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Inhaltsangabe Analyse Frühling 2006 - Pessach 5766

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Pessach 5766
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Multikulturalität und Antisemitismus

Von Professor Robert S. Wistrich *

Fast immer im Verlauf seiner Geschichte sah Europa im Juden die perfekte Inkarnation des Fremden, des Bösen. Der Antisemitismus - die Bezeichnung der Juden als Sündenbock allen Übels - behauptete sich als die langlebigste Ideologie, was einerseits auf die besondere Stellung der Juden und des Judentums in der christlich europäischen Kultur und andererseits auf bestimmte Merkmale zurückzuführen ist, die in der jüdischen Diaspora-Erfahrung selbst verankert sind. Der jahrhundertalte Mythos vom «irrenden Juden» sowie das Nomadenhafte, Unbeständige, Anpassungsfähige und «Internationale» des jüdischen Lebens in der Diaspora haben es den Gojim leichter gemacht, ein dämonisches Bild vom Juden als Inbegriff des Fremden zu erschaffen. Erinnern wir daran, dass der Zionismus genau deswegen gefördert wurde, um dem staatenlosen und entwurzelten Leben der Juden in der Galluth ein Ende zu setzen und im Staat Israel einen autonomen nationalen Rahmen des Zusammenhalts zu schaffen.
Doch seit der Schoah und der Gründung Israels - insbesondere im Verlauf der letzten 20 Jahre - ist auch der «kollektive Jude» der israelischen Nation zur Zielscheibe eines wieder in Mode gekommenen Antisemitismus geworden. Das Ziel dieses radikalen Antizionismus besteht darin, die Welt von jeglichem Judenstaat zu befreien, sie judenstaatrein zu machen. Im Nahen Osten werden die Israelis von vielen Arabern, die seit Jahrzehnten von diesem Streben angetrieben werden, immer noch als der befremdliche Leibhaftige wahrgenommen, während die Verleugnung der Legitimation des jüdischen Staates und seine Verteufelung seit dem Jahr 2000 in Europa immer weitere Kreise ziehen. Wie ist es dazu gekommen? Warum? Welche Faktoren der Kontinuität und der Veränderung sind im gegenwärtigen Ausdruck der europäischen Feindseligkeit gegenüber den Juden und gegenüber Israel wahrzunehmen? Geht es um den alten Judenhass, stehen wir vor einem neuen Phänomen oder einer weniger vertrauten hybriden Kreatur in neuem und altem Kleid zugleich, dank dem die Intoleranz gegenüber den Juden und Israelis besser vertuscht werden soll?
Ich persönlich neige eher zur letztgenannten Annahme. Doch sie bietet keine endgültige Lösung des Rätsels. Wie ist beispielsweise dieser offensichtliche Widerspruch zu erklären, nämlich das unglaubliche Wiederaufflammen israel- und judenfeindlicher Gefühle, das in den letzten vier Jahren in der modernen europäischen Union zu beobachten war, die doch auf der Multikulturalität aufgebaut ist, auf pluralistischen Idealen und einem «antirassistischen» Konsens.
Es wäre wirklich gar einfach, dieses Wiederaufflammen einzig und allein der palästinensischen Intifada und ihrem Widerhall in Europa zuzuschreiben. Auch die bedeutenden wirtschaftlichen Tendenzen der Globalisierung spielen eine Rolle: nachdem sie Migrationsbewegungen in nie da gewesenem Ausmass ausgelöst haben, bewirkten sie eine neue kulturelle Diversität und verschärften das Gefühl der gefährdeten Identität unter den Millionen von «Geschädigten» der Modernisierung. Einige sind der Ansicht, diese globalisierenden Kräfte würden das Ende des Nationalstaates sowie der Religion, der Traditionen und der allgemein gültigen Werte einläuten; andere denken, sie würden ein neues Zeitalter ankündigen, in dem Toleranz, Respekt vor der menschlichen Würde und das «Recht auf Andersartigkeit» vorherrschen.
Auf den ersten Blick scheint der Gedanke einer zunehmend supranationalen EU den Juden Europas die beste aller möglichen Welten zu bieten. Bis heute hat sich dieses Versprechen allerdings nicht erfüllt. Stattdessen erleben wir wachsende ethnische Spannungen, einen Anstieg des Rassismus, der Fremdenfeindlichkeit und des Antisemitismus, der manchmal unter dem Deckmantel des Antizionismus oder der «Kritik gegenüber Israel» daherkommt. Alle diese Strömungen haben in eben diesem pluralistischen und angeblich antirassistischen Europa und nach dem Jahr 2000 einen erneuten Höhepunkt erreicht! Wie ist diese erstaunliche Entwicklung mit der Tatsache zu vereinbaren, dass die Erinnerung an die Schoah im Bewusstsein Europas immer mehr Konturen annimmt, so dass sie im kulturellen Leben zur Institution sowie zum zentralen Ereignis ihrer jüngeren Geschichte wurde? Wie kommt es ausserdem, dass die Erinnerung an die Schoah immer öfter gegen Israel eingesetzt wird, dass die Verschmelzung von Zionismus und Nazismus sowie diejenige des Martyriums der Juden mit dem Leid der Palästinenser gang und gäbe geworden sind ? Der gegenwärtige Trend, die jüdischen Opfer von gestern in rassistische Unterdrücker von heute, in «Verbrecher gegen die Menschheit» zu verwandeln, besitzt bestimmt tiefer reichende Wurzeln als die Mythen, Verleumdungen und falschen Informationen, die auf dem World Wide Web oder auf den Fernsehbildschirmen verbreitet werden.
Der Volksglaube sah im modernen Antisemitismus lange Zeit ein rechtsextremes Phänomen, eine reaktionäre Einstellung der konservativen Elemente der Gesellschaft, der religiösen Traditionalisten, der Faschisten und Nazis, die sich alle gegen die liberale Demokratie, die laizistische Gesellschaft, die Vernunft, die globalen Werte von Freiheit und Gleichheit, die menschlichen Grundwerte allgemein aussprechen. Dieser antimodernistische Aspekt der Judenfeindlichkeit galt historisch gesehen bis zur Schoah als sehr mächtiger Faktor. Überreste davon sind im Diskurs einer radikalen und demagogischen Rechten oder bei den fundamentalistischen Islamisten zu finden, denen Liberalismus, Sozialismus, Feminismus, egalitäre Demokratie und Durchmischung der Kulturen ein Gräuel sind. Aber die Voreingenommenheit des neuen Liberalismus, der in der zeitgenössischen europäischen Gesellschaft Mode ist, lehnt den ethnischen Nationalismus von früher ab. Es sind nämlich die Progressiven, die gern über Israel herziehen und dem Staat vorwerfen, er betreibe Apartheidpolitik und schrecke auch nicht davor zurück, ethnische Säuberungen durchzuführen usw. Die Voreingenommenheit des liberalen Lagers ist weniger augenfällig als diejenige der Rechten, gerade weil es seine Ansichten mit den schönen Worten der Menschenrechte, dem multikulturellen und universalistischen Diskurs verbrämt. Dies hindert eine wachsende Zahl von «liberalen» Zeitgenossen nicht daran, das Judentum als einen fundamentalistischen und blutrünstigen Glauben anzuprangern, der den Völkermord befürwortet; uralte Vorwürfe von Ritualverbrechen in moderner, laizistischer Form wieder vorzubringen (die israelische Armee wird von ihnen als Trupp von grausamen «Kindermördern» beschrieben); düstere Verschwörungen betreffend die okkulte Macht zu vermelden, die von mächtigen jüdischen oder israelischen Interessengruppen ausgehen und Druck auf Washington und andere wichtige Hauptstädte ausüben, indem sie letztere für die Anschläge vom 11. September, den Krieg gegen den Irak und gar die weltweit ausgeübten aktuellen Terrorakte verantwortlich machen.
Wer bringt heutzutage derartige Märchen in Umlauf? Die Urheber gehören oft der grossen Mehrheit an, es sind Intellektuelle, Journalisten und Globalisierungsgegner, die jeden Vorwurf des Rassismus oder des Antisemitismus empört von sich weisen. Die Entrüstung, mit der sie auf den geringsten Verdacht der Judenfeindlichkeit reagieren, veranlasst sie ironischerweise dazu, sich in wirren Erklärungsversuchen zu verstricken, in denen sie behaupten, eine trügerische Debatte über den judenfeindlichen Rassismus sei bewusst manipuliert worden, um Israel vor jeglicher Kritik zu schützen. Diese Argumentation ist mittlerweile in der europäischen Linken sehr verbreitet, die offiziell - vergessen wir es nicht - gegen den Rassismus ist. Dabei stellt sie sich im Namen eines universellen Multikulturalismus auf die Seite der Palästinenser und nimmt sie in Schutz. Dieses für sie typische Vorgehen ist ganz besonders widerlich, da es mit dem Versuch einhergeht, Israel zu boykottieren sowie es der Staatengemeinschaft zu entfremden und daraus zu verdrängen; treibt man diese Entwicklung auf die Spitze, droht am Ende die Zerstörung Israels. Dass einige Juden und Israelis manchmal bewusst die Augen verschliessen angesichts der Gefahren des islamischen Antisemitismus, schockiert ganz besonders; dass einige gar selbst in bestimmte Verleumdungsaktionen verwickelt sind und es vernünftig finden, die palästinensischen Selbstmordanschläge gegen israelische Zivilpersonen rational zu betrachten, ist einfach nur krank. Jüdische Intellektuelle stehen an vorderster Front der Kritiker Israels, und einige von ihnen gehen sogar so weit, den palästinensischen Dschihad und den Kult des Shahid vor jeder moralischen Verurteilung durch die Linke zu schützen. Dies alles konnte jedoch eine deutliche Reaktion der Bevölkerung gegen einen immer fundamentalistischeren Islam in Europa nicht verhindern, dessen Rolle bei den Bombenanschlägen von Madrid und denjenigen vom 7. Juli in London die öffentliche Meinung heftig aufgerüttelt sowie die politischen Massnahmen der Regierungen beeinflusst hat.
Die europäischen Juden standen plötzlich an vorderster Front im «Kampf der Kulturen», den ein radikalisierter Islam ausgelöst hatte. In diesem Zusammenhang wird die immer engere Beziehung zwischen Antiamerikanismus, Feindseligkeit gegenüber Israel und Antisemitismus extrem wichtig. Wenn Europa Gefallen daran findet, Präsident Bush und Ariel Sharon als die Verkörperung des Bösen zu zeigen, kann man dies durchaus mit einer direkten Reaktion auf ihre Politik im Irak und in den palästinensischen Gebieten erklären, die von fast allen kritisiert oder missbilligt wird. Doch das Bild des Amerikaners und des Juden, die als raffgierige Geizhälse und Kriegsgurgeln oder als grausame Verschwörer gezeigt werden, gehören in das historische Arsenal des Antisemitismus, davor darf man nicht die Augen verschliessen. Es besteht kein Zweifel daran, dass diese Bilder die allgemeine Beweihräucherung überdauern werden, die Sharon nach dem Rückzug aus dem Gazastreifen gegenwärtig geniesst. Wenn Israel auf Gebiete verzichtet, erhält es natürlich mehr Anerkennung als wenn es sie beibehält; diese Geste hat jedoch keinesfalls die Versuche gestoppt, den jüdischen Staat zu isolieren, ihn zu ächten. Für zahlreiche Europäer verkörpert Israel immer noch den «schlechten Juden», während die «guten» diejenigen sind, die den Zionismus schlichtweg ablehnen und Israel das Recht absprechen, sich gegen den Terror zu verteidigen. Indem sie sich in dieser Position verschanzen, droht die europäische Gesellschaft in eine Situation zu geraten, in der sie auf ihre grundlegenden Werte verzichten muss, um einen totalitären Islam zu besänftigen. Anstatt das Fundament des Westens, wie Gesetzesfurcht, religiöse Toleranz, Laizismus, Gleichberechtigung der Geschlechter, die unangreifbaren Menschenrechte sowie das Recht auf Meinungs- und Redefreiheit mit Klauen und Zähnen zu verteidigen, ist diese Gesellschaft wie verblendet von den Gefahren der Islamophobie und vereitelt dadurch jede Möglichkeit der Kritik am islamischen Extremismus, die doch so wichtig wäre. Wenn man diese Obsession nicht bald in den Griff bekommt, wird sie zu einer schleichenden und vielleicht irreversiblen Islamisierung der europäischen Gesellschaft, ihrer Kultur und ihrer politischen Institutionen führen.
Seit dem Jahr 2000 hat das Virus der Judenfeindlichkeit in Europa eindeutig eine Mutation erfahren. Die im ausgehenden 19. Jahrhundert entstandene Kategorie des politischen Antisemitismus, in einer Zeit des Aufkommens des ethnischen Nationalismus und des Rassismus, schloss die Juden als perfekte Verkörperung des «Bösen» aus. Die heutige Renaissance erfolgte in einem Europa, das sich als postnationalistisch bezeichnet und in dem, mit Ausnahme der populistischen Rechtsextremen und marginaler Gruppierungen von Neonazis, die völkische und rassistische Bigotterie von der aufgeklärten Mehrheit im Allgemeinen als unzulässig angesehen wird. Heutzutage betrachtet die europäische Elite das Recht auf eine abgegrenzte kulturelle Identität als normal, was vor 60 oder 100 Jahren noch nicht der Fall war. So behauptete der herkömmliche antisemitische Rassismus beispielsweise, Juden könnten sich nicht assimilieren; ihre Integration galt nämlich als extrem gefährlich, da sie eine Judaisierung der westlichen Kultur zu bewirken drohte. Sowohl der Liberalismus, der Kapitalismus, der Laizismus und der Sozialismus, als auch die Pornographie, die kulturelle Avantgarde, die Psychoanalyse und der Marxismus wurden von den Antisemiten nacheinander als Ausdruck des modernistischen «jüdischen Geistes» bezeichnet. Diese Meinungen herrschen immer noch vor. Doch in unserer Zeit der kulturellen Durchmischung wird nun Israel von immer mehr Europäern als das Paradigma für den Rassismus in der Welt von heute wahrgenommen, vom neuen Südafrika gefördert und absolutes Symbol für die Apartheid. Gleichzeitig werden die Islamisten, die den Westen radikal ablehnen und ihn offen bekämpfen und zerstören wollen, mit Samthandschuhen angefasst, als ob man durch das Tolerieren dieser Absurditäten das Anliegen des Islams und den Wunsch der gemässigten Muslims nach Integration unterstützen würde. Gibt es ein abartigeres und kontraproduktiveres Vorgehen?
Das von Europa verkündete Credo des Multikulturalismus vergisst, dass für die religiöse, kulturelle und nationale Identität Grenzen immer von wesentlicher Bedeutung waren. Ebenso das Zugehörigkeitsgefühl. Die Religion und der integrale Nationalismus sind eigentlich eine Frage der Identität. Auch diese Tatsachen haben den Antisemitismus als einen kulturellen Kode geprägt, der von der Antike bis heute gegenwärtig war. Wie wirkt sich also die Ausweitung der EU auf die nationale, kulturelle und politische Identität aus? Was wird z.B. aus den spezifisch französischen, britischen, deutschen, italienischen, belgischen, holländischen oder spanischen Identitätsmerkmalen, wenn sie nicht nur von den Mördern des Dschihad bedroht werden, sondern auch vom rasend schnellen Voranschreiten der Globalisierung und der Massenimmigration von Muslims aus einem unterschiedlichen kulturellen Universum?
Der Multikulturalismus müsste sich die Würde des Menschen unabhängig von seiner Person, den Respekt der Diversität, die Liebe zum Fremden auf die Fahnen schreiben, er sollte sich bemühen, dem Anderen einen öffentlichen Raum zur Verfügung zu stellen, das Stammesdenken und den Stolz zu überwinden und auch eine einzige Form des Universalismus abzulehnen. Im Idealfall dürfte es in der von der EU konzipierten multikulturellen Welt keinen Rassismus und keinen Antisemitismus geben, auch keine andere Form der Ausgrenzung von Anderen. Die aktuelle Variante der globalisierten und multikulturellen Gesellschaft, wie sie in einem postnationalen Europa entsteht, wo die ethnische Politik immer noch vorherrscht, zeigt allerdings, dass die Dinge in Wirklichkeit sehr viel komplexer sind. Das alte Europa steht am Scheideweg, vor einer historischen Entscheidung, wo die Rückkehr des Antisemitismus parallel zum Terrorismus, dem Dschihad und der Identitätsfrage zu den grössten Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft gehören.

* Robert S. Wistrich ist Professor für moderne europäische und jüdische Geschichte an der Hebrew University in Jerusalem. Er ist ebenfalls Direktor des «Vidal Sassoon International Center for the Study of Antisemitism». Zu seinen zahlreichen Werken gehören u.a. Antisemitism: The Longest Hatred (Pantheon, 1991), Nietzsche, Godfather of Facism? (Princeton, 2002), und Hitler und der Holocaust (Berlin, 2003).


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