Die Narbe Vermeiden
Von Roland Süssmann
Sagt Ihnen die Abkürzung NOTES etwas? Es handelt sich dabei um eine neue Operationstechnik namens „Natural Orifice Transluminal Endoscopic Surgery” (Operation durch natürliche Körperöffnungen), die eine wahre Revolution im Bereich der Chirurgie darstellt. Nur wenige haben schon davon gehört, noch weniger haben sie am eigenen Leib erfahren und noch viel weniger Chirurgen können diese Art von Eingriff durchführen. Im beeindruckenden Komplex des Universitätsspitals Hadassah Ein Karem in Jerusalem haben wir Dr. YOAV MINTZ getroffen, einen bekannten Fachmann für minimal-invasive Chirurgie und einen der ersten Anwender der Technik NOTES, die erst seit kurzem in diesem Krankenhaus zur Verfügung steht, nachdem sie im Juli 2008 vom israelischen Gesundheitsministerium genehmigt wurde.

Bevor wir näher auf diese neue Operationstechnik eingehen, möchten wir Sie etwas besser kennen lernen. Erzählen Sie doch etwas über sich und über Ihre bisherigen medizinischen und chirurgischen Erfahrungen.

Meine Familie lebt seit zehn Generationen in Jerusalem, meine drei Kinder gehören bereits der elften Generation an. Mein Vater war Diplomat und deshalb sind wir immer viel gereist. Ich habe in Äthiopien und Uruguay gewohnt, absolvierte aber mein gesamtes Medizinstudium in Jerusalem am Hadassah, wo ich auch meine Ausbildung zum Facharzt machte. Ich habe mich am Hadassah auf Chirurgie spezialisiert und verbrachte später im Rahmen eines Hadassah-Programms ein Jahr am Krankenhaus Mount Sinai in New York. Danach kam ich nach Jerusalem zurück und führte hier zahlreiche operative Eingriffe mit minimal-invasiver Chirurgie durch. Da mich dieser Bereich faszinierte, wollte ich noch vertrauter damit werden, noch mehr in die Tiefe gehen und neue Möglichkeiten kennen lernen. Deswegen verbrachte ich zwei Jahre in UCSD (University of California, San Diego) und arbeitete dort mit international führenden Spezialisten in der robotergestützten und der minimal-invasiven Chirurgie zusammen, unter anderem mit Dr. Mark Adams Talamini, dem Präsidenten von SAGES (Society of American Gastrointestinal and Endoscopic Surgeons), dem Verband, der alle Richtlinien betreffend die Magen-Darm-Chirurgie festlegt. Gleichzeitig war ich an der Seite von Dr. Santiago Horgan tätig, dem Präsidenten von MIRA (Minimally Invasive Surgery Association), dem internationalen Verband für robotergestützte Chirurgie. So durfte ich also zwei Jahre lang diesen beiden internationalen Koryphäen in ihrem jeweiligen Fachgebiet über die Schulter schauen. Während meiner Zeit in den Staaten übertrugen sie mir die Verantwortung und die Herausforderung, das System NOTES zu entwickeln.

Worum geht es dabei genau?

Bevor ich näher auf Ihre Frage eingehe, möchte ich ein paar Worte zur Laparoskopie oder minimal-invasiven Chirurgie sagen. Nehmen wir an, die Gallenblase muss entfernt werden. Anstatt die ganze Bauchhöhle zu öffnen, nehmen wir nur ein paar kleine Schnitte vor und führen durch diese die notwendigen Instrumente zur Durchführung der Operation ein. Dadurch ergeben sich weniger Schmerzen, weniger Komplikationen (z.B. Infektionen der Wunde, Eingeweidebrüche, Hämatome usw.), der Patient bleibt mobil und kann einige Stunden nach dem Eingriff aufstehen und rasch nach Hause zurückkehren, in der Regel bereits am Tag nach der Operation. Es kommt auch zu weniger Lungenkomplikationen, die Leute können tief einatmen, ohne Magenschmerzen zu verspüren, neben einigen weiteren Vorteilen. Als wir vor ungefähr 25 Jahren von der offenen Chirurgie zur Laparoskopie wechselten, kam dies einer wahren Revolution gleich. Dies ist auch heute noch gültig.
Gegenwärtig stehen wir vor einem neuen Durchbruch auf diesem Gebiet, die neue Technik heisst NOTES (Natural Orifice Transluminal Endoscopic Surgery). Bekanntlich ist der Zugang zur Bauchhöhle für zahlreiche chirurgische Eingriffe oder auch eine Diagnose unerlässlich. Je nach Bedarf geschieht dies mit Hilfe der Endoskopie oder der Laparoskopie. Nun ist NOTES eine Technik, bei der wir mit einem Instrument durch den Mund in den Bauch eindringen, dort über einen kleinen Schnitt eine Öffnung im Magen hin schaffen und beispielsweise die Gallenblase operativ entfernen. Danach holen wir die Gallenblase durch den Mund heraus und schliessen den Schnitt im Magen. Das alles ohne Narben, ohne Schmerzen. Bei den Frauen besitzen wir eine andere Möglichkeit, über eine natürliche Öffnung in den Körper zu gelangen, indem wir die Vagina verwenden, was noch unproblematischer ist als der Mund. Der Schnitt, den wir im Magen anbringen, muss nämlich mit Hilfe eines Endoskops genäht werden, während wir in der Vagina nur ein kleines Loch anbringen, das wir leicht wieder schliessen können. Zurzeit erfolgen diese Operationen unter Vollnarkose, doch wir hoffen, dass wir in ein paar Jahren nur noch eine Teilanästhesie durchzuführen brauchen.

Welches sind die Risiken und Nachteile dieser Methode?

Wie bei allen Verfahren, die in gewisser Weise experimentell erfolgen, sind uns noch nicht alle Risiken bekannt und können nicht immer beurteilt werden. Wir wissen jedoch bereits, dass wir alle Gefahren einer Komplikation ausschalten, die in der offenen Chirurgie und der Laparoskopie existieren und die ich bereits am Rand erwähnte. Ein Risiko besteht sicher darin, einen Schnitt im Magen anzubringen, der dann schlecht genäht und dadurch durchlässig wird. Aus diesem Grund arbeiten wir beständig an der Perfektionierung der Instrumente für das Nähen des Magenschnitts.

Sie sprechen von natürlichen Öffnungen. Wäre es möglich, zur Umgehung des Magens bei den Männern den Anus zu benutzen?

Das wäre tatsächlich eine Möglichkeit, doch im Anus befinden sich Bakterien und er kann nur sehr schwer keimfrei gemacht werden. Wir ziehen Eingriffe über den Anus in Betracht, was aber aus chirurgischer Sicht noch nicht ganz ausgereift ist. In einem zweiten Schritt werden wir uns mit dem Problem der vollständigen Sterilisierung des Anus befassen.

Welche Arten von Operationen können Sie heute mit Hilfe dieses Systems durchführen?

An dieser Stelle möchte ich die beiden Eingriffe erwähnen, die wir hier am Hadassah bereits durchführen können: die Operation der Gallenblase, die in den USA jährlich eine Million Patienten betrifft, und die Blinddarmoperation, die ebenfalls sehr oft durchgeführt wird. Andere Eingriffe befinden sich zurzeit noch im experimentellen Stadium. Unsere Patienten haben natürlich die Wahl und müssen nach der genauen Erläuterung der Möglichkeiten eine Einwilligung unterschreiben. Dieser Eingriff kann sowieso nicht in Notfällen unternommen werden.

Gibt es irgendwo andere Kliniken, an denen NOTES bereits eingesetzt wird?

Nur ganz wenige. In den USA sind es vier Krankenhäuser, darunter gehört eines natürlich zur UCSD, an dem ich immer noch tätig bin, zwei befinden sich in New York, das Columbia Hospital und das New York Presbyterian Hospital, dann ist da auch das John Hopkins Hospital in Baltimore. In Südamerika bestehen auch einige Zentren, doch die Zusammenarbeit erweist sich als recht schwierig und wir wissen nicht genau, wie sie vorgehen; ausserdem existiert ein Zentrum in Indien, dessen Kontrollbericht uns auch nicht vorliegt, und schliesslich liegen einige Zentren auch in Europa, unter anderem in Strassburg. Alle diese Krankenhäuser haben bis heute einen oder zwei derartige Eingriffe durchgeführt. Mit der UCSD haben wir die bisher grösste Zahl von Operationen mit NOTES verwirklicht, nämlich insgesamt 23, so dass wir im amerikanischen oder europäischen Vergleich am meisten Erfahrung besitzen. Gegenwärtig beherrschen weltweit etwa zehn Chirurgen diese Form der Operation.

Diese moderne Operationstechnik verlangt ganz offensichtlich nach neuen Instrumenten, was einem Zweig der Industrie für chirurgisches Zubehör neue Wege eröffnet. Wie und wo werden diese Geräte entwickelt?

Es werden tatsächlich enorme Summen in die Forschung, die Entwicklung und die Herstellung neuer Instrumente gesteckt. Jeder glaubt, dass NOTES jetzt die Revolution darstellt und versucht Patente für die leistungsfähigsten Geräte zu erhalten. Alle Unternehmen, die Instrumente für Laparoskopien, Endoskopien oder anderes Zubehör für die Magen-Darm-Chirurgie herstellen, verfügen über die entsprechenden Mittel für die Entwicklung. Dies trifft auch auf Ethicon Endo-Surgery Inc. zu, eine Tochtergesellschaft von Johnson and Johnson, die sozusagen das Monopol für alle in der Laparoskopie verwendeten Instrumente, für Tyco oder für Olympus besitzt. Einige dieser Gesellschaften arbeiten direkt mit uns zusammen, wir erklären ihnen unsere Bedürfnisse und sie nutzen unsere Infrastruktur für praktische Tests. Es gibt natürlich auch israelische Unternehmen, mit denen wir regelmässig kooperieren und die ebenfalls in der Forschung tätig sind.

Wird das System NOTES bereits an den medizinischen Hochschulen in Israel gelehrt?

Nein, ich unterrichte diese Methode an der UCSD, aber nicht für Medizinstudenten. Diese Kurse sind ausschliesslich für Chirurgen bestimmt, die viel Erfahrung in Laparoskopie besitzen, denn es handelt sich um eine Ausrichtung der Chirurgie, für die sehr viel Know-how nötig ist. In Israel bin ich zusammen mit meinem Team der einzige, der zurzeit derartige Eingriffe durchführt. Ich hatte übrigens enorme Schwierigkeiten, die Genehmigung vom israelischen Gesundheitsministerium zu erhalten. In San Diego, wo es sich ebenfalls um eine unglaubliche Neuerung handelte, habe ich sie bekommen. Ich war der Ansicht, mit Hilfe der amerikanischen Bewilligung sei die Sache hier so gut wie geritzt, doch dies war nicht der Fall. Ich brauchte drei Monate, um das Krankenhaus, und sechs weitere Monate, um das Ministerium zu überzeugen.

Das System NOTES wurde von Ihnen persönlich entwickelt. Wie kamen Sie auf diese Idee?

Der erste, der an diese Lösung gedacht hatte, war Anthony Kalu vom John Hopkins im Jahr 2004. Als ich 2005 an der UCSD eintraf, sagte mir Dr. Talamini, ich müsse prüfen, ob wir diesen Ansatz der transgastrischen Chirurgie entwickeln könnten. Er stellte mir alles zur Verfügung: Labor, Geräte, Prototypen der Instrumente, Operationssäle usw., und innerhalb eines Jahres hatten wir die Technik soweit. Da ich über alle notwendigen Mittel, über die entsprechende Zeit und die Ausrüstung verfügte, konnte ich sehr schnell arbeiten. Mich hat das Thema auch völlig fasziniert. Dies alles führte dazu, dass ich Ende 2005 meine Forschung abgeschlossen hatte und viel weiter gekommen war als das John Hopkins. 2007 haben wir unsere erste Operation am Patienten durchgeführt.

Wie haben Sie ihn dazu gebracht, eine ganz neue Form der Chirurgie zu akzeptieren?

Nach zwei Jahren in den Staaten kehrte ich mit meiner Familie nach Israel zurück. Parallel zu den Bewilligungen, die wir in San Diego für NOTES erwirkt hatten, besassen wir auch welche für die Universität in Buenos Aires. Ich reiste also nach Argentinien, wo ich die ersten vier Eingriffe realisierte. Dort brauchte ich die Patienten aber nicht erst zu überzeugen, das hatten die argentinischen Ärzte bereits erledigt. In San Diego war unser zweiter Fall eine Dame, die eigentlich als Sekretärin der Abteilung für Chirurgie der UCSD arbeitete und mit allen näheren Umständen des Eingriffs bestens vertraut war. Sie hatte aber selbst danach verlangt, vor allem um eine Narbe zu vermeiden. Sie wusste, dass sie sich in den Händen der besten Chirurgen befinden würde. Der allererste Patient war ein Herr, der ziemlich stolz auf diesen Umstand war. Ein amerikanischer Fernsehsender drehte auch eine kleine Reportage über ihn.

Je öfter Sie NOTES anwenden, desto mehr Probleme und neue positive Aspekte werden Ihnen begegnen. Können Sie uns einige davon nennen?

Wir haben die Bedeutung des kosmetischen Aspekts dieser Operation entdeckt. Die Leute wollen keine Narben mehr und wollen natürlich auch so wenig leiden wie möglich. Wir waren der Überzeugung, ein Patient wolle in erster Linie seine Krankheit loswerden, der Faktor Ästhetik sei zweitrangig. Doch dies trifft überhaupt nicht zu. Aufgrund der verschiedenen oben erwähnten Vorteile stellten wir fest, dass die Leute bereit sind, das Risiko der Neuheit auf sich zu nehmen. Ausserdem traten bis heute keine postoperativen Komplikationen mit schwerwiegenden Folgen auf, die Schmerzen beim Aufwachen hielten sich ebenfalls in Grenzen. Wichtig ist auch die Tatsache, dass die Patienten sehr schnell nach Hause zurückkehren können, d.h. dass sie rasch wieder arbeiten gehen, kürzere Zeit im Spital bettlägerig sind, kurz, dass unser System eine ganze Palette von wirtschaftlichen Vorteilen bietet. Bis heute haben wir keine zusätzlichen negativen Aspekte entdeckt, doch darüber wissen wir in einem Jahr mehr, wenn wir über mehr Erfahrung und Distanz verfügen. Ich bin mir der Tatsache bewusst, dass wir zunächst noch beweisen müssen, um wie viel vorteilhafter als die Laparoskopie NOTES für den Patienten wirklich ist. In Bezug auf die Kosten sind sich beide Operationsformen ebenbürtig.

Israel ist in vielen wissenschaftlichen Bereichen weltweit führend. Trifft dies auch auf Ihr Fachgebiet zu?

Wir bieten hier eine Reihe von Spezialisierungen an, die woanders gar nicht erworben werden können, wie z.B. NOTES. Für die Laparoskopie besitzen wir in Israel ausgezeichnete Chirurgen und werden demnächst am Hadassah ein Stipendium für israelische Chirurgen, eventuell auch für ausländische Ärzte einrichten. Für Israelis ist dies von grosser Bedeutung, denn es ist immer kompliziert, die ganze Familie mitreisen zu lassen, die Kinder für ein Jahr aus der Schule zu nehmen usw. Bis heute befanden sich die besten Fachleute für minimal-invasive Chirurgie in den USA, doch ab sofort können wir auch hier operieren.
Ich bin auch auf zwei weiteren Gebieten beruflich aktiv, von denen das wichtigste die robotergestützte Chirurgie ist. Dabei handelt es sich um eine Laparoskopie, bei der aber nicht die Hände des Chirurgen direkt am Patienten operieren, sondern Instrumente, die von einer Computerkonsole mit Hilfe eines Schalthebels aus bedient werden. Der Chirurg verfolgt dabei den Eingriff auf einem Kontrollbildschirm. Dies ermöglicht eine präzisere Chirurgie, denn der Computer und die Arme des Roboters können Bewegungen viel subtiler ausführen als die menschliche Hand, was man sehr gut anhand eines robotisierten Fabrikationsfliessbandes beobachten kann. Die Roboter wurden in den USA und in Europa entwickelt, doch in Israel existierte diese Form der Roboterchirurgie bislang nicht. Unser erster Roboter ist unterwegs und sollte in zwei Monaten einsatzbereit sein, so dass wir die radikale Prostatektomie, bestimmte Operationen an Darm, Leber usw. werden durchführen können. Anfangs werde ich in Israel allein dazu in der Lage sein, später werde ich natürlich Leute ausbilden müssen.
Mein zweites Spezialgebiet ist eine Operation über den Bauchnabel (Single Trocar Surgery). Es wird dabei dieselbe Technik verwendet wie bei NOTES, doch statt über den Mund oder die Vagina in den Körper einzudringen, setze ich einen einzigen Schnitt am Bauchnabel an (im Gegensatz zur Laparoskopie, die vier Schnitte erfordert), wo ich ein Endoskop einführe und die Gallenblase oder den Blinddarm herausnehme. Auch bei dieser Methode gibt es keine sichtbaren Narben.
Ich möchte mit dem Hinweis abschliessen, dass unsere Fortschritte langsam vonstatten gehen und wir sehr verantwortungsbewusst handeln. Mir steht hier zum Glück ein Labor mit einer hochmodernen chirurgischen Ausrüstung zur Verfügung, in dem ich Versuche an Tieren durchführen kann. Unsere Ausstattung ermöglicht uns praktisch alle existierenden Operationen, einschliesslich Transplantationen. Im universitären Teil des Hadassah besitzen wir einen grossen Bauernhof mit Schweinen, Ziegen, Mäusen, Schimpansen und anderen Tieren. Unsere Versuche sind aber strengen Vorschriften unterworfen, wie ich betonen möchte, den Tieren wird möglichst jedes Leid erspart. Im Rahmen unseres Operationslabors erteilen wir auch Unterricht für die Laparoskopie, und zwar sowohl für Ärzte aus dem ganzen Land, aber auch aus den Zonen unter palästinensischer Kontrolle. Man muss sich aber klar machen, dass ich rund hundert Schweine (deren Magenanatomie derjenigen des Menschen ähnelt) und ca. fünfzehn Leichen operieren musste, bevor ich meinen ersten Eingriff am lebenden Menschen durchführen konnte.
Zum Schluss noch dies: Es besteht kein Zweifel daran, dass die Revolution der Chirurgie von morgen bereits im Gange ist und dass das Hadassah eines der weltweit bedeutendsten Zentren für die Technik NOTES werden wird.