Die Finanzielle Verantwortung | |
Von Rabbiner Shabtai A. Rappoport * | |
Nathan ist Kassier in einer bekannten Wohltätigkeitsorganisation, die bedürftige Kranke unterstützt, indem sie den Kauf von teuren Medikamenten oder von medizinischem Material finanziert. Die zahlreichen Freiwilligeneinsätze der Organisation werden sehr geschätzt, die Spender erweisen sich in der Regel als grosszügig, wenn man sie um Hilfe bittet. Einige von ihnen haben sogar bedeutende Schenkungen veranlasst, deren Ertrag für die laufenden Ausgaben der Organisation verwendet werden kann. Nathan ist für die Anlage der verfügbaren Mittel zuständig, damit die Organisation den laufenden Betrieb gewährleisten und ihre wesentlichen Ziele verfolgen kann. Da die Bemühungen beim Sammeln von finanziellen Mitteln erfolgreich waren, stiegen die anzulegenden Vermögenssummen immer mehr und Nathan stand auf einmal vor einer schwierigen Aufgabe: Er musste sich für eine Investitionsstrategie entscheiden. Er kann entweder Schatzanweisungen kaufen, die eine recht tiefe Rendite aufweisen, dafür aber als sehr sichere Anlage gelten (so sicher wie die jeweils emittierende Landesregierung). Er kann aber auch in private Anlagegesellschaften investieren, die eine drei Mal höhere Rendite versprechen. Nathan ist sich bewusst, dass er für die Sicherheit des Vermögens haftet, dessen Verwaltung ihm anvertraut wurde. Langfristig gesehen, so denkt er sich, müssen diese Summen nicht nur den laufenden Betrieb der Organisation finanzieren, sondern sollten sich auch noch vergrössern. Dieses Ziel kann natürlich am ehesten mit der dreifachen Rendite der privaten Anlageprodukte erreicht werden. Was die Sicherheit der Investition angeht, hat sich die betreffende Gesellschaft im Lauf der Jahre einen ausgezeichneten Ruf erarbeitet, und da die Wirtschaft seit 15 Jahren stetig wächst, geht Nathan davon aus, dass er sich um seine Vermögenswerte keine Sorgen machen muss. Da er über eine angesehene Firma investiert, so kommt er nach reiflicher Überlegung zum Schluss, entspricht dies dem idealen Mittelweg zwischen risikofreudigem Ansatz und konservativer Anlagestrategie. Welches ist denn gemäss jüdischer Gesetzgebung die angemessene Art, die finanziellen Mittel einer Wohltätigkeitsorganisation anzulegen, wenn seitens der Philanthropen und erst recht seitens der potenziellen Begünstigten keine genauen Anweisungen vorliegen? Zur Beantwortung dieser Frage kann man sich auf den ähnlich gelagerten Fall des Vermögens berufen, das ein Minderjähriger erbt und von dessen Rendite er leben muss. Auch in dieser Situation können weder der ursprüngliche Besitzer noch der Erbe bei der Verwaltung des Vermögens mitreden, da der eine bereits tot ist, der andere noch nicht volljährig. Das daraus entstehende Dilemma entspricht demjenigen unseres Kassiers: Soll der Vermögensverwalter sich für eine höhere (aber riskantere) Rendite entscheiden, um dem Waisen bestmögliche Lebensbedingungen zu bieten, oder soll er vielmehr äusserst vorsichtig und konservativ sein, um das Kapital zu bewahren? Die Halachah liefert dazu klare Regeln, und zwar in der Abhandlung Baba Metsia 70a: "Man sucht einen Mann, der zerbrochene Goldstücke besitzt [was garantiert, dass es sehr wohl seine sind und dass es sich um einen reichen Mann handelt, denn wenn man jemandem Geldstücke zur Aufbewahrung anvertraut, kann man nur intakte Münzen geben]; man nimmt ihm sein Gold (als Garantie für die bei ihm angelegte Summe) und man hinterlegt bei ihm das Geld des Waisenkindes zu Bedingungen, die ,nah am Profit und fern vom Verlust' sind. Ein Gegenstand, der mit einem Zeichen identifiziert wurde, kann nicht als Garantie dienen: Er wurde dem Anleger vielleicht anvertraut und sein rechtmässiger Besitzer kann vorstellig werden, sich auf das Zeichen berufen (zum Beweis, dass es sich um seinen Gegenstand handelt) und den Gegenstand wieder an sich nehmen". Um die Begriff ,nah am Profit und fern vom Verlust' zu erklären, die im Abschnitt aus dem Talmud von Babylon erwähnt werden, beziehen sich die Kommentatoren auf den Talmud von Jerusalem, der im Wesentlichen Folgendes sagt: Wenn die Investition, die der reiche Anleger getätigt hat, sich als rentabel erweist, profitiert der Waise von diesem Ertrag. Wenn allerdings die Investition Verluste verzeichnet, dann gehen diese allein zu Lasten des Anlegers. Daher muss er flüssige Mittel als Garantien ausweisen, die den Verlust bei Bedarf decken. Diese Richtlinien für die Anlagestrategie bei einer Erbschaft werden von den Geonim, von Maimonides (Gesetze über die Gläubiger und Schuldner IV, 14) und von jüngeren Autoritäten (unter anderem von Rabbi Yehoschua Falk Katz in seinem Kommentar über den Schulchan Arouch Choschen Mischpat, CCXC, 8) bestätigt. Mehrere Kommentatoren betonen die wirtschaftlichen Konsequenzen dieser Richtlinien, insbesondere dass der Anleger einen beträchtlichen Anteil am Gewinn als Entschädigung für seine Haftpflicht bei Verlusten verlangen wird. Der Erbe erhält also eine geringere Rendite, doch das Kapital ist geschützt. Das Anlegen ,nah am Profit und fern vom Verlust' ist durch die rabbinischen Gesetze über Wucher im Allgemeinen verboten. In ihnen wird nämlich diese Art von Vereinbarung mit dem Darlehen zu einem festen Zinssatz gleichgesetzt, was die Torah strikt untersagt. Sie ist aber im Falle der Investition einer Erbschaft eines Minderjährigen oder bei einer Schenkung zugunsten der Wohltätigkeit gestattet (Schoulchan Arouch, Yore Dea CLX, 18). Der Talmud von Babylon fährt fort, indem er den Einwand von Rav Aschi zitiert: "Dies alles ist gut, wenn man einen Mann findet, der zerbrochene Goldstücke besitzt [d.h. einen sehr reichen Mann]; muss aber das Geld des Waisen, wenn man keinen solchen findet, deswegen vergeudet werden [denn der Waise wird sein Kapital aufzehren, das man nicht sicher anlegen konnte]? Lasst uns einen Mann suchen, der ausreichende Sicherheiten bieten kann, rät Rav Aschi, einen zuverlässigen Mann, der die Gesetze der Bibel einhält und es nicht ertragen würde, von den Rabbinern geächtet zu werden [er wird, anders ausgedrückt, eher seiner Pflicht ehrlich nachkommen, als eine derartige Entwürdigung hinzunehmen]. Dann soll man diesem Mann das Geld im Beisein eines rabbinischen Gerichts anvertrauen [damit ihm der Ernst seiner Aufgabe wirklich bewusst wird]." Gemäss Rav Aschi ist der Sicherheitsgrad nun etwas geringer, doch die Anlagebedingungen bleiben dieselben, einschliesslich der Klausel ,nahe am Profit und fern vom Verlust' sowie des reduzierten Anteils des Waisen am Gewinn, weil der Anleger ein gewisses Risiko auf sich nimmt. Kann keine solche Vereinbarung getroffen werden, muss der Waise von seinem Kapital leben. Im Fall von Nathan ist also offensichtlich, wofür er sich entscheiden muss. Die Investition des Vermögens der Wohltätigkeitsorganisation muss möglichst sicher sein, auch wenn eine konservative Strategie bedeutet, dass die Rendite viel tiefer ausfällt. Sollte Nathan von diesem Weg abkommen und das Vermögen mit mehr Risiko anlegen, verpflichtet er sich automatisch dazu, jeden Kapitalverlust aus eigener Tasche zurückzuerstatten. *Rabbiner Shabtai A. Rappoport leitet die Jeschiwah "Schwut Israel" in Efrat (Gusch Etzion). Er ist Studiendirektor am Beit Hamidrasch, The Ludwig and Erica Jesselson Institute for Advanced Torah Studies, an der Bar Ilan University und hat unter anderem vor kurzem die letzten beiden Bände der Responsen herausgegeben, die von Rabbiner Mosche Feinstein, s.A., geschrieben wurden. Er entwickelt gegenwärtig eine Datenbank, die alle aktuellen Themen der Halachah umfasst. Richten Sie Ihre Fragen oder Kommentare an folgende E-Mail-Adresse: shrap@bezeqint.net. |