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Inhaltsangabe Politik Frühling 1998 - Pessach 5758

Editorial - Frühling 1998
    • Editorial

Pessach 5758
    • Unser täglicher Exodus

Politik
    • Der Faktor Zeit

Interview
    • Optimismus und Realismus
    • Judentum - Zionismus - Demokratie
    • Begegnung mit Dr. Jonathan Sacks

Analyse
    • Zeuge unserer Epoche
    • Lasst uns freudig feiern

Kino
    • Aus der Hölle zum Leben... The Long Way Home

Judäa - Samaria - Gaza
    • Bauen und Entwickeln

Kunst und Kultur
    • Zehava B.
    • Das jüdische Museum in London
    • Jew's College
    • Jüdische Teppiche
    • Ausstellungen zu jüdischen Themen in Amerika

Gesellschaft
    • Jewish Care

Medizin
    • Typisch aschkenasisch !

Ethik und Judentum
    • Umwelt und individuelle Verantwortung

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Der Faktor Zeit

Von Emmanuel Halperin, Jerusalem
Die Zeit stellt einen grundlegenden Faktor im israelisch-arabischen Konflikt und bei seinen möglichen Lösungen dar. Zeit gewinnen, langfristig denken, Geduld haben, den geeigneten Moment abwarten oder die günstige Gelegenheit beim Schopf packen, das sind seit fünfzig Jahren die Konstanten der israelischen Politik. Doch Benjamin Netanyahu scheint die taktischen Schachzüge seiner Vorgänger auf die Stufe einer Strategie erheben zu wollen. Zu welchem Zweck? Es lohnt sich, diesen Aspekt etwas genauer zu beleuchten.
Das erste Ziel von Netanyahu war, nüchtern ausgedrückt, im Sattel zu bleiben, die ständig über seiner Leaderposition schwebende Gefahr abzuwenden und, wenn möglich, seine Wiederwahl in zweieinhalb Jahren zu garantieren. Die Aussenpolitik Israels wird - wie immer - von innenpolitischen Überlegungen abhängig gemacht: jedes Zugeständnis, jede Abtretung von territorialen Gebieten, jedes Nachgeben zugunsten eines Wunsches aus Washington oder einer Forderung der Europäischen Union, erfolgen in Funktion der parlamentarischen Arithmetik. Die gegenwärtige Koalition verfügt nur noch über eine knappe Mehrheit - 61 Sitze von 120 - und eine Gruppe von 18 Abgeordneten einer Rechtspartei, der Front für Eretz Israel, droht aufzubegehren, falls Netanyahu zu weit gehen sollte, d.h. falls er seine Position auch nur um einige Zentimeter verändern sollte.
Es besteht natürlich die Möglichkeit, auf die Stimmen der Linksparteien zurückzugreifen, um eine Entscheidung durchzusetzen, der sich ein Teil der Abgeordneten der Mehrheit widersetzen würde, doch dies erscheint nicht sehr realistisch. Denn die Arbeitspartei würde in diesem Fall versuchen die Regierung zu stürzen. Andererseits lässt nichts den Schluss zu, dass Netanyahu die Absicht haben könnte, seine Leute von links her zu überrumpeln: er verhält sich, als ob die von der Eretz-Israel-Front gebildete blockierende Minderheit seinen Interessen entgegenkäme. Dank ihr kann er den Amerikanern sagen: "Seht, ich tue mein Bestes, aber ihr könnt nicht das Unmögliche von mir erwarten, denn ich verfüge nicht über die notwendige Mehrheit."
Man muss die Dinge von einer höheren Warte aus sehen: der Begriff der Dauer wird, natürlich, unterschiedlich wahrgenommen : das hängt davon ab, ob man den Osloer Prozess als eine Chance ansieht, die es zu ergreifen gilt, oder, im Gegenteil, als einen Irrtum, den man wiedergutmachen muss. Für die linke Opposition sind die zukünftigen Gefahren so gross - sowohl in bezug auf das demographische Ungleichgewicht (es leben bereits fast drei Millionen Palästinenser in den Gebieten), als auch in bezug auf den wachsenden Erfolg des Hamas -, dass rasch eine Einigung gefunden werden muss. Jede Verzögerung, jede Diskussion droht Israel um die geringen Chancen zu bringen, die ihm gegenwärtig noch offenstehen, von seinem Umfeld akzeptiert zu werden. Ein endgültiges, rasch ausgehandeltes, selbst unvollkommenes Abkommen wäre demnach eine Überlebensgarantie; ansonsten steuert man auf das Unbekannte zu, das sich fast nicht mehr vom Chaos unterscheidet. Bei dieser Einstellung wurzelt der Optimismus ("man kann mit viel gutem Willen eine Einigung erzielen") in einem langlebigen Pessimismus.
Im Gegensatz dazu besteht der von der amtierenden Regierung vertretene Standpunkt darin, dass die Zukunft nur dann besser wird, wenn Israel territoriale Trümpfe in der Hand behält, die ihm heute wie morgen gewährleisten, dass seine unmittelbaren und weiter entfernt liegenden Nachbarn sich nicht in der Theorie bestätigt fühlen, der jüdische Staat sei nur ein Zufall der Geschichte. Die Dauer wird folglich als Widerstand, und die vergehende Zeit als eine nützliche Investition empfunden. Dieser auf die Zukunft ausgerichtete Optimismus fusst also auf einem kurzfristigen Pessimismus. Netanyahu, dies sei zu seiner Ehre gesagt, führt mehr oder weniger die Politik, die seine Wähler von ihm erwarteten, auch wenn sie nicht mit sensationellen Entwicklungen verbunden ist.
So folgen seit Monaten endlose Verhandlungen aufeinander, die sich mit dem Rückzug aus Judäa-Samaria befassen, für welche sich die Regierung Rabin-Peres - aber auch die Regierung Netanyahu im Hebron-Abkommen - verpflichtet hat. Nicht mehr als 9 bis 10 %, in zwei Phasen, heisst es in Jerusalem. Mindestens 13%, lautet es in Washington. Das ist lächerlich wenig, klagen die Palästinenser Arafats, die mit dem Schreckgespenst einer palästinensischen Unabhängigkeitserklärung im Mai 1999 drohen. Und die Zeit vergeht.
Sie vergeht, ohne dass über Themen wie die Schaffung eines internationalen Flughafens oder eines Hafens in Gaza entschieden würde. Oder über die Einrichtung eines Systems, das den freien Übergang von Gaza nach Judäa-Samaria ermöglicht. Es eilt nichts, denn die von Jerusalem verfochtene These besagt, dass die Gegenseitigkeit den israelisch-palästinensischen Abkommen zugrundeliege, und dass Arafat weit davon entfernt sei, seine Verpflichtungen zu erfüllen. Was durchaus zutrifft, in den Augen der Amerikaner, Europäer und der israelischen Opposition aber recht unwichtig zu sein scheint, da das Wichtigste - das haben jetzt alle begriffen - "schliesslich die Abtretung der Gebiete durch Israel ist". Netanyahu kann also ohne weiteres antworten: "Als Austausch wofür ? Die Sicherheit ? Einverstanden, aber dann geht die Rechnung noch lange nicht auf angesichts der Attentate, angedrohten Anschläge, Gewalttätigkeiten, aggressiven Worte, hasserfüllten Reden, mit denen wir tagtäglich aus dem palästinensischen Fernsehen überschüttet werden. Man verlangt mit anderen Worten von uns, auf Gebiete zu verzichten im Austausch gegen nichts, rein gar nichts. Die Antwort lautet unter diesen Umständen: Nein."
Versucht er, wie es ihm vorgeworfen wird, Oslo zu ignorieren, indem er seine Vertragspartner aufreibt, auch wenn er dadurch die internationale Staatengemeinschaft gegen sich aufbringt ? Keinesfalls. Im privaten Kreis gibt Netanyahu zu, dass er den laufenden Prozess - wenn auch langsam - weiterführen will, wenn als Mindestanteil 60% der umstrittenen Gebiete unter israelischer Kontrolle bleiben. D.h. die jüdischen Ortschaften, die Verbindungsstrassen, die Sicherheitszonen, die Zonen zur Sicherung der Wasserressourcen usw. Er ist sich aber durchaus bewusst, dass dieses Ziel für alle anderen betroffenen Parteien inakzeptabel ist. Daher sein Vorschlag, sofort mit der Verhandlung über eine endgültige Lösung zu beginnen, da die Palästinenser bereits einen Viertel der Gebiete kontrollieren, und man mit einer zusätzlichen Abtretung von 10% die Höchstgrenze der möglichen Zugeständnisse erreichen würde.
Wie lange kann man diese Manöver noch fortführen, ohne den Ärger der Amerikaner zu erregen - während demjenigen der Europäer bereits schlecht und recht Rechnung getragen wird? Die Regierung bemüht sich nach Kräften, ein direktes Eingreifen von Washington zu verhindern, indem sie auf die amerikanischen Wahlperioden spekuliert - die Kongresswahlen, und dann die Präsidentschaftswahlen in weniger als drei Jahren. Wenn die Demokraten möchten, dass der sehr pro-israelische Al Gore gewählt wird, müssen sie auf die Einflussgruppen zählen können, die sich für Jerusalem aussprechen. Und bis dahin? Bis dahin kann man auf mögliche ablenkende Vorfälle hoffen, wie beispielsweise die Irak-Affäre im Februar, oder die wenig überzeugenden Versuche im März, das Problem Südlibanon unter Umgehung Syriens direkt mit Beirut zu lösen.
Diese ganze Verzögerungstaktik, die man, wenn man sie kritisieren will, als Bremsmanöver oder gar als Versuch bezeichnen kann, den Rückwärtsgang einzulegen, ergibt sich, das soll hier betont werden, aus dem Auftrag, den die Wähler der Regierung Netanyahu erteilt haben: da Oslo eine gefährliche, überstürzte und schlecht durchdachte Herausforderung ist, soll nicht zuviel des Guten getan, sondern mit äusserster Vorsicht vorgegangen werden, wobei die langfristigen Interessen der israelischen Gesellschaft gewahrt werden müssen. Die Gefahren übersteigen den engen Rahmen des lokalen Konflikts - man denke an das Aufflammen des islamischen Fundamentalismus, sowie an die Vernichtungswaffen, welche sich die Staaten des "Zweiten Gürtels", wie z.B. Irak, Iran, Sudan oder Lybien anschaffen könnten.
Je nach Standpunkt des Beobachters kann er also behaupten, Netanyahu gewinne nur Zeit, ohne dabei einen umfassenden Plan oder eine koordinierte Politik zu verfolgen, mit dem einzigen Ziel, noch einen Tag zu überdauern, und noch einen, und so weiter, solange er die Fäden noch in der Hand hält. Ein anderer Beobachter könnte hingegen der Ansicht sein, diese Politik, die in Wirklichkeit geistig nicht sehr anspruchsvoll ist, da sie keine aussergewöhnlichen Visionen anzubieten hat, sei die einzig mögliche, wenn man die Unzulänglichkeiten der Träumer von Oslo ausmerzen möchte. Es handelt sich nicht darum, zum Selbstzweck Zeit zu schinden, sondern die Errungenschaften aus einem fünfzigjährigen Kampf zu schützen, um die Verankerung Israels während der kommenden Jahrzehnte in dieser konfliktreichen und gefährlichen Region zu sichern. Gegen alles und jeden? Nein, da das Wichtigste vorhanden ist: die - wenn auch relative - Unterstützung durch die meisten Israelis. Haben nicht sie über ihre Zukunft zu entscheiden? Ja, aber wissen sie, wohin sie gehen, wohin sie geführt werden? Dies ist die grösste Schwäche der gegenwärtigen Politik. Denn selbst wenn der Plan lobenswert ist, so mangelt es ihm doch an Weitsicht und Konsistenz. Oder man schliesst sich denjenigen an, die sagen, dass die so mühsam gewonnene Zeit die Hoffnung zulässt, dass die ZEIT anbrechen wird. Doch dies ist nicht mehr Sache der Politik, sondern diejenige des Glaubens.

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