Esnoga | |
Von Roland S. Süssmann | |
Sobald man in jüdischen Kreisen erwähnt, dass man in Amsterdam war, kommt unweigerlich als Erstes die Frage: „Warst Du in der portugiesischen Synagoge?“. Ein Besuch in Amsterdam ist zweifellos immer unvollständig, wenn man darauf verzichtet, dieses Zeugnis der glorreichen Vergangenheit einer vertriebenen und sehr schnell wieder erfolgreichen Gemeinschaft zu besichtigen. Es handelt sich um die ESNOGA, von den Gläubigen auch liebevoll „Snoga“ genannt, zu der zwei Synagogen, die Bibliothek und die Sammlung alter Kultgegenstände gehört. Trotz der Vertreibung der Juden aus Spanien und Portugal leben viele von ihnen als Marranos (heimliche Juden) weiterhin auf der iberischen Halbinsel. Die neuen unabhängigen Provinzen der Niederlande boten diesen Menschen die einzigartige Chance, wieder zu ihrer Identität zu stehen und ihren Glauben offen praktizieren zu können. Im Jahr 1593 liessen sich die ersten Marranen in Amsterdam nieder, nachdem man sie in Middelburg und in Haarlem abgelehnt hatte. Die Geschichte dieser Gemeinschaft ist viel zu lang und zu komplex, als dass ihr ein kurzer Artikel gerecht werden könnte, doch es soll an dieser Stelle daran erinnert werden, dass die Juden, die Kontakte zu vielen Ländern auf der ganzen Welt beibehalten hatten, zahlreiche Sprachen beherrschten und ausserdem fleissig und kompetent waren, eine herausragende Rolle beim wirtschaftlichen Aufschwung der Niederlande spielten, und zwar von dem Zeitpunkt an, da sie in diesem Land ansässig wurden. Man braucht nur daran zu erinnern, dass sie 1621 an der Gründung der berühmten „Dutch West Indies Company“ beteiligt waren, der mehrere Juden als Mitglieder des Verwaltungsrats angehörten. Die Liste der jüdischen Persönlichkeiten portugiesischer Herkunft, welche die Geschichte der Niederlande in allen Bereichen geprägt haben, ist sehr lang und beeindruckend. Obwohl die Mitglieder der portugiesischen Gemeinde in Holland eine wichtige Rolle spielten und sich sowohl in wirtschaftlichen als auch in kulturellen und akademischen Belangen mit viel Herzblut engagierten, waren sie sehr gut in die Gesellschaft integriert, ohne sich jedoch vollständig zu assimilieren. Wie alle anderen holländischen Juden litten die Juden aus Portugal unter dem Horror der Schoah, der ihre Gemeinschaft sozusagen auslöschte. Vor dem Krieg umfasste die Gemeinde 5’000, nach dem Krieg nur noch knapp 500 Mitglieder. Wir wollten die Situation der heutigen jüdischen Gemeinschaft in Amsterdam besser kennen lernen und haben dazu mit JACQUES SENIOR CORONEL gesprochen, dem Präsidenten des Rats der Parnassim; er stammt von einer der 200 Familien ab, die zu Beginn des 17. Jahrhunderts aus Portugal eingewandert sind. Können Sie uns in wenigen Worten Ihre Gemeinde im Jahr 2008 beschreiben? Zunächst möchte ich daran erinnern, dass wir sofort nach der Niederlassung unserer Vorfahren in diesem Land zur wohlhabendsten Gemeinde geworden sind. Grund dafür war unsere Tätigkeit in Handel und Wirtschaft sowie die Glaubensfreiheit, die man uns im Gegensatz zu anderen Religionen gewährte, was natürlich ab und zu mit einigen Spannungen verbunden war. Die Bedeutung unserer Gemeinde wird recht offensichtlich, wenn man bedenkt, dass die Einweihungsfeierlichkeiten für unsere Synagoge im Jahr 1675 eine Woche lang dauerten und dass der König an der offiziellen Eröffnungszeremonie anwesend war. Wir hielten uns für so wichtig, dass es uns eine der (ungeschriebenen) Regeln der Gemeinschaft verbot, mit den Aschkenasim zu sprechen. Dazu gibt es eine kleine Anekdote zu berichten: Viele der aus Portugal eingewanderten Juden waren Marranen, die, um unerkannt zu bleiben, auf die Beschneidung verzichteten und daher nicht mehr wussten, wie man sie eigentlich durchführt. Die erste Beschneidung, die in Amsterdam stattfand, war diejenige des Sohnes eines unserer Mitglieder, und sie musste ausgerechnet von einem aschkenasischen Mohel aus einem osteuropäischen Land durchgeführt werden… Zu Beginn besassen die Aschkenasim keinen eigenen Friedhof, sie begruben ihre Toten auf unserem Friedhof in Ouderkerk aan de Amstel. Da uns dies ziemlich gegen den Strich ging, kauften wir ihnen ein Grundstück in einiger Entfernung von unserem. Heute ist dies der grosse jüdische Friedhof von Amsterdam. Wir betrachten es als ein grosses Wunder für unsere Gemeinschaft, dass unser gesamter Besitz – Synagoge, Bücher, Gegenstände aus Silber, Textilien usw. – die Schoah in ausgezeichnetem Zustand überlebt hat. Doch kehren wir zur Gegenwart zurück. Es stimmt, unsere Gemeinde ist sehr klein, doch dies ist auch darauf zurückzuführen, dass wir gemäss unseren Statuten keine Aschkenasim als Mitglieder akzeptieren dürfen. Da die jüdische Gemeinschaft der Niederlande insgesamt sehr klein ist, müssen wir uns nach Kräften für Zusammenhalt und Kooperation einsetzen. Wir werden diese Regel daher wahrscheinlich ändern. Die Gemeinde, die heute 250 Familien umfasst, ist wahrlich nicht riesig, doch Ihr kulturelles Erbe ist enorm. Wie pflegen Sie dieses Erbe? Die Pflege unseres Kulturguts ist tatsächlich sehr aufwändig. Bis heute haben wir nie etwas verkauft, obwohl sich der Wert unserer Kultgegenstände auf über 100 Millionen Euro beläuft. Unsere Tradition verbietet es uns jedoch, irgendetwas zu veräussern, da uns diese wunderbaren Gegenstände zur Verbesserung und Verschönerung unserer Gottesdienste anvertraut wurden , und nicht für den Verkauf an Museen oder an Sammler gedacht sind. Wir mussten aber einen Weg finden, um die Pflege und die Restaurierung dieser Schätze zu finanzieren. In Holland herrscht eine klare Trennung zwischen Kirche und Staat, wobei es letzterem von Gesetzes wegen verboten ist, religiöse Institutionen zu finanzieren. Daher haben wir eine kulturelle Stiftung für die Wahrung von Kulturgütern der portugiesischen Juden in Holland gegründet, der wir unseren gesamten Besitz übertragen haben. Auf diese Weise konnten wir die so dringend benötigte staatliche Unterstützung anfordern. Wir werden umfassende Renovierungsarbeiten unserer Räumlichkeiten durchführen, um unsere Institution in eine Art Museum zu verwandeln, mit Ausnahme natürlich der Synagoge, die in ihrer Funktion weiter bestehen wird. So werden wir unseren Erwartungen entsprechend jährlich zwischen 40'000 und 100'000 Besucher empfangen können. Wir veranstalten schon heute regelmässig klassische Konzerte in der grossen Esnoga, doch die Zuhörer können nicht im zentralen Teil der Synagoge zwischen dem Hechal (Bundeslade) und der Tewah (Lesepult für die Torah) Platz nehmen. Die Synagoge ist riesig, ist jedoch nicht an das Stromnetz angeschlossen. Die gesamte Beleuchtung erfolgt noch immer mit Kerzen, und es heisst, es seien 613 Kerzen nötig, um die ganze Synagoge zu erhellen. Eine Heizung gibt es natürlich auch nicht. Kann denn die Synagoge für alle Gottesdienste verwendet werden? Wir besitzen zwei Synagogen, die grosse und eine kleinere, in der die täglichen Gottesdienste stattfinden. Seit 1995 verfügen wir auch über eine neue Esnoga in Amstelveen, da in dieser Vorortsregion von Amsterdam die meisten unserer Mitglieder leben. Diese Synagoge wird rege besucht, da drei Mal täglich Gottesdienste stattfinden und sie am Freitagabend und am Schabbatmorgen von 60 bis 100 Personen, die meisten von ihnen Israelis, aufgesucht wird. Auch dort ist der Ritus grundsätzlich sephardisch. Die Synagoge ist bereits zu klein und wir möchten sie vergrössern oder eine neue errichten. Die Ironie des Schicksals will es, dass wir hier eine grosse Synagoge mit wenigen Gläubigen haben und die kleine Synagoge in Amstelveen immer überfüllt ist… Unsere grosse Esnoga in Amsterdam ist im Winter praktisch geschlossen, da es teuer und schwierig ist, sie zu heizen. Im Winter finden daher alle Gottesdienste in unserem kleinen Gebetshaus statt. Im Sommer halten wir an Schabbat und den Feiertagen den Morgengottesdienst in der grossen Synagoge ab, wo auch alle Hochzeiten gefeiert werden, und zwar das ganze Jahr über. Sie haben den Ritus angesprochen. Haben die portugiesischen Sephardim in den Niederlanden einen eigenen Ritus? Eigentlich nicht, auch wenn wir an jedem Schabbat ein Gebet auf Portugiesisch für das Königshaus und die Bürgermeister von Amsterdam und Amstelveen sprechen. Dafür weist die Aussprache der hebräischen Sprache einige Besonderheiten auf, wie z.B. der Buchstabe „Ayin”, der in der Regel stumm ist und den wir mit einer Art „n“ aussprechen, so dass das Abendgebet bei uns nicht „Arbit“, sondern „Narbit“ heisst, mit einem speziellen Klang auf dem „n“. Sind die Esnoga und die Wahrung Ihrer Traditionen den jungen Leuten in der Gemeinde ein Anliegen? Unsere Jugendbewegung funktioniert recht gut. Ich stelle jedoch fest, dass die aktuelle Jugend viel frommer ist und sich stärker für unser Gemeindeleben engagiert als wir in ihrem Alter, was mich mit Zuversicht erfüllt. So haben wir beispielsweise keinen offiziellen Chasan (Kantor) mit vollem Pensum eingestellt, da es uns nie an jungen Leuten mangelt, die den Gottesdienst leiten und die Torah gemäss unseren Traditionen lesen können. Wir haben einen Rabbiner, Raw Toledano, der als unser „Chacham“ fungiert und zwar sehr orthodox, aber auch sehr offen ist. Darüber hinaus besuchen die meisten Kinder die jüdische Schule. Wie sieht Ihre Zukunftsvision für Ihre Gemeinde aus? Ich bin sehr optimistisch, denn ich habe mein ganzes Leben lang immer gehört „es bleiben nur ein paar alte portugiesische Familien übrig, wir werden nicht überleben, unsere Traditionen werden verschwinden“ und andere pessimistische Unkenrufe derselben Art. Die Realität sieht ganz anders aus: Unsere jungen Leute sind aktiv, unser Rabbiner versucht das Interesse einiger der 7'000 Israelis sephardischer Herkunft zu wecken, die in Holland leben, wir werden unsere Gebäude und Grundstücke in bedeutendem Masse umbauen, unsere Tore allen Juden öffnen, die unserer Gemeinde als Mitglieder beitreten möchten, und sobald wir schliesslich die entsprechenden finanziellen Mittel aufgetrieben haben, werden wir in Amstelveen eine neue Synagoge errichten. Gegenwärtig gehören ca. 250 Familien zur Gemeinde, und ich denke, es ist realistisch, dass sich diese Zahl in den kommenden zehn Jahren verdoppeln kann. Ich möchte Ihnen ein Beispiel für eine bedeutende Entwicklung geben, die beweist, dass wir nicht nur in der Theorie zuversichtlich sind, sondern auch durch unsere Taten. 1980 beschlossen mein Vater s.A. und der Gemeindevorstand, die wichtigsten Manuskripte in unserem Besitz der Bibliothek der Hebrew University in Jerusalem auszuleihen, und zwar aus zwei Gründen. Erstens fühlten sie sich als erste Generation nach dem Krieg gar nicht sicher hier und dachten, es sei gescheiter, diese Kunstschätze in Israel in Gewahrsam zu geben, wo sie zu diversen Forschungszwecken verwendet würden, während sie hier niemand eines Blickes würdigte. Und zweitens fehlten uns ganz einfach die finanziellen Mittel, sie instand zu halten. Vor zehn Jahren haben wir sie wieder nach Holland geholt und mit der Unterstützung der niederländischen Regierung restauriert. Unsere Bibliothek Ets Haim ist heute schöner denn je. Ausserdem konnten wir im Rahmen unserer Gottesdienste den Chor „Santo Servicio“ wieder auferstehen lassen, zwar nicht in derselben Pracht wie vor dem Krieg, aber er dient doch der musikalischen Untermalung unserer Gottesdienste. |