet sein. Das Foto von Demjanjuk war auch im Besitz des Justizdepartements und entsprach all diesen Kriterien.
Mehrere Überlebende aus Treblinka identifizierten Federenko, erkannten zur grossen Überraschung der Untersuchungsbeamten aber auch Iwan den Schrecklichen auf dem Bild, das Demjanjuk zeigte. Diese Entdeckung wirkte sich auf das Verfahren gegen Demjanjuk aus und die Anklagepunkte bezogen sich nun auf seine Tätigkeit in Treblinka und nicht mehr auf diejenige in Sobibor.
Demjanjuk wird im ersten Prozess in Cleveland 1981 für schuldig befunden und der amerikanischen Staatsangehörigkeit enthoben. Der Richter bestätigt seine Identifizierung als Iwan den Schrecklichen von Treblinka, wobei er sich dabei ausschliesslich auf die Aussagen der Überlebenden aus dem Lager stützt. Das OSI lässt das Ausweisungsverfahren aus den USA anlaufen.
Angesichts des Ausmasses der Anklagepunkte gegen Demjanjuk (Iwan der Schreckliche war persönlich an der Ermordung von mehreren hunderttausend Juden beteiligt!) möchten sich die amerikanischen Behörden aber vergewissern, dass er für seine Verbrechen verurteilt wird. In den USA ist der Landesverweis die Höchststrafe, und die wurde ja bereits verhängt. Da taucht der Gedanke an die Auslieferung auf, damit er in Israel vor Gericht kommt.
Die Entscheidung, seine Auslieferung zu verlangen, ist nicht so einfach, wie es scheint und führt in Israel zu einigen Vorbehalten; bisher wurde in der gesamten Geschichte des Landes ein einziger Nazi-Kriegsverbrecher hier verurteilt (Adolf Eichmann, der zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde). Doch die schwerwiegenden Verbrechen, die Iwan dem Schrecklichen angelastet werden, die Unmöglichkeit, ihn in den USA vor Gericht zu stellen, und die Tatsache, dass wichtige Zeugen bei seiner Identifizierung Israelis sind, überzeugen Israel schliesslich davon, 1986 die Auslieferung von Demjanjuk zu verlangen.
Zwei Jahre später wird er nach einem Prozess, der in Israel riesiges Aufsehen erregt und weltweit mit grossem Interesse verfolgt wird, vom Bezirksgericht Jerusalem für schuldig befunden. Die drei Richter verurteilen ihn zum Tod durch Erhängen.
Im Gegensatz zu zahlreichen anderen Gerichtsverfahren gegen Nazi-Kriegsverbrecher besteht das Hauptziel der Staatsanwaltschaft in diesem Fall darin zu belegen, dass Demjanjuk und Iwan der Schreckliche ein und dieselbe Person sind, was der Betroffene weiterhin hartnäckig leugnet; es geht nicht um den Beweis, dass er die Verbrechen tatsächlich begangen hat, da darüber keinerlei Zweifel besteht. Die stichhaltigste Bestätigung der Anklage zum Beweis der Anwesenheit Demjanjuks in Treblinka beruht auf den Zeugenaussagen mehrerer Überlebenden des Lagers: Sie haben in Demjanjuk den sadistischen Ukrainer erkannt, der die Gaskammern in Treblinka bediente. Es liegt jedoch kein einziges schriftliches Dokument vor, das belegt, dass ein Wärter namens Iwan Demjanjuk im Lager beschäftigt war.
Obwohl der Dienst im Lager von Sobibor in der Anklageschrift der israelischen Kläger enthalten ist, wird diesem Umstand wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Auch da stützen sich die Beweise allein auf eine Identitätskarte des Ausbildungslagers Trawniki, die Demjanjuk von den SS ausgehändigt wurde und die eindeutig nachweist, dass er nach seiner Ausbildung in Trawniki ins Lager von Sobibor geschickt wurde, um dort zu arbeiten. Die Identitätskarte ist mit der physiognomischen Beschreibung Demjanjuks, seinem Foto und seiner Unterschrift versehen.
Bei seiner Verteidigung leugnet Demjanjuk, in Treblinka gewesen zu sein und behauptet, die meiste Zeit während des Kriegs in einem deutschen Lager für Kriegsgefangene im polnischen Chelm verbracht zu haben, nachdem er von der Wehrmacht gefangen wurde. Diese Angabe wird vom Staatsanwalt Michael Shaked jedoch eindeutig abgewiesen.
In Israel bewirkt jede Verurteilung zum Tode automatisch den Rekurs vor der nächsthöheren Instanz. Im Fall Demjanjuk ergibt dieser Rekurs eine unerwartete Wendung. Während des Verfahrens vor dem Obersten Gerichtshof tauchen neue Fakten auf, welche die Identität des Verurteilten ernsthaft in Frage stellen: Ist Demjanjuk wirklich Iwan Grozny? Nach Aussage von 30 Wärtern in Treblinka, die in der Ukraine wegen Verbrechen in diesem Lager verurteilt und hingerichtet wurden, hiess der Verantwortliche für die Gaskammer Ivan Marchenko und besass eine deutlich sichtbare Narbe auf der Wange, was auf Demjanjuk ganz offensichtlich nicht zutrifft.
Angesichts dieser Erkenntnisse gilt der Grundsatz, dass ein Beweis zweifellos erbracht werden muss, nicht mehr vorbehaltlos für das Urteil des Bezirksgerichts. Folglich spricht der Oberste Gerichtshof Israels Demjanjuk von der Anklage unter dem Namen Iwan der Schreckliche frei, verurteilt ihn jedoch für seine Mitgliedschaft in einer Nazi-Organisation, was mit sieben Jahren Gefängnis geahndet wird. Er hat aber bereits sieben Jahre in Haft gesessen. Obwohl die Richter absolut davon überzeugt sind, dass der Angeklagte an der Endlösung beteiligt war, ordnen sie seine Ausweisung an. Nach der Umsetzung des Urteils protestieren mehrere Institutionen, darunter das Simon Wiesenthal Center, gegen den Freispruch und verlangen, dass Demjanjuk für seine Tätigkeit in Sobibor erneut vor Gericht gestellt wird, was der Oberste Gerichtshof von Israel ablehnt.
1993 kehrt Demjanjuk in die USA zurück, wo es ihm gelingt, nach zwei Jahren wieder amerikanischer Staatsbürger zu werden: Seine Anwälte beweisen, dass sie ein Dokument, das seiner Verteidigung dienlich gewesen wäre, nie erhalten haben. Ungeachtet dieses Erfolgs muss man dem OSI zugute halten, dass es nicht klein beigibt und 1991 eine Zivilklage wegen Verstoss gegen die Einwanderungsgesetze gegen Demjanjuk einreicht, diesmal auf der Grundlage seiner Verbrechen in Sobibor. 2002 wird Demjanjuk die US-Staatsbürgerschaft erneut entzogen, die Behörden verweisen ihn des Landes. Dieses Urteil wird allerdings erst im Mai 2009 umgesetzt, nachdem alle juristischen Rekursmittel ausgeschöpft worden sind, und Demjanjuk wird an Deutschland ausgeliefert. Hier wartet er nun auf sein Gerichtsverfahren für sein Mitwirken an der Ermordung von 29'000 Juden zwischen März und September 1943 in Sobibor, als er als bewaffneter Wärter dort im Dienste der Nazis stand.
Nach endlosen Jahren wird nun vielleicht endlich Recht gesprochen!

* Dr. Efraim Zuroff ist Nazi-Jäger, Historiker, Schoah-Spezialist und Leiter des Jerusalemer Büros des Simon Wiesenthal Center von Los Angeles. Sie können unter swcjerus@netvision.net.il mit ihm Kontakt aufnehmen oder seine Website aufsuchen: www.operationlastchance.org.


Contacts
Redaction: edition@shalom-magazine.com   |  Advertising: advert@shalom-magazine.com
Webmaster: webmaster@shalom-magazine.com

© S.A. 2004