A.F.C. AJAX
Von Roland S. Süssmann
Eine Begegnung mit URI CORONEL lässt niemanden gleichgültig. Dieser äusserst elegante, jugendlich wirkende Geschäftsmann in den Sechzigern steht angeblich im Ruhestand, ist aber eigentlich aktiver denn je, da er als Präsident des Arbeitgeberverbands, des zoologischen Gartens von Amsterdam usw. wirkt. Eine seiner zahlreichen Funktionen weckt natürlich die Neugierde des jüdischen Journalisten. Dieser holländische Jude, dessen Mutter nach Bergen-Belsen deportiert wurde, ist nämlich ein Nachfahre der Marranen, die sich zu Beginn des 17. Jahrhunderts in Amsterdam niederliessen und ausserdem ein Stützpfeiler – im übertragenen Sinn – der berühmten Esnoga. Doch daneben fungiert er vor allem als Präsident von AJAX Amsterdam, einem der prestigereichsten Fussballklubs der Welt.
Uri Coronel stammt aus einer Familie, die es sich zur Tradition gemacht hat, Gutes zu tun und sich in der Gemeinde tatkräftig einzusetzen. Er war während zwölf Jahren Präsident der jüdischen Schule, später auch des Beth Shalom, des Seniorenheims von Amsterdam. Noch heute setzt sich Coronel aktiv für den Bau eines neuen Altersheims für kranke Senioren ein, das gegenüber vom Krankenhaus Ziekenhuis liegen soll.

Es heisst immer wieder, AJAX sei ein jüdischer Verein. Wie sieht die Wirklichkeit aus?
An diesem Verein gibt es absolut nichts Jüdisches, abgesehen vielleicht von der Tatsache, dass sich an einem Match ein Häuflein von 750 Juden wacker in der Masse der 45’000 bis 50'000 Zuschauer behauptet.

Wie wird ein Jude zum Präsidenten eines derart prestigeträchtigen Klubs?

Ich wurde ja nicht ernannt, weil ich Jude bin. Wir können in Holland jeden Posten besetzen, wenn wir die erforderlichen Kompetenzen und Fähigkeiten dazu besitzen. In den vergangenen dreissig Jahren gab es in Amsterdam übrigens vier jüdische Bürgermeister, darunter den aktuellen Stadtvater Job Cohen.
Dazu muss man wissen, dass bestimmte jüdische Organisationen in Holland vom Staat stärker subventioniert werden als anderswo. Sämtliche koscheren Lebensmittel, die wir für unser Seniorenheim (300 Bewohner) brauchen, werden vollumfänglich vom Staat bezahlt. Dahinter steckt die einfache Logik, dass jedes Seniorenheim pro Bewohner eine Subvention erhält. Wenn die Juden aus religiösen Gründen koscher essen müssen und dies etwas mehr kostet, geht der Staat davon aus, dass er die Differenz zu übernehmen hat. Dies gilt auch für die Muslime. Wir leben in einem Land, das insgesamt recht judenfreundlich eingestellt ist. Ich bin überzeugt, dass es in den höheren Regierungskreisen und im Königshaus überhaupt keinen Antisemitismus gibt. Ausserdem war bereits mein Vater Mitglied von AJAX und nahm meinen Bruder und mich schon im Alter von fünf Jahren an die Spiele mit. Heute umfasst unsere grosse Familie rund sechzig Mitglieder, und wir alle, egal ob orthodox oder liberal, Männer, Frauen und Kinder, sehen uns sämtliche Spiele von AJAX an.
Vor zwanzig Jahren steckte AJAX tief in finanziellen Schwierigkeiten und hatte viele Scherereien mit den Steuerbehörden. Ich meinerseits leitete damals ein mittelgrosses Unternehmen mit ungefähr 500 Mitarbeitern. AJAX suchte nach neuen Direktionsmitgliedern und sie boten mir einen Sitz im Vorstand an. Ich akzeptierte das Angebot freudig, obwohl ich kaum noch Zeit hatte. Es stimmt, ich hatte in der jüdischen und in der nichtjüdischen Welt bereits mehrere ehrenamtliche Funktionen übernommen, doch durch den Eintritt in den Vorstand von AJAX ging ein Kindertraum in Erfüllung, es war „der Gipfel des Glücks, das Höchste, was ein gewöhnlicher Sterblicher erreichen kann“. Im Gegensatz zu Grossbritannien, wo die Präsenz von Juden im Fussball seit langem Tradition ist, war dies in Holland völlig neu. Etwas vom Besten, was ich für AJAX getan habe, war mein Einsatz als treibende Kraft beim Bau des neuen Stadions mit 52'000 Plätzen und einem verschliessbaren Dach, einem unterirdischen Parkhaus und sogar einer Strasse unter dem Stadion. Im Hinblick auf die Finanzierung kam ich auf die Idee, Anteilscheine am Stadion zu verkaufen, so dass wir den Bau praktisch mit Eigenmitteln und ohne die Unterstützung der Banken finanzieren konnten. Heute ist das Stadion völlig schuldenfrei. Nach neun wunderbaren Jahren im Vorstand beschloss ich, meine Zeit sei um und ich wolle mich angesichts von einigen Erfolgen zurückziehen. Bei meiner Ankunft hatte der Klub 12 Millionen Gulden Schulden, bei meinem Rücktritt besass er ein Stadion und volle Kassen (85 Millionen Gulden Guthaben). Wir haben vier nationale Titel gewonnen, zwei Europapokale und den Weltcup. Ich wurde zum Ehrenmitglied ernannt, was aber nichts bedeutet, ausser dass ich garantiert im Stadion einen Sitzplatz kaufen kann. Ich habe meine Tätigkeit für jüdische Institutionen beibehalten, beschloss aber vor drei Jahren, alles abzugeben, da ich der Meinung bin, nach dreissig Jahren des ehrenamtlichen Einsatzes sei der Moment gekommen, das Feld zugunsten von Jüngeren zu räumen. Ich brauchte mir nur meine eigene Familie anzusehen, wo es genügend Nichten und Neffen gibt, die diese Aufgaben kompetent übernehmen können. Vor sechs Monaten rief mich der Vorstand von AJAX an, weil die Geschäfte sehr schlecht liefen. Die sportlichen Ergebnisse waren enttäuschend, das Geld versickerte viel zu schnell usw. Wir setzten eine Untersuchungskommission ein, um zu ermitteln, wo das Problem lag, und ich wurde natürlich zu ihrem Präsidenten ernannt. Wir verfassten einen sehr kritischen Bericht, um den in der Presse ein übertriebenes Aufhebens gemacht wurde. Aber natürlich lässt alles, was den Fussball betrifft, hier wie überall sonst sofort viel Tinte fliessen. An dem Tag, an dem der Bericht veröffentlicht wurde, machte meine Pressekonferenz in allen Zeitungen, Radio- und Fernsehstationen des Landes Schlagzeilen. Zu diesem Zeitpunkt war vorgesehen, dass der Präsident von KLM die Vereinspräsidentschaft übernehmen sollte. Er war aber aus beruflichen Gründen verhindert und man bot mir den Posten an. Nach einer kurzen Bedenkzeit nahm ich das Angebot gegen den Willen meiner Familie an. Es war eine riesige Herausforderung und ich wollte unbedingt erfolgreich sein. Einer meiner Freunde, ein frommer Jude, hat sich bereit erklärt, dem Vorstand beizutreten und sich um die Finanzen zu kümmern. Sie sehen, meine Wahl hat nichts damit zu tun, dass ich Jude bin, auch wenn dies natürlich kein Nachteil ist, ganz im Gegenteil. AJAX spielt zweifellos eine grosse Rolle im Leben der Juden von Amsterdam. Der Businessclub von AJAX setzt sich übrigens zu 10% aus Juden zusammen, was überdurchschnittlich viel ist angesichts des Anteils an Juden in der holländischen Bevölkerung.

Woher kommt die Vorstellung, dass AJAX ein jüdischer Fussballverein ist?

Niemand weiss wirklich, wie diese Geschichte entstanden ist, doch es ist tatsächlich so, dass die Fans sich selbst „die Juden“ nennen, obwohl sie es überhaupt nicht sind. Sie schwenken israelische Flaggen und lassen sich einen Davidstern auf den Arm tätowieren. Gemäss einer Studie, die ein englischer Historiker namens Simon Cooper zu diesem Thema verfasste, scheint sich das Fussballstadion vor dem Krieg einfach in einem recht orthodoxen jüdischen Viertel befunden zu haben. Wenn die Fans zu einem Spiel ins Stadion strömten, hiess es überall: „die Juden gehen zum Fussball“. Ich habe oft darum gekämpft, diesem Treiben ein Ende zu setzen, denn es führt zur Entstehung antisemitischer Parolen während der Spiele, wie z.B.: „Die Juden ins Gas, es lebe die Hamas“ oder so. Diese Identifizierung der Fans mit den Juden ist seit einigen Jahren etwas zurückgegangen, doch sie ist immer noch zu stark. Wir besitzen dieses jüdische Image, doch wir sind es nicht. Wir haben natürlich Mitglieder, doch dies wird man nur auf Einladung. Viele kleine Jungen in Holland träumen davon, eines Tages Mitglied von AJAX zu werden. Diese Eigenschaft kann man nicht kaufen, diese Ehre muss man sich verdienen. Wir haben 600 Mitglieder, darunter 30 Juden. In der Klubgeschichte gab es zwei jüdische und zwei israelische Spieler. Wenn wir allerdings in Israel spielen, finden es die Israelis toll, dass es in Holland einen „jüdischen Verein“ gibt, und ich muss ihnen die Realität mühsam begreiflich machen.

Haben Sie schon einmal ein Spiel verpasst?

Ich habe sogar schon zwei Spiele verpasst: das eine fand am Tag von Jom Kippur statt, das andere am ersten Sederabend. Ich liebe den Fussball und meinen Verein, doch es gibt schon Grenzen. So würde ich beispielsweise wegen eines Spiels nie in ein arabisches Land reisen, auch nicht in die Golfstaaten, denn es ist gegen meine Grundsätze, in ein Land zu gehen, das die Sache der Palästinenser finanziert.