Das 1855 gegründete Jew's College entspricht immer noch sehr genau den Forderungen und Ansprüchen des jüdischen Lebens der Gegenwart. Dieses theologische Ausbildungszentrum bietet nämlich Kurse für jüdische Studien an, die eine Vorbereitung und ein erfolgreiches Bestehen eines Lizentiats in Hebräisch und jüdischen Studien gewährleisten. Das Jew's College ist eine eigentliche jüdische Universität, in der Lehrer, Chazanim (Vertreter) und Rabbiner ausgebildet werden. Die Diplome des B.A., M.A., Ph.D. und Semicha (Diplom, das den Rabbinertitel verleiht) bilden den Abschluss eines zwei- bis dreijährigen Studiums, das sich aus traditioneller Lehre (wie sie in den Jeschiwoth stattfindet), akademischen Fächern und der klassischen Methodologie zusammensetzt. Jew's College ist ein fester Bestandteil der Universität von London geworden, und die von ihm verliehenen akademischen Titel werden offiziell anerkannt. Die Schule wird heute von 140 Studenten besucht, wobei nur 7 von ihnen eine Ausbildung als Rabbiner absolvieren, da die Mehrzahl sich auf den Lehrerberuf vorbereitet. Diese Ausbildung umfasst Kurse in jüdischer Philosophie, jüdischer Ethik, jüdischer Geschichte, Midrasch, Bibelauslegung von den Exegeten der Antike, des Mittelalters und der Moderne, Talmud, hebräischer Grammatik, jüdischer Gesetzgebung usw. Das Institut steht Männern und Frauen offen, doch um aufgenommen zu werden, müssen die jungen Leute mindestens ein Jahr in einer Jeschiwah in Israel oder in Grossbritannien studiert haben. Es handelt sich selbstverständlich um eine traditionelle jüdische Institution, die sich nicht dadurch lächerlich macht, "weibliche Rabbiner" auszubilden. Sämtliche Kurse stehen jedem Erwachsenen offen, der sich mit jüdischer Wissenschaft befassen möchte, ohne aber die Abschlussexamen abzulegen. Darunter befinden sich auch Menschen, die im Leben bereits ihren Mann gestellt haben, sich aus dem aktiven Leben zum Teil zurückgezogen haben oder ihr Judentum dank einem vertieften Wissen ihrer Religion intensiver leben möchten. Nicht selten beschliesst ein Gasthörer, sich zum Examen anzumelden, um ein Diplom zu erhalten.
Jew's College, die älteste Institution des englischen Judentums, ist gewiss eine interessante Ausbildungsstätte, doch es unterscheidet sich in Wirklichkeit kaum von anderen Universitäten für rabbinische Ausbildung oder jüdische Studien überall auf der Welt... mit Ausnahme eines zusätzlichen "gewissen Etwas" ! Dieses "gewisse Etwas" ist nicht zu verachten und besteht aus der Bibliothek des Instituts, die über 70'000 Werke umfasst, wobei einige einzigartige Stücke wahre Juwelen des jüdischen Kulturguts darstellen. Die Bibliothek wurde einige Jahre nach der Eröffnung des Jew's College gegründet. Eine ihrer Besonderheiten ist die Tatsache, dass sie insbesondere eine beachtliche Sammlung von jüdischen Büchern und Druckerzeugnissen besitzt, von denen seit dem Zweiten Weltkrieg jede Spur fehlt. Dazu gehören Periodika oder gar Druckwerke, die in Polen hergestellt worden waren. Bibeln, rabbinische Schriften, von der katholischen Kirche verbotene Talmude, historische, soziologische, linguistische und philosophische Werke gehören natürlich zu den Grundpfeilern dieser Bibliothek. Ausserdem besitzt die Bibliothek des Jew's College heute dank einer Marotte ihres Hauptbibliothekars, Ezra Kahn (schweizerischer Herkunft), eine beeindruckende Sammlung von ca. 50'000 jüdischen Pamphleten aus aller Welt. Es handelt sich um Publikationen, die aus einem oder mehreren Blättern bestehen und in der Regel vom Empfänger nur einmal gelesen und dann weggeworfen werden. Diese Flugblätter werden - wie die Bücher - katalogisiert und klassiert.
DIE SAMMLUNG VON SIR MOSES MONTEFIORE
Jede bedeutende Bibliothek besitzt eine Abteilung mit seltenen, besonderen oder eine eigene Geschichte aufweisenden Büchern. Jew's College nennt die private Sammlung von Sir Moses Montefiore ihr eigen, zu der 600 Manuskripte gehören. Die Zusammensetzung dieser Bibliothek ist recht interessant. Der berühmte Philanthrop starb zwar erst im hohen Alter von hundert Jahren, doch seine Gattin Judith verschied lange vor ihm. Da das Paar keine Kinder hatte, liess Sir Montefiore zu ihrem Andenken in Ramsgate ein Mausoleum, ein "Beit Hamidrasch" (Zentrum für jüdische Studien) und eine Synagoge errichten. Die Synagoge und das Mausoleum existieren noch heute, während das Beit Hamidrasch und der Palast, in dem Sir Moses Montefiore lebte, zerstört wurden. Das Beit Hamidrasch war nämlich eine richtige Institution in der Art des "Kollel", das wir heute kennen. Sir Moses Montefiore hatte zehn jüdische Gelehrte verpflichtet, denen er ein Gehalt zahlte und die er in Wohnungen unterbachte, die zu diesem Zweck in der Nähe seines Palastes eingerichtet worden waren. Ihre einzige Aufgabe bestand darin, den ganzen Tag lang die Torah und das Judentum zu studieren. Um ihnen die Erfüllung dieser Aufgabe zu ermöglichen, begann der Philanthrop aktiv nach jüdischen Büchern und Manuskripten zu suchen. Er hatte die berühmte Sammlung von Leopold Zuns erworben sowie diejenige eines tschechischen Sammlers namens Halberstamm, der in Bialtiz lebte. Interessanterweise beinhaltet diese recht reichhaltige Sammlung von Manuskripten mit Torah- und Talmudkommentaren fast keine illuminierten Bücher.
Ein weiteres wichtiges Element dieser Sammlung sind die Register betreffend die Erfassung der jüdischen Bevölkerung von Jerusalem. Sir Moses Montefiore reiste achtmal ins Heilige Land, was angesichts der Reisebedingungen jener Zeit eine beachtliche Leistung war. Bei seiner ersten Reise schenkte der Philanthrop jedem, der ihn darum bat, Geld. Bei seinem zweiten Besuch begleitete ihn ein Berater namens Louis Loewe, der ihm erklärte, er werfe auf diese Weise sein Geld in ein Fass ohne Boden. Er schlug ihm vor, kleine Betriebe aufzubauen und den Juden von Jerusalem somit Arbeit und die Möglichkeit zu geben, die Torah zu studieren. Auf diese Weise gründete er die erste hebräische Druckerei in Jerusalem, für die er eine Druckmaschine von Ramsgate nach Jerusalem transportieren liess. Das erste Druckerzeugnis, ein Gebetsbuch, entstand demnach 1838 in Jerusalem. Selbstverständlich besitzt das Jew's College ein Exemplar davon in seiner Sammlung. Um den Bedarf für die gesamte jüdische Bevölkerung festzulegen, bat Sir Moses Montefiore jede Gemeinde und jede Synagoge, ihm eine Liste der Mitglieder unter Angabe ihres Zivilstands, ihrer Herkunft, der Anzahl Kinder, des Geburtsorts, des Ankunftsdatums im Heiligen Land usw. auszuhändigen. Diese Listen reichen von 1839 bis 1870 und stellen natürlich ein phantastisches Zeugnis und den Beweis einer zahlreichen jüdischen Präsenz im damaligen Jerusalem dar, das in diesen Jahren nicht mehr als ein kleines Städtchen war. Die israelische Regierung hat übrigens Jew's College um Kopien dieser Register auf Mikrofilm für das Nationalarchiv gebeten.
Eine weitere Besonderheit der Sammlung ist die einzigartige Serie von Briefen aus der ganzen Welt, mit der Bitte um Unterstützung oder um Geld, oder von Dankesschreiben, die an den Philanthropen gerichtet wurden. Es handelte sich oft um Anfragen von Privatpersonen, manchmal aber auch von Gemeinden oder Staaten. Diese Sammlung legt ein lebendiges Zeugnis von den Lebensbedingungen in den jüdischen Gemeinschaften, vor allem in Polen, ab. Zahlreiche chassidische Rabbiner wandten sich an Sir Moses Montefiore und beschrieben ihre Situation und diejenige ihrer Gläubigen, um Hilfe zu erbitten. Diese Briefe wurden in Jiddisch verfasst, sehr oft aber auch in Hebräisch. Nicht selten hatte der Sekretär des chassidischen Rebben den Brief geschrieben, und letzterer setzte nur seine Unterschrift darunter. Beim Lesen dieser Dokumente fällt einem auf, wie ungelenk das Hebräisch dieser Briefe klingt, in denen es ausserdem von Rechtschreibefehlern wimmelt.
Jew's College verkörpert sowohl durch sein Studienzentrum als auch durch seine Bibliothek ein kleines Juwel in der akademischen jüdischen Welt. Es bildet die hochqualifizierten Führungskräfte und religiösen Lehrer aus, die das jüdische Leben und die geistliche Zukunft der jüdischen Gemeinschaft Grossbritanniens prägen werden. Es wäre wünschenswert, dass seine Ausstrahlung trotz der Sprachbarrieren den anderen Gemeinden der Diaspora die Möglichkeit gäbe, von seinen Vorzügen zu profitieren.
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