Rosj Pina und Maimonides | |
Von Roland S. Süssmann | |
Jedes Mal, wenn wir irgendwo auf der Welt eine jüdische Schule besuchen, sei dies nun in Johannesburg, Moskau, Baku oder Amsterdam, verabschieden wir uns mit der immer gleichen Gewissheit: hier wird die Zukunft der jüdischen Gemeinschaft des Landes vorbereitet, über das wir gerade berichten. Die Schule ROSJ PINA macht da keine Ausnahme, auch angesichts der Tatsache, dass die heutigen jüdischen Führungspersönlichkeiten in Holland diese Schule besucht haben. Sie wurde in dem Jahr gegründet, als der Staat Israel wieder auferstand, und feierte vor kurzem ihren 60. Jahrestag. Bei seiner Ankunft in der Schule ist der Besucher beeindruckt durch die Grösse des Gebäudes und den Umfang der Einrichtungen, die Klassenzimmer, die Gemeinschaftsräume wie die Synagoge, das Sportareal, die Mehrzweckhalle für Veranstaltungen usw. Wir wurden sehr freundlich von ZVI MARKUSZOWER empfangen, dem Präsidenten der Schulrats der Lehranstalten Rosj Pina und Maimonides. Wie ist denn das jüdische Schulsystem in Amsterdam aufgebaut? Wir verfügen insgesamt über drei Schulen. Die eine ist von streng orthodoxer Ausrichtung und heisst Cheder. Und hier besitzen wir zwei Institutionen: die Primarschule Rosj Pina, die von Schülern zwischen 4 und 12 Jahren besucht wird, sowie das Gymnasium Maimonides für die 12- bis 18-Jährigen bis zur Matur. Wir haben aber auch eine Krippe und einen Kindergarten, wo wir neugeborene Säuglinge und Kleinkinder bis zum Alter von 4 Jahren aufnehmen. Mit der Betreuung der Allerkleinsten haben wir eine spezialisierte Organisation ausserhalb der Schule beauftragt. Wir haben dieses Angebot bereit gestellt, weil in Holland viele junge Mütter berufstätig sind. Natürlich hoffen wir, dass die Kinder nach dem Besuch unseres Kindergartens ihre gesamte Schulzeit bis zur Matur in unseren Instituten absolvieren. Die Primarschule zählt rund 300 Schüler, die Sekundarstufe 150 und der Kindergarten 60. Auf diese Weise empfangen wir täglich fast 500 Kinder und Jugendliche. Das Gebäude der Primarschule Rosj Pina wurde vor vier Jahren mit der Unterstützung der holländischen Regierung in Betrieb genommen, und zurzeit bauen wir eine neue Sekundarschule, da das alte Gebäude nicht mehr benutzt werden konnte. Wir hoffen, dass die Schüler in einem Jahr in die neuen Räumlichkeiten umziehen können. Ich mache kein Hehl daraus, dass der Bau einer jüdischen Schule sowohl auf finanzieller Ebene als auch in organisatorischer Hinsicht nicht ganz einfach ist, wenn man die Vorstellungen aller Beteiligten berücksichtigen möchte. Die erste jüdische Schule in den Niederlanden geht auf das Jahr 1875 zurück, doch sie wurde erst kurz vor dem Zweiten Weltkrieg auf die Vorschriften und Programme des staatlichen Erziehungsministeriums ausgerichtet. Auch heute noch entsprechen die Lehrpläne den Anforderungen des niederländischen Schulsystems und unsere Schüler legen die staatlichen Examen ab. Mit der bei uns erworbenen Matur wird man zum Studium an der Universität und an allen anderen Bildungsinstitutionen der tertiären Stufe zugelassen. Neben dem staatlichen Lehrplan erhalten unsere Schüler auf der Primarstufe täglichen Unterricht von je 45 Minuten in Hebräisch und in jüdischen Fächern, während die Sekundarschüler diese Kurse als Maturitätsfächer wählen dürfen und die Zensuren aus diesen Prüfungen zu 100% in die Schlussnote einfliessen. Leider entscheiden sich nur wenige für diese Option. Als ich noch Schüler an dieser Schule war, galt das Niveau in Hebräisch und in den jüdischen Fächern als nicht sehr anspruchsvoll. Meine Kinder hingegen, die hier zur Schule gegangen sind, sprechen ein sehr anständiges Hebräisch und erfüllen so ein Lernziel unseres Instituts. Aus welchen Gesellschaftsschichten stammen Ihre Zöglinge? Wir nehmen nur authentisch jüdische Kinder auf, d.h. Kinder mit einer echten jüdischen oder gemäss den strengen Regeln der Halachah (jüdische Gesetzgebung) konvertierten Mutter, da dulden wir keine Ausnahmen. Wir sind allerdings das, was in Holland eine „schwarze Schule” genannt wird, weil wir viele Ausländerkinder betreuen, die hauptsächlich aus Israel und Russland stammen. Dadurch entstehen uns im Hinblick auf die schulische Struktur zahlreiche Probleme. So brauchen beispielsweise die aus Israel eingewanderten Kinder keine Hebräischkurse, während diejenigen russischer Herkunft diese Sprache überhaupt nicht kennen. Zudem gibt es grosse Unterschiede zwischen der holländischen, der israelischen und der russischen Mentalität; wir müssen einen gemeinsamen Nenner finden und eine gewisse Disziplin durchsetzen, was nicht immer einfach ist angesichts der Tatsache, dass nicht alle Kinder Holländisch verstehen. Ein gewichtiges Problem ist die hohe Zahl von gemischten Ehen. Viele junge Israelinnen haben Holländer geheiratet, doch in diesen Ehen kriselt es sehr oft oder sie enden mit einer Scheidung. Daraus entsteht eine ganze Reihe von Schwierigkeiten, die typisch für diese Situationen sind. Wie so oft sind die Kinder die Leidtragenden, wobei sich ihre Probleme in ihrem Verhalten und in ihrer Schulkarriere widerspiegeln. Die Schule muss sich ganz besonders um diese Kinder kümmern. Die holländische Regierung unterstützt jede Schule je nach Grösse jährlich mit einer bestimmten Summe, mit der sie zurecht kommen muss. Unser Budget übersteigt die staatliche Subvention natürlich bei weitem, und die oben genannten Probleme sozialer, psychologischer, erzieherischer und oft finanzieller Art, um die wir uns zum Wohle des Kindes kümmern müssen, stellen eine nicht unbedeutende zusätzliche Belastung für die Schule dar, ganz zu schweigen von den Kosten für Hebräischunterricht und jüdische Fächer sowie für Sicherheitsfragen. Dazu muss man wissen, dass sich die Eltern in Holland nur auf freiwilliger Basis finanziell beteiligen und dass sie kein Gesetz dazu verpflichten kann, den Schulbesuch ihrer Kinder zu bezahlen. Dazu verlangt die holländische Mentalität, dass die Regierung alles zur Verfügung stellen muss, von der Haushalthilfe bis zu den Schulkosten und mehr. Wir stellen pro Kind und Jahr 675.- Euro in Rechnung, die wir nur mühselig eintreiben können. Wir werden diese Summe auf 800.- Euro pro Jahr erhöhen, was bereits einigen Unmut hervorgerufen hat. Können sich die Kinder an der Schule auch verpflegen? Die Schule ist nicht dazu ausgerüstet, Mahlzeiten zuzubereiten. Die Schüler müssen ihr Essen selbst mitbringen. Im Gegensatz zur Schweiz, zu Frankreich oder zu Deutschland ist es in Holland üblich, mittags nur kalt zu essen, so dass es die Schüler nicht stört, ein Sandwich zu verspeisen. Um alle Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Kaschruth zu vermeiden, erlauben wir nur Milchprodukte. Wie hoch ist der Anteil der schulpflichtigen jüdischen Kinder, die eine der drei jüdischen Schulen der Stadt besuchen? Wir beklagen, wie andernorts auch, zahlreiche gemischte Ehen, die kein Interesse an einer jüdischen Schule zeigen. Häufig wird als Begründung vorgebracht, dass die Kinder hier engstirnig werden und in einem Ghetto leben. Diese Argumente weise ich entschieden von der Hand, da ich selbst diese Schule besucht und anschliessend in Holland und in Frankreich studiert habe. Ich habe mein Leben lang mit Nichtjuden zusammengearbeitet und wurde immer problemlos akzeptiert und in die allgemeine Gesellschaft integriert. Natürlich findet man immer „stichhaltige Argumente”, um gewisse Dinge nicht zu tun. Nun aber zurück zu Ihrer Frage: Meiner Ansicht nach gehen ca. 70 bis 80% der jüdischen Kinder, deren Eltern am Gemeindeleben teilnehmen, in die jüdische Schule. In Bezug auf die Gesamtzahl der schulpflichtigen Kinder dürfte dieser Prozentsatz bei 40 bis 50% liegen. Wir gehen in Holland von ungefähr 35'000 bis 40'000 Juden aus, einschliesslich der mehreren tausend Israelis. Von ihnen sind grosszügig gerechnet schätzungsweise rund 20% einer Gemeinde angeschlossen. Die meisten leben in Amsterdam oder in den angrenzenden Vororten, die restliche jüdische Bevölkerung lebt verstreut in winzig kleinen Gemeinden im ganzen Land. Jeder kennt jeden, und es sind immer dieselben Personen, die in den verschiedenen Ausschüssen anzutreffen sind. Ich hatte beispielsweise die Leitung der Schule für ein Jahr übernommen… und nun bekleide ich diesen Posten seit vier Jahren. Wie sehen Sie die Zukunft dieser Schule? Die Entwicklung der Schule ist zweifellos eng mit der Aufrechterhaltung und der Entwicklung des jüdischen Lebens in Holland verknüpft. Wenn es aber in den kommenden Jahren nicht zu einem radikalen Gesinnungswechsel in Bezug auf die Assimilierung kommt und wenn unsere Glaubensbrüder sich nicht viel stärker für das jüdische Leben und die Gemeinde einsetzen und engagieren, fürchte ich sehr, dass die Institutionen und Strukturen der Gemeinde vor fast unüberwindlichen Problemen stehen werden. Einer der Parameter, dank denen man in meinen Augen die zukünftige Entwicklung am besten abschätzen kann, ist der Anteil der Gläubigen, die in die Synagoge kommen. Diese Zahl liefert ein deutliches Bild vom religiösen Engagement der jüdischen Bevölkerung an einem bestimmten Ort. Sind die Synagogen leer, schwindet das Interesse am Judentum und folglich an Israel kontinuierlich. Dies steht in keinem Zusammenhang mit der Intensität des gelebten Glaubens eines jeden Einzelnen. Die jüdische Schule ist das wichtigste Element im Gemeindeleben, doch es stellt sich die Frage, mit welcher Einstellung die Eltern ihre Kinder in eine jüdische Schule schicken. Ich weiss sehr wohl, dass die Eltern einiger unserer Schüler sich kaum oder gar nicht für das Judentum interessieren. Ihre Kinder kommen zu uns, weil es eine angenehme Schule mit einem sympathischen Rahmen ist, die in der Regel von Kindern aus einem Milieu besucht wird, mit dem die Eltern sich identifizieren können. Darüber hinaus gibt es fähige Lehrer, welche die Kinder respektieren, und vor allem eine gewisse Sicherheit ohne Gewalttätigkeiten, Drogen oder Sex. Wir beginnen übrigens die ersten negativen Auswirkungen dieses schwindenden Interesses und des mangelnden Engagements für die jüdische Sache zu spüren, denn es wird immer schwieriger Leute zu finden, die dem Ausschuss einer jüdischen Organisation angehören und dafür ihre Zeit opfern wollen. Sie haben erwähnt, dass die Schüler Unterricht in Hebräisch und in jüdischen Fächern erhalten. Erhalten sie auch eine zionistische Unterweisung? Nein, eigentlich nicht direkt. Im Rahmen der von Ihnen aufgezählten Kurse wird natürlich ein wenig Zionismus vermittelt, wir feiern an Jom Haatsmauth ein grosses Fest, überall hängen israelische Flaggen und unsere Wände sind „israelisch“ dekoriert, doch man kann dies nicht eigentlich als echte zionistische Unterweisung bezeichnen. Ich würde sogar behaupten, dass auch die religiöse Erziehung nicht sehr in die Tiefe geht, denn wir besitzen zwar eine herrliche Synagoge, halten aber keine Gottesdienste ab. Diese Synagoge wurde in Wirklichkeit zu Bildungszwecken eingerichtet, damit unsere Schüler lernen, was hier stattfindet, welche Gegenstände es hier gibt, wie ein Gottesdienst abläuft usw. Die Vorbereitung der Bar Mitzwah findet nicht im Rahmen der Schule statt, dazu müssen die Eltern einen Privatlehrer einstellen. Dieser Umstand beantwortet Ihre Frage zur Zukunft unserer Schule vielleicht besser, als ich es konnte. Doch da wir in einer Zeit leben, da sich die Menschen immer mehr mit ihren Ursprüngen zu identifizieren suchen, kann es durchaus sein, dass die Zahl unserer Schüler irgendwann deutlich ansteigt. |