Hollandsche Schouwburg | |
Von Roland S. Süssmann | |
Der Horror anlässlich der Deportationen in die Radrennbahn „Vél’d’Hiv“ in Paris ist in zahlreichen Reportagen beschrieben worden. Doch wer hat schon je etwas von der Hollandsche Schouwburg gehört, diesem 1892 erbauten Theater, das in ein Zentrum für die Gräueltaten der Nazis verwandelt wurde? 1941 änderten die Deutschen den Namen des Theaters in „Joodsche Schouwburg“ (jüdisches Theater) um, und ab diesem Zeitpunkt durften hier nur noch jüdische Stücke von jüdischen Schauspielern und für ein rein jüdisches Publikum aufgeführt werden. Einige Monate lang diente das Gebäude dann als Kunstakademie ausschliesslich für jüdische Dozierende und Studierende, bevor es zu einem Hochzeitssaal wurde. Doch ab August 1942 verwandelte man das Theater in ein Deportationszentrum. Die Juden aus Amsterdam und aus der unmittelbaren Umgebung wurden gezwungen, das Zentrum aufzusuchen und sich gefangen nehmen zu lassen; danach wurden sie deportiert, zunächst in die Konzentrationslager Westerbork oder Vught (das auch ein Arbeitslager mit einer Schneiderei war), später in die Vernichtungslager. Zu Beginn trug das Theater den trügerischen Namen „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“, und man versprach den Menschen einen Arbeitsplatz in Deutschland und gab ihnen eine Liste der Dinge, die sie mitnehmen sollten. Nur ganz wenige taten dies aber freiwillig, die meisten mussten von holländischen Kollaborateuren mit Gewalt dazu gezwungen werden. Für jeden abgelieferten Juden erhielten die Helfer eine geringfügige Entschädigung. In der ständigen Ausstellung der Schouwburg ist die Quittung einer dieser Verräterinnen zu sehen: Sie erhielt 37,50 Gulden als Gegenleistung für die „Gefangennahme“ eines Juden. Die Opfer mussten von der Umwelt abgeschnitten während Stunden, Tagen oder gar Wochen in den Theatersesseln auf ihren Weitertransport warten. Jeder, der über 24 Stunden im Zentrum verbrachte, erhielt eine leichte Mahlzeit, die der jüdische Rat verteilen liess. Einige von ihnen trafen voller panischer Angst ein, andere meinten einfach nur illusionslos: „Sie haben uns hier zusammengetrieben, um uns alle umzubringen“. Doch zu diesem Zeitpunkt wollte und konnte dies noch keiner glauben. Man kann sich kaum vorstellen, unter welchen Umständen diese Männer, Frauen, Jugendlichen und Greise auf engstem Raum zusammengepfercht lebten. Die Kinder hatte man in ein Haus gegenüber vom Theater gebracht, an der Plantage Middennlaan 31, wo es bereits seit 1924 einen Tageshort für Kinder gab, den man „Krippe“ nannte. Sie wurden aus „administrativen“ Gründen von ihren Eltern getrennt. Die Kinder wurden zwar nicht sich selbst überlassen, doch die Lebensumstände waren schrecklich. Es gab kleine Betten und sogar ein wenig Spielzeug. Am Tag der Deportation wurden die Familien wieder zusammengeführt. Am 15. Januar 1943 beschlossen die Deutschen, dass jedes elternlos in der Stadt aufgegriffene Kind als Jude angesehen und in die Krippe gesteckt werde. Am 26. Juli 1943 wurden sämtliche Kinder und Betreuer, einschliesslich des Direktors, an den Polderweg in die Nähe eines der Amsterdamer Bahnhöfe geschafft. An jenem Tag durften nur zwei Aufsichtspersonen in die Krippe zurückkehren. Alle anderen brachte man später nach Westerbork. Es kam zu immer mehr Verhaftungen und die Krippe füllte sich erneut, doch sie wurde ab jetzt nur noch von zwei Mitarbeitern namens Sieny Cohen-Kattenburg und Virrie Cohen geführt. Am 29. September 1943, am Abend von Rosch Haschanah, führten die Deutschen in der Krippe eine Razzia durch und brachten alle Kinder weg. Die beiden Angestellten schafften es, den Krieg in einem Versteck zu überleben. Neben dem Zentrum befand sich eine Krankenstation, und je nach Lust und Laune des verantwortlichen deutschen Arztes wurde eine Person dem nächsten Transport zugewiesen oder nicht. Nach ihrer Ankunft in Westerbork mussten die Gefangenen Schlange stehen, um sich von den Mitarbeitern des jüdischen Rates registrieren zu lassen. Nun mussten sie ihre Taschen leeren und sogar die Wohnungsschlüssel abgeben, damit man ihre Habseligkeiten stehlen konnte. Doch im jüdischen Rat arbeiteten auch sehr mutige Leute, darunter vor allem Walter Suskind, Felix Halverstad und Dr. Karel Roos, die alles unternahmen, um einigen Kindern und hunderten von Erwachsenen die Flucht zu ermöglichen. Der grosse Drahtzieher dieser Rettungsaktion war Walter Suskind, ein Jude deutscher Herkunft, der das uneingeschränkte Vertrauen von Aus der Funten besass, dem Kommandanten des Durchgangslagers. Während ihrer gemeinsamen abendlichen Trinkgelage richtete er es unter eigener Lebensgefahr ein, dass möglichst viele Menschen aus der Schouwburg und der Krippe fliehen konnten, und zwar in direkter Zusammenarbeit mit den holländischen Widerstandskämpfern. Erinnern wir abschliessend daran, dass die Opfer am helllichten Tag vor aller Augen in Bussen, Trams und Polizeilastwagen zu den Zügen transportiert wurden, die nach Westerbork und Vught fuhren. Dies beweist die Passivität der holländischen Bevölkerung angesichts der Not ihrer jüdischen Landsleute. Bei der Besichtigung von Amsterdam gehört ein Besuch in der Schouwburg, die ihre Funktion als Durchgangslager in die KZ bis zum 19. November 1943 ausübte, unbedingt dazu. Im Jahr 1958 wurde die Schouwburg offiziell zur Gedenkstätte für die Verfolgung und die Ermordung der holländischen Juden. Die Einweihung fand 1962 statt. 1993 wurde eine Ausstellung eröffnet, welche die Geschichte der Verfolgung und des Massakers an den Juden in Holland erzählt. Heute dient die Schouwburg als Ort der Besinnung und Einkehr mit pädagogischem Zweck, aber auch als ein Mahnmal, das an das Ausmass der Kollaboration der Holländer mit Nazideutschland erinnert. Die Deutschen konnten effektiv auf die holländischen Helfershelfer zählen, um die Drecksarbeit zu erledigen und ihre Verordnungen durchzusetzen. Angestellte der verschiedenen Gemeinden bemühten sich nach Kräften, die Deportationen zu erleichtern, die Militärpolizei bewachte das Lager Westerbork und die Zug- und Tramführer lenkten ihre Verkehrsmittel, auch wenn Juden damit deportiert wurden. |