Majer – Mattie | |
Von Roland S. Süssmann | |
Auch wenn man ihn zuvor noch nie gesehen hat, ist man hingerissen von «MATTIE» MAJER TUGENDHAFT, von seinem breiten Lächeln und der menschlichen Wärme, die er fast spürbar ausstrahlt, noch bevor er den Mund überhaupt aufgemacht hat. Er ist ein sympathischer Mann, sensibel, witzig, mit vor Intelligenz sprühenden Augen. Er besass nichts und wurde zu einem sehr erfolgreichen Geschäftsmann, der sich im Schweisse seines Angesichts emporarbeitete. Niemand ahnt in seiner Gegenwart, dass er während seiner Kindheit durch die Hölle gegangen ist. Man muss zunächst wissen, dass es in Holland während der Schoah, in deren Verlauf rund 80 % der vor dem Krieg im Land ansässigen jüdischen Bevölkerung ermordet wurden, ein einzigartiges Phänomen gab, nämlich die versteckten Kinder. Aus bestimmten Quellen geht hervor, dass es der holländischen Widerstandsbewegung gelungen sein soll, 15'000 bis 16'500 Menschen zu verstecken. In Wirklichkeit schafften es rund 24'000 Personen unterzutauchen, doch ungefähr 9'000 von ihnen wurden durch holländische Kollaborateure an die SS-Leute verraten. Natürlich gingen die Menschen, die Kinder versteckten, ein enormes Risiko ein, einige haben ihre Tat gar mit dem Leben bezahlt. Heute beginnen die Leute, die damals im Versteck überlebten, ihre Geschichte zu erzählen. Wie immer gibt es Fälle, in denen alles glatt ging, aber auch andere, in denen die Kinder allmählich zum Christentum geführt wurden oder, schlimmer noch, manchmal ausgenutzt und misshandelt wurden. Die meisten dieser Kinder haben ihre Eltern nie wieder gesehen, doch andere, wie Mattie, hatten das Glück, nach zahlreichen Irrungen und Wirrungen zu ihrer Familie zurückzufinden. Es ist natürlich unmöglich, anhand eines einzigen Beispiels zu verallgemeinern, und doch möchten wir an dieser Stelle die Geschichte von Mattie erzählen, die in unseren Augen besonders eindrücklich ist. Mattie wurde am 20. November 1937 in Maastricht geboren. Sein Vater, ein Jude polnischer Abstammung, hatte jahrelang in Düsseldorf gelebt. Die Situation war wegen der Wirtschaftskrise und der Machtergreifung Hitlers in Deutschland für die Familie Tugendhaft unerträglich geworden, so dass Isaac (Fritz) Tugendhaft 1934 nach Holland auswanderte, wo er Frieda, die Tochter des Rabbiners von Maastricht kennen lernte und sich hoffnungslos in sie verliebte. Sie heirateten 1936 und ihnen wurden zwei Kinder geboren: Majer im Jahr 1937 und Trinette 1939. Da Isaac fliessend Deutsch sprach, diente er als Dolmetscher zwischen der jüdischen Gemeinschaft und den Deutschen. Mit der Zeit wurde die Gefahr immer bedrohlicher und die Eltern Tugendhaft mussten irgendwann ihren Kindern, damals im Alter von 5 und 3 Jahren, mitteilen, dass sie von zu Hause ausziehen und sogar einen anderen Namen annehmen müssten. So wurde Majer zu Mattie Gevers. Dank der Unterstützung mutiger Menschen, zu denen auch ein katholischer Priester zählte, wurden die Kinder Tugendhaft in Belgien versteckt, während ihre Eltern in Maastricht selbst untertauchen konnten. Mattie wurde von Ort zu Ort gereicht, zu einem bestimmten Zeitpunkt hielt er sich gar in einer Art Kloster auf, doch beim Herannahen des Osterfestes drohte er entdeckt zu werden. Er wohnte also nacheinander in Sittard, Hoensbroek, Heerlen, und landete 1943 zuletzt bei einem Bauern in Limburg in der Region von Leudal. Zur Familie gehörten bereits drei Kinder, die älter waren als Mattie. Sie lebten auf einem grossen Hof, auf dem Kühe und Pferde gezüchtet wurden. Sehr bald wurde Mattie die Verantwortung übertragen, die Pferde auf die Weide zu bringen. Doch was zunächst wie eine ländliche Idylle aussah, wurde sehr schnell zum Alptraum. Sobald die Familie morgens jeweils auf das Feld gegangen war, um die Kühe zu melken, zerrte der Bauer Mattie aus dem Bett und begann ihn auf unterschiedlichste Weise zu quälen, ihn auf äusserst sadistische Art zu misshandeln. Zuerst hängte er ihn an einem Strick auf, bis er nach Luft rang, dann band er ihn wieder los und begann mehrmals wieder von vorn. Wenn es einmal besonders kalt war, liess er ihn nackt über den Hof rennen, an anderen Tagen tauchte er ihn in einen Bewässerungsgraben. Als Mattie sich eines Tages das Bein brach, durfte er nicht zum Arzt und musste wieder die Pferde auf die Weide bringen. Da er nur hinken konnte, stolperte er und fiel… auf eine Mistgabel. Als sich irgendwann sein Ohr entzündete, schnitt ihm der Bauer den kranken Teil einfach mit dem Brotmesser ab, so dass ihm nur ein halbes Ohr übrig blieb. Erst viel später konnte Mattie dank der plastischen Chirurgie sein Ohr wieder herstellen lassen. Ab und zu protestierten die Kinder des Landwirts gegen die Machenschaften ihres Vaters, doch dieser jagte seiner Familie Angst und Schrecken ein. Sobald Mattie den Bauern nahen sah, versuchte er sich zu verstecken, auch wenn er sehr wohl wusste, dass er am nächsten Tag für sein Verschwinden bitter würde büssen müssen. Der Priester, der Mattie zu diesem Bauern gebracht hatte, besuchte ihn zwar immer wieder, doch der Hausherr liess Mattie nie allein mit dem Kirchenmann. Als sich dieser um das Ohr des Jungen besorgt zeigte, sagte ihm der Bauer, der Arzt habe ihn „schlecht gepflegt“. Eines Tages kehrte die Frau des Bauern früher als gewöhnlich vom Feld heim und fand den kleinen Mattie aufgeknüpft und schon ganz blau angelaufen hinten in der Küche vor. Sie machte kein Hehl aus ihrer Entrüstung und liess den Kleinen seither nie mehr aus den Augen. Einige Zeit später holte ihn der Priester ab und brachte ihn zu einer anderen Familie nach Klimmen. Auf dem Weg dorthin durfte er kurz seine Eltern sehen und erlebte bei dieser Gelegenheit eine weitere Tragödie. Als er nämlich berichtete, was ihm widerfahren war und welche Misshandlungen er erlitten hatte, schenkte ihm keiner Glauben. Es ist tatsächlich kaum nachzuvollziehen, wie jemand, der „unter Lebensgefahr ein jüdisches Kind versteckt“, zu solchen Gräueltaten fähig ist. Weil es zu gefährlich gewesen wäre, durfte Mattie nicht bei seinen Eltern bleiben und reiste weiter nach Klimmen, wo er bis Kriegsende bei einer normalen Familie wohnte. Der Kontakt zu diesen Adoptiveltern brach auch nach dem Krieg nicht ab. Wieso war Ihrer Meinung nach der Hass des Bauern so gross, dass er Sie misshandelte? Es gibt dafür keine logische oder plausible Erklärung. Ich bin jedoch letztlich zu folgendem Schluss gekommen. In der Gegend, in der wir lebten, gab es sehr viele Deutsche. Da ich ein Kind war, erzählte ich gern herum, dass ich meine Familie verlassen musste, weil wir Juden waren. Ich traf übrigens eines Tages einen anderen Jungen aus Maastricht namens Michel Shlayin, dessen Eltern mit meinen befreundet waren und der auch in dieser Region versteckt wurde. Ich sprach ihn an und er wurde am nächsten Tag an einen anderen Ort gebracht. Der Bauer fürchtete wahrscheinlich, dass ich den Deutschen erzählen würde, wer ich war und wo ich wohnte, falls sie mich geschnappt hätten. Er sagte immer zu mir: „Was ich dir antue, ist ein Klacks gegenüber dem, was dir die Deutschen antun, wenn sie dich kriegen“. Wenn dies als Erklärung nichts taugt, kann ich nur annehmen, dass er geistig krank war. Was Sie aber nach dem Krieg am meisten verletzt hat, war wohl die Tatsache, dass Ihre Eltern Ihnen nicht glaubten. Wie haben Sie diesen Schmerz letztlich überwunden? Alle meine Berichte stützten sich natürlich, wie Sie sich denken können, nur auf Erinnerungen. Fast 60 Jahre später schlug mir ein Geschäftsfreund, dem ich alles erzählt hatte, vor, mit dem Auto an den Ort zu fahren, wo ich versteckt worden war. Bei der Ankunft in dem Dorf erkannte ich plötzlich das Haus. Für mich war es, als ob ein Alptraum Wirklichkeit würde, der Schock fuhr mir in den Knochen. Mein Erschrecken hatte eigentlich kaum etwas damit zu tun, dass ich den Ort wieder sah, sondern dass ich nun den leibhaftigen Beweis dafür besass, dass meine Worte der Realität entsprachen. Das war keine Geschichte, die sich ein Kind einfach ausgedacht hatte. Ich schaffte es nicht, aus dem Auto auszusteigen, ich war wie gelähmt und bat meinen Freund, sofort wieder loszufahren. Ungefähr zwei Jahre später fragte mich mein Freund, ob ich in diese Gegend zurückkehren wolle. Ich bejahte und war sogar bereit, den besagten Hof aufzusuchen. In der Zwischenzeit war er an einen Bekannten meines Freundes verkauft worden, der in der Region wohnte und das Haus nach dem Kauf abreissen wollte. Wir sind hingefahren und da das Gebäude abgerissen werden sollte, stand es leer. Wir holten die Schlüssel beim neuen Besitzer, der nach dem Grund für unseren Besuch im Haus fragte. Als wir ihm alles erklärt hatten, sagte er, er habe gewusst, dass im Krieg ein jüdisches Kind auf dem Hof versteckt und schrecklich misshandelt worden sei. Er berichtete, dass die Leute damals in der Dorfkneipe darüber geredet hätten und er riet uns, sie aufzusuchen. Er erzählte auch, die früheren Besitzer hätten die Medaille der Gerechten von Yad Vaschem erhalten, weil sie während des Kriegs Kindern Unterschlupf geboten hätten. Da sie nämlich über einen riesigen Hof verfügten, hätten sie 50 jüdische Kinder im Estrich beherbergt sowie ausserdem einige Angehörige der englischen Luftwaffe, die mit dem Fallschirm abgesprungen waren oder deren Flugzeuge man abgeschossen hatte. Wie verlief Ihr Besuch in dem Haus? Ich gebe zu, dass ich mich wahnsinnig überwinden musste, doch als ich eintrat, war es, als ob ich es erst am Vortag verlassen hätte. Ich sah die Stelle, an der er mich an der Decke aufhängte und mich schlug, den Graben, in dem er mich ins kalte Wasser tauchte, und zwar nur gerade lang genug, dass ich nicht ertrank, kurz, ich sah und erkannte sämtliche Ecken und Winkel wieder. Sind Sie auch in die Dorfkneipe gegangen? Und was kam bei diesem Besuch heraus? Als ich in das Café eintrat, sah ich zunächst nur Leute, die wesentlich jünger waren als ich. Es stellte sich heraus, dass es die Kinder der Besitzer waren. Doch da war auch eine rund 80-jährige Dame, die während des Kriegs so um die fünfzehn gewesen sein musste. Ich wollte sie sprechen, und als sie aus der Küche kam, fragte ich sie, ob sie sich an einen Landwirt namens Opendrout erinnern würde, der während des Kriegs ein jüdisches Kind versteckt habe. Sie antwortete: „Trinken Sie Ihren Kaffee und verschwinden Sie, ich will nicht darüber reden“. Da sagte ich ihr, ich sei darüber informiert, dass sie die Medaille der Gerechten von Yad Vaschem für ihre Verdienste während des Kriegs erhalten hätten. Es war, als ob ich ein Zauberwort benutzt hätte. Sie bat mich, Platz zu nehmen und begann zu reden. Und dann erzählte sie mir natürlich alles, was in ihrem Haus vorgefallen war, bis sie auch zugab: „Alle sprachen von dem jüdischen Kind, das bei Opendrout so misshandelt wurde“. Mich traf die Wahrheit wie ein Blitz, wie eine Explosion. Fast 60 Jahre später besass ich endlich den konkreten Beweis, dass alles nicht einfach ein Alptraum gewesen war. Leider war es aber in gewisser Weise zu wenig und kam zu spät, denn meine beiden Eltern lebten ja nicht mehr. Was widerfuhr Ihnen nach dem Krieg? Als ich von dem Bauern weggegangen war, wechselte ich bis zum Kriegsende vielleicht zehn Mal meinen Aufenthaltsort, bis ich bei einer Familie in Klimmen landete. Dort wurde ich als kleiner Christ erzogen, ich sang in der Kirche und kenne noch heute die Liturgie in- und auswendig. Dabei wusste ich eigentlich immer, dass ich Jude bin. Allerdings bin ich überzeugt, dass meine Schwester und ich wahrscheinlich als Christen aufgewachsen und gelebt hätten, wenn unsere Eltern uns nicht gefunden hätten. Dazu muss man wissen, dass Trinette in einem Kloster in Belgien versteckt wurde. Sie ist vor einigen Jahren dorthin zurückgekehrt, und die Nonnen, die immer noch dort lebten, haben sie wieder erkannt. Als Dank für das, was die Nonnen für sie getan hatten, schenkte Trinette ihnen eine Reise nach Israel. Wie haben Sie Ihre Eltern wieder gefunden? Dabei hat uns die Mutter der Frau von André Rieu, dem berühmten Geiger, geholfen. Sie gehörte zur Widerstandsbewegung und hatte alles organisiert, damit wir untertauchen konnten, sie brachte meinen Eltern auch Nahrungsmittelcoupons. Sie wusste immer, wo wir uns aufhielten, und bei der Befreiung hat sie sofort alles getan, damit unsere Familie wieder vereint wurde. Ich muss hinzufügen, dass mein Vater nach dem Krieg kein Geld mehr hatte, doch mit dem Wenigen, das ihm blieb, ging er reihum zu allen Leuten, die uns beherbergt hatten, und erstattet ihnen die Auslagen für unser Essen zurück, auch den Nonnen, die Trinette versteckt hatten. Er suchte sogar meinen Folterer auf, doch der verlangte eine dermassen hohe Summe, dass man Vater ihm schliesslich gar nichts gab. Nach dieser schrecklichen Erfahrung und nach den Einblicken in das Christentum haben Sie sich interessanterweise dennoch entschieden, Jude zu bleiben. Haben Sie irgendwann in Erwägung gezogen, das Judentum aufzugeben, da Sie als Jude so leiden mussten? Nein, nie, ganz im Gegenteil, und noch weniger seit der Gründung des Staates Israel, auf den ich so stolz bin. Nachdem ich meine Eltern wieder gefunden hatte, nahmen wir unseren normalen Alltag als Juden wieder auf. Meine Schwester und ich waren am Ende des Kriegs 5 bzw. 7 Jahre alt, und wir erfuhren, dass wir nun auch einen kleinen Bruder namens Benny hatten, der während des Kriegs geboren wurde und noch nicht beschnitten werden konnte. Mein Bruder war somit das erste jüdische Kind welches nach dem Krieg in Holland beschnitten wurde. Dies übernahm ein Arzt, ein amerikanischer General. Sie haben Ihr Schicksal bemerkenswert erfolgreich gemeistert und gelten heute in Holland als grosszügiger Mäzen. Wie verlief denn Ihr Leben genau? Nach meiner quälenden Erfahrung fiel es mir sehr schwer, meine Schullaufbahn normal zu absolvieren. Der Gedanke, dass man mir nicht glaubte, nagte an mir, ebenso der unerträgliche Zweifel daran, ob ich mir nicht vielleicht alles einbilden würde aufgrund der schrecklichen Geschichten, die ich nach dem Krieg gehört hatte. Ich stieg sehr jung in die Berufswelt ein, und trotz meiner Konzentrationsschwierigkeiten gelang es mir, ein mit der Zeit sehr erfolgreiches Unternehmen zu gründen. Ich denke, ich habe riesiges Glück gehabt. Ich bin der Überzeugung, dass dieses Privileg meines Erfolgs dazu dienen soll, dass ich anderen Menschen helfe. Eines der Projekte, das mir heute am meisten am Herzen liegt, ist die Entwicklung des jüdischen Krankenhauses Ziekenhuis von Amstelveen sowie der Ausbau der jüdischen psychiatrischen Klinik Sinai Centrum. Ich fühle mich natürlich auch Israel gegenüber sehr verpflichtet, denn ich weiss, dass es alles ist, was wir haben, und dass uns die ganze Welt darum beneidet. Wir hätten Majer – Mattie noch während Stunden zuhören können. Obwohl er sich körperlich von seinen traumatischen Erlebnissen erholt hat, sind seine seelischen Verletzungen infolge der Misshandlung durch einen sadistischen Bauern und der Tatsache, dass ihm niemand Glauben schenkte, zwar oberflächlich verheilt, doch es werden wohl immer Narben übrig bleiben. |