Ablehnung und Anziehungskraft | |
Von Roland S. Süssmann | |
Die Geschichte der jüdischen Gemeinschaft in den Niederlanden kann eigentlich in zwei Kapitel unterteilt werden: dasjenige der portugiesischen Juden, die ab dem 16. Jahrhundert eine vorrangige Rolle spielten, und dasjenige der aschkenasischen Juden, die sich gegen Ende des 17. Jahrhunderts in Holland niederliessen. Der grösste Teil dieser Gemeinschaft bestand aus Einwanderern, die vor den Pogromen in Osteuropa geflüchtet waren. Sie waren arm und daher empfing man sie nicht mit offenen Armen. Die Tatsache, dass sie sehr zahlreich in die Niederlande zogen, stellte natürlich eine gewisse Gefahr für die privilegierte wirtschaftliche Stellung der sephardischen Juden von Amsterdam dar, und so wurden sie mit einigen Ausnahmen sehr schnell abgewiesen. Sie liessen sich daraufhin in den ländlichen Provinzen des Landes nieder, wo sie sich ihren Lebensunterhalt als Hausierer und fliegende Strassenhändler verdienten. So kam es, dass sich im ganzen Land unzählige kleine Gemeinden bildeten. Mit der Zeit gelangten viele dieser Juden, in der Regel diejenigen deutscher Herkunft, zu einigem Wohlstand, insbesondere im Einzelhandel mit Diamanten und in der Industrie des Diamantenschleifens, für die sie bis 1870 das Monopol besassen. Insgesamt verkörperten jedoch die Aschkenasim das jüdische Proletariat und bemühten sich in keiner Weise, sich in den holländischen Alltag zu integrieren. Untereinander sprachen sie weiterhin Jiddisch. Aufgrund der bemerkenswert guten Druckereien von Amsterdam wurden dort zahlreiche religiöse und rabbinische Werke veröffentlicht. Erstaunlicherweise haben sich in der aschkenasischen Gemeinde nie irgendwelche Rabbiner hervorgetan, sie stammten alle aus dem Ausland. Dies erklärt, weshalb es keine herausragenden Werke gibt, die von aschkenasischen Rabbinern in Holland verfasst wurden. Vor der Schoah stellten die Aschkenasim mit ihren 135'000 Mitgliedern (darunter 34'000 Flüchtlinge) den grössten Teil der jüdischen Gemeinschaft Hollands dar, während die portugiesische Synagoge nur 5'000, jedoch sehr viel einflussreichere Mitglieder zählte. Heute sind alle Ausrichtungen des Judentums, wie sie in den Gemeinden rund um den Erdball bestehen, auch in den Niederlanden vertreten, von der ultraorthodoxen Synagoge bis zur kleinsten liberalen Organisation. Die meisten holländischen Juden identifizieren sich jedoch mit den traditionalistischen Gemeinden, die im Verband der israelitischen Kultusgemeinden der Niederlande zusammengeschlossen sind, dem Rabbiner RAPHAEL EVERS als geistlicher Führer vorsteht. Sie decken sämtliche jüdischen Gemeinden von Holland ab und besitzen daher einen Überblick über das jüdische Leben des Landes. Wie schätzen Sie denn die gegenwärtige Lage ein? Vor der Schoah gab es in den Niederlanden eine blühende Gemeinschaft. Ich kann zwar nicht behaupten, dass das gesamte jüdische Leben nach dem Krieg untergegangen sei, auch wenn die Gemeinschaft stark in Mitleidenschaft gezogen wurde, bestimmt nicht. Die lokalen Traditionen (Minhagim), die sehr stark im jüdischen Alltag des Einzelnen und der Gemeinde verankert waren, wurden sofort wieder aufgenommen. Ich habe Kontakt zu allen sozialen Schichten und Strömungen des niederländischen Judentums, wie Sie sich denken können, und ich kann Ihnen versichern, dass es mir manchmal schwer fällt, an allen Aktivitäten teilzunehmen, an denen meine Anwesenheit erwünscht wäre. Dies reicht von einem Familienfest in einer orthodoxen Familie über eine andere Feier in einem nichtreligiösen Umfeld bis zu einer Tagung zum 60-jährigen Bestehen Israels, an der Politiker aus ganz Europa teilnehmen, usw. Wir sind natürlich eine kleine Gemeinschaft - in Amsterdam sind nur 2'700 Mitglieder registriert -, dennoch gibt es zahlreiche private oder halbprivate Organisationen, die für alle möglichen jüdischen oder israelischen Anliegen Geld sammeln. Darüber hinaus entstehen viele Initiativen auf lokaler Ebene, wie beispielsweise für die Schaffung neuer Quartiersynagogen. Die Jugend wiederum ist recht aktiv in den verschiedenen Organisationen tätig, u.a. auch in einer sehr dynamischen Studentenverbindung, doch auf politischer Ebene betätigt sie sich eigentlich nicht. Dazu muss man sagen, dass die holländische Öffentlichkeit Israel insgesamt eher kritisch gegenübersteht und etwas entwickelt hat, was ich als „negative und selektive Sensibilität“ gegenüber dem jüdischen Staat bezeichnen würde; dessen sind sich unsere Mitglieder sehr bewusst, und sie versuchen dieser Einstellung entgegenzuwirken. Selbstverständlich gibt es auch eine israelfeindliche jüdische Bewegung, die in den Medien gerne Gehör findet, da sie von einem Überlebenden der Schoah geleitet wird, der sich nicht scheut, Gaza mit Auschwitz zu vergleichen. Mir persönlich ist allerdings nie ein junger holländischer Jude begegnet, der gegen Israel gewesen wäre. In Bezug auf die Jugend stellt unser Land keine Ausnahme dar, denn es sind die jungen Leute aus frommen Familien, die sich am stärksten im jüdischen Leben engagieren. Aus diesem Grund haben wir Jugendrabbiner eingestellt, die durch das Land reisen und Anlässe aufsuchen, die von der nicht gläubigen jüdischen Jugend veranstaltet werden (Tanzabende usw.), um den Kontakt zu diesen jungen Menschen zu suchen, ihr Interesse für das Judentum zu wecken und ihr Bewusstsein für ihre Wurzeln zu vertiefen. Glauben Sie mir, das ist eine ziemlich grosse Herausforderung. Die Zahl von 2'700 Gemeindemitgliedern scheint recht gering, wie erklären Sie sich dies? Dazu muss man wissen, dass rund 20'000 Juden in Amsterdam leben, dass es aber einfach nicht zur holländischen Mentalität gehört, Mitglied einer Gemeinde zu sein. Die Mehrheit hat keinerlei Beziehung zum jüdischen Leben, auch wenn sich einige Menschen angesichts ihres nahenden Todes eine jüdische Beerdigung wünschen. Wenn sich die Familie diesem Wunsch anschliesst, können wir sie posthum als Mitglieder aufnehmen. Wie sehen Sie die Zukunft des holländischen Judentums? Es gibt immer weniger andere Gemeinden neben derjenigen von Amsterdam, die vor der Schoah eine Blütezeit erlebten und nach dem Krieg noch irgendwie weiter bestanden, sie sind eigentlich fast im Aussterben begriffen. Viele Menschen sind aus diesen kleinen Gemeinden nach Amsterdam oder Israel gezogen oder sind verstorben. Ausserdem haben sie keine zweite oder dritte Generation herangezogen, die wirklich in der Lage wäre, die Leitung einer Gemeinde zu übernehmen, ganz zu schweigen von deren religiöser Seite. Alles, was mit den religiösen Riten in Bezug auf den Lebenszyklus zusammenhängt, ist Werk der lokalen oder herumreisenden Rabbiner. Langfristig verfügt Amsterdam aber meiner Meinung nach heute über alle Elemente, um als solide, lebendige und aktive jüdische Gemeinde bestehen zu bleiben. Gegenwärtig ist ein Wiederaufleben des Glaubens und ein allgemeines Interesse für das Judentum zu beobachten, was ja an sich recht ermutigend ist. Wie schätzen Sie das Problem des Antisemitismus in Holland ein, insbesondere angesichts der wachsenden Bedeutung der muslimischen Bevölkerung? Der Bürgermeister von Amsterdam, Job Cohen, ist Jude. Als es vor ca. zehn Jahren zu zahlreichen Spannungen zwischen Marokkanern und Juden kam, hatte er die gute Idee, die Vertreter der beiden Gemeinschaften in seine Residenz einzuladen, um eine Einigung zu erzielen und das Ganze zu entschärfen. Konkret führte dies dazu, dass es seither kaum mehr zu solchen Vorfällen gekommen ist. Dies heisst nicht, dass ich mich in ein ausschliesslich von Marokkanern bewohntes Viertel begeben kann, ohne einige Beleidigungen einstecken zu müssen, doch im Moment hat sich die Atmosphäre ziemlich entspannt. Und dennoch leiden wir unmittelbar unter dieser steigenden Islamisierung, da Themen wie die Beschneidung und das rituelle Schächten heute ernsthaft hinterfragt werden. Beim Schächten ist dies nicht allein darauf zurückzuführen, wie die Muslims ihre Tiere töten. Die Art der Holländer, die als „zivilisiert“ und daher zulässig gilt, enthält nämlich ebenfalls grausame Aspekte. So gibt es in den Niederlanden eine politische Partei, die sich ausschliesslich für den Tierschutz einsetzt. Indem sie mit dem Finger auf die Juden, die Muslims und die Forschungslabors zeigt, lenkt sie davon ab, was die anderen holländischen Metzger treiben. Sie denken, sie könnten auf diese Weise der Kritik gegenüber den sonst üblichen Schlachtmethoden aus dem Weg gehen. Was den Antisemitismus im Allgemeinen angeht, genossen wir nach dem Krieg eine 40-jährige „Schonfrist“, die zu Beginn der 80er Jahre zu Ende ging, als die antizionistischen Äusserungen eng mit antisemitischen Fragen verknüpft wurden. Heute stammen diese Äusserungen aus Kreisen „mediterraner“ Herkunft, doch es gab in Holland zu jeder Zeit latente antisemitische Strömungen und Gefühle, die heute nun wieder sichtbar werden und zu einer zusätzlichen Stimme in diesem Chor werden. Die wenigen rechtsradikalen Gruppierungen, die existieren, sind nicht sehr aktiv. Welcher Art sind Ihre Beziehungen zu den Verantwortlichen der anderen in Holland vertretenen Religionen? Bilden die Christen eine gemeinsame Front mit den Juden gegen die Muslims? Wir pflegen Kontakte zu den Vertretern aller anderen Religionen, auch wenn es keine gemeinsamen Aktivitäten oder eine geschlossene Front zusammen mit den Kirchen zur Bekämpfung der Muslims gibt. Wenn ich in bestimmte Regionen reise, in denen die christliche Bevölkerung sehr fromm ist, höre ich immer wieder Islam feindliche Bemerkungen. Bei dieser Gelegenheit rufe ich in Erinnerung, dass unsere drei Religionen ein gemeinsames Ziel verfolgen, nämlich den Kampf gegen die Verweltlichung und die extreme Nachlässigkeit in diesem Land. Ich versuche den Verantwortlichen der anderen Religionen zu erklären, dass die Verweltlichung der wahre Feind des echten Glaubens sei, sowohl auf individueller als auch auf politischer Ebene. Das Interesse für alles, was mit Religion zu tun hat, schwindet immer mehr, und wir verlieren einen grossen Teil unserer jungen Leute durch Assimilierung. Die heute in Holland verbreiteten Sitten bewirken, dass die Menschen in erster Linie an ihre berufliche Karriere denken und erst mit über 35 Jahren eine Familie gründen. Viele unserer Leute übernehmen diese Lebensanschauung, und dies wirkt sich direkt auf das Leben der Gemeinde aus. Sie sind nicht nur Rabbiner, sondern auch Psychologe. Nützen Ihnen diese Kenntnisse bei der Arbeit als Rabbiner? Ja, es hilft mir, besser zu verstehen, besser zuzuhören und abweichende Meinungen eher zu akzeptieren. In der jüdischen Gesellschaft gibt es - mit Ausnahme der orthodoxen Kreise, wo das gesamte Denken und die Erziehung in eine einzige Richtung gehen – unzählige Splittergruppen, Fraktionen und Strömungen. Ausserdem setzt sich unsere Gemeinde grösstenteils aus Überlebenden der Schoah, aus der zweiten und z. T. sogar aus der dritten Generation zusammen und leidet daher unter starken Traumata. Die erste Generation hat den Horror persönlich erlebt, doch die zweite und die dritte Generation nehmen die Schoah über ihre Vorstellungskraft und ihre Phantasie wahr. Diese seelischen Verletzungen wirken wie ein zweischneidiges Schwert: einige haben als Juden dermassen gelitten, dass sie sich um jeden Preis vom Judentum lossagen wollen, während andere genau umgekehrt reagieren. Daraus entsteht eine sehr diffuse und mehrdeutige Mentalität, denn es gibt viele, die gerne als Juden leben möchten, aber nicht wollen, dass dies von aussen sichtbar und öffentlich wird. Lassen Sie mich ein Beispiel anführen. Als die Vertreter von Chabad begannen, auf einem öffentlichen Platz in Amsterdam die Chanukkah-Kerzen anzuzünden, wurden zwei verschiedene Stimmen laut: „Dies ist nicht nötig und wird den Antisemitismus anfachen, wo man doch schlafende Hunde auf keinen Fall wecken soll“, oder aber: „Es ist wunderbar, dies ungestraft, angstfrei und offen tun zu dürfen, bravo“. Heute gehört das öffentliche Anzünden dieser Kerzen zu den offiziellen Anlässen der Stadt Amsterdam. Zudem sind die zweite und dritte Generation, welche die Qual der Anziehung und der Ablehnung des Judentums durchleben, sehr stolz auf Israel, da sie diesen Staat als Symbol für jüdische Kraft und natürlich als Quelle der Sicherheit wahrnehmen. Auch wenn die Menschen deswegen nicht in Scharen nach Israel auswandern. Glauben Sie, dass das Trauma der Schoah der Grund dafür ist, dass so wenige holländische Juden der Gemeinde angehören? Ganz ohne Zweifel, ich würde sogar noch weiter gehen. Zahlreiche Menschen, die keinerlei Bezug zum jüdischen Leben haben, möchten mit folgender Begründung nach ihrem Tod eingeäschert werden: „Unsere Eltern, unsere Grosseltern und viele unserer Angehörigen sind in Rauch aufgegangen, ohne eine Bestattung zu erfahren, daher wollen wir auch keine“. |