Die Gespenster Von Gestern | |
Von Professor Robert Solomon Wistrich* | |
Im Jahr 1923 erreichte die jüdische Bevölkerung der Stadt Wien den absoluten Höchstwert von 201’513 Einwohnern (10,8 % der Gesamteinwohnerzahl). Zu jener Zeit galt Wien nach Warschau und Budapest als die drittgrösste jüdische Gemeinschaft Europas. Wien, bis 1918 die Hauptstadt des Vielvölkerstaats der Habsburger, lag am Schnittpunkt zwischen Ost und West; die jüdischen Einwohner der Stadt verkörperten eine einzigartige Mischung aus alteingesessenen deutschsprachigen jüdischen Familien und aus Einwanderern jüngeren Datums aus Ungarn, Böhmen, Morawien, Bukowina und dem polnischen Galizien. Diese Menschen prägten das kulturelle und wirtschaftliche Leben der Donaumetropole bereits in beeindruckendem Ausmass. So waren sie beispielsweise überdurchschnittlich gut im Handel, im Bankwesen und im Unternehmertum vertreten. Auch in den liberalen Berufen waren sehr viele von ihnen tätig. Die meisten Anwälte und Ärzte Wiens waren Juden, und diese Situation sollte bis zum Anschluss andauern, d.h. bis zur Annektierung Österreichs durch das Dritte Reich Hitlers im März 1938. Die Juden stellten nicht nur eine treibende Kraft für die kapitalistische Modernisierung der österreichischen Wirtschaft dar, sondern gehörten auch zu den wichtigsten Führungskräften und Organisatoren, zu den bekanntesten Theoretikern und effizientesten Förderern der sozialdemokratischen Partei Österreichs. Begründer dieser Bewegung war Dr. Victor Adler, ein gut assimilierter konvertierter Jude, der in der Zwischenkriegszeit (bis zum Anschluss) vom brillanten österreichischen Marxisten Dr. Otto Bauer abgelöst wurde, einem nicht getauften Juden. Von 1970 bis 1983 befand sich der Ballhausplatz in Wien, die Residenz des österreichischen Kanzlers, in der Hand eines weiteren Sozialisten jüdischer Abstammung, nämlich Dr. Bruno Kreisky, einem überzeugten Antizionisten und dem einzigen Juden, der je ein deutschsprachiges Land regierte. In der blühenden modernistischen Kultur um 1900 glänzte Wien mit einer unglaublichen Vielzahl an jüdischen Talenten in Kunst und Wissenschaft und prägte dadurch in bedeutendem Ausmass die Geschichte des gesamten 20. Jahrhunderts. Zu diesen Persönlichkeiten gehörten Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, Ludwig Wittgenstein, ein Pionier des logischen Positivismus, der Satiriker Karl Kraus, der Theaterautor Arthur Schnitzler, sowie auch innovative Komponisten wie Gustav Mahler und Arnold Schönberg und eine Reihe von Nobelpreisträgern in Medizin, Chemie und Physik. Zur selben Zeit entstand in Wien aber auch eine dynamische und volksnahe antisemitische Bewegung – die erfolgreichste ihrer Art in Europa vor 1914. Bereits 1897 war die christlichsoziale Partei unter der Führung des raffinierten katholischen und antisemitischen Demagogen Dr. Karl Lueger in Wien an die Macht gekommen und herrschte bis zum ersten Weltkrieg über die Stadt. Zum ersten Mal war dies einer antisemitischen Partei in Europa gelungen. Ohne die Wahlerfolge von Karl Lueger wäre der politische Zionismus vielleicht gar nie entstanden: Diese Bewegung ging auf Theodor Herzl zurück, einen in Ungarn geborenen Wiener Juden, der durch den Aufstieg des modernen Antisemitismus zur Überzeugung gelangte, dass die Juden in Europa keine Zukunft mehr hatten. Nur ein Massenexodus nach Zion, so lautete seine Prophezeiung, würde die Juden vor einer zukünftigen Katastrophe bewahren. Viel zu spät begriffen viele Juden auf dem europäischen Kontinent, wie Recht Herzl mit seiner Zukunftsvision hatte. Es war kein Zufall, dass die Saat von Adolf Hitlers Antisemitismus und der damit verknüpfte Völkermordgedanke ebenfalls in den harten Jahren keimte, die er zwischen 1907 und 1913 als halb arbeitsloser Maler von Postkarten und mittellose Randexistenz in Wien verbrachte. In dieser Zeit entwickelte der junge Hitler einen erbitterten Hass gegen die Juden, die er für die “seelenlose” Moderne, die Multikulturalität, die liberalen Medien, die Durchmischung der Rassen, den marxistischen Sozialismus, die Prostitution und alle anderen Laster der Grossstadt verantwortlich machte. Während des ersten Weltkriegs wurde der Antisemitismus in Wien durch den massiven Zustrom jüdischer Flüchtlinge aus Galizien weiter geschürt, die vor dem Chaos und den Pogromen der zaristischen Armee flohen. Später trugen in den frühen 1920er Jahren auch die Inflation nach dem Krieg, die Arbeitslosigkeit und ein allgemeines Gefühl der nationalen Erniedrigung der Österreicher nach der Auflösung des Kaiserreichs weiter ihren Teil zur rassistischen, antisemitischen und fremdenfeindlichen Einstellung bei. Die damit verbundenen Emotionen traten in praktisch allen sozialen Schichten, Altersgruppen und politischen Parteien Österreichs zutage, u.a. auch bei den Christlichsozialen, der Grossdeutschen Volkspartei und sogar bei den Sozialdemokraten. Am stärksten antisemitisch eingestellt waren wahrscheinlich die deutsch-österreichischen Studenten, die sich als erste am Ende der 20er Jahre von der immer bedeutender werdenden Nazi-Bewegung in Österreich überzeugen liessen. 1922 veröffentlichte der konvertierte jüdische Autor Hugo Bettauer seine viel gelesene Novelle Die Stadt ohne Juden, in der er die immer mehr an ein Pogrom erinnernde Atmosphäre im Wien der Nachkriegszeit schilderte – es war, als ob er die Nürnberger Rassengesetze von 1935 vorausgeahnt hätte. In seiner satirischen Erzählung beschreibt er, wie alle Juden Wiens aufgrund eines von der christlichsozialen Partei initiierten Parlamentserlasses aus der Stadt verbannt werden, um durch diese „Schutzmassnahme“ die Wirtschaft der Stadt und den arischen Geist vor der „Machtübernahme“ durch die Juden zu bewahren. Obwohl die Novelle ein trügerisches Happyend aufweist (die Juden werden nach dem Bankrott der Stadt wieder zurück gebeten), beruft man sich nach der Invasion Österreichs durch die Deutschen im Jahr 1938 nachdrücklich auf diese Furcht einflössende Prophezeiung. Bettauer selbst wurde bereits 1924 von einem jungen Nazi ermordet, zwei Jahre nach der Veröffentlichung seines Werkes. Man warf ihm unter anderem vor, er sei ein „jüdischer Pornograph“, der die arische Ehre besudelt habe. Mit dem Anschluss Österreichs im März 1938 begann die eigentliche Ermordung der 190’000 immer noch im Land, zumeist in Wien lebenden Juden, als die aufgestaute soziale und politische Unzufriedenheit der einheimischen Bevölkerung mit elementarer Gewalt ausbrach. Der seit fünfzig Jahren intensiv gepredigte politische Antisemitismus führte nun zu gewalttätigen Angriffen auf Juden – es kam zu zahlreichen Prügeleien, Morden, Erniedrigungen, Beleidigungen, Verhaftungen und Raubüberfällen. Es war, als ob die mittelalterlichen Pogrome in modernem Gewand wieder auferstanden wären, diesmal mit der Unterstützung der offiziellen nationalsozialistischen Ideologie des Dritten Reichs. Im Vergleich zu ihren deutschen Glaubensbrüdern erlitten die österreichischen Juden jedoch unzählige Demütigungen innerhalb einer viel kürzeren Zeitspanne. Es kam zu einer sehr raschen Arisierung breiten Ausmasses von jüdischem Eigentum, zu einer wirtschaftlichen Enteignung, zumeist ohne Entschädigung, von vielen bekannten jüdischen Unternehmen und Warenhäusern. Fast 70’000 jüdische Wohnungen wurden beschlagnahmt. Diese Enteignung der österreichischen Juden und der damit einhergehende brutale Antisemitismus, der sich als radikaler erwies als in Deutschland, löste eine massive Abwanderung der in Wien und Österreich lebenden Juden aus. Bis im November 1939 waren 126’445 Juden (ca. zwei Drittel der österreichischen Gemeinschaft) emigriert, in erster Linie nach Grossbritannien, in die USA, in das britische Mandat Palästina und in die chinesische Hafenstadt Shanghai, die bei der Einreise kein Visum verlangte. Während des Holocausts selbst wurden die restlichen 30 % der österreichischen Juden in die Todeslager in Polen deportiert, wo rund 65’000 von ihnen ermordet wurden. Der Anschluss bedeutete viel mehr als nur die deutsche Besetzung Österreichs; er führte auch zu einer innenpolitischen Machtübernahme durch die österreichischen Nazis und zu einem Aufstand der Bevölkerung mit zahlreichen systematischen Erniedrigungen der Juden in Wien. Sie wurden beispielsweise gezwungen, die Hausmauern von Schmierereien zu reinigen oder das Strassenpflaster vor den Augen ihrer höhnisch lachenden Nachbarn zu schrubben, orthodoxe Juden wurden dazu gebracht, Sakrilege zu begehen. Geschäfte und Warenhäuser von jüdischen Besitzern wurden geplündert, man bediente sich an Schmuck, Bargeld, Kleidern, Pelzen, Teppichen, Möbeln und Kunstwerken. Allein in den ersten beiden Märzwochen des Jahres 1938 begingen viele Juden, vor allem der oberen Mittelschicht Wiens, Selbstmord. Im Sommer 1938 mussten die Juden wie überall im deutschen Reich ihre Pässe auf der ersten Seite mit einem grossen roten ‘J’ (für „Jude“) versehen. Ihre Geschäfte hatten in hebräischer Schrift angeschrieben zu sein. Ende November 1938 waren Juden bereits aus den österreichischen Grundschulen und Gymnasien ausgeschlossen worden, ihnen wurde der Zugang zu den Universitäten und liberalen Berufen, zu Presse, Film, Theater, bildenden Künsten, Musik und Literatur verwehrt; man schloss sie aus den Berufsverbänden für Ärzte, Apotheker, Anwälte und Notare, d.h. aus fast allen Bereichen der Wirtschaft, aus. Die Kristallnacht vom 9. November 1938 stellte eine neue Eskalation dar, sie war gewalttätiger und blutiger als alles, was bisher in Nazideutschland selbst passiert war. Tausende von jüdischen Läden und Wohnungen wurden in Wien zerstört, 42 Synagogen und Gebetsräume, hauptsächlich durch die Flammen, vollständig zerstört, über 30 Juden ermordet und knapp 100 von ihnen schwer verletzt. Zur selben Zeit verhaftete die Gestapo in Wien 6’547 Juden, von denen mehr als die Hälfte direkt in das Konzentrationslager Dachau geschafft wurden. In Österreich kam es zu einem landesweiten hektischen Pogrom, das vor allem in Wien stattfand und ganz offensichtlich durch Befehl “von oben” ausgelöst worden war. Danach erfolgten noch raschere Enteignungen von jüdischen Häusern, Wohnungen und Unternehmen. Wiener Juden, von denen es im Oktober 1939 immer noch rund 100’000 gab, wurden ab diesem Zeitpunkt isoliert und in übervölkerten ghettoähnlichen Vierteln zusammengepfercht; als Kriterium dienten strenge Rassenregeln, ausserdem nahm man ihnen auch die letzte Existenzgrundlage weg. Nach der überraschenden Eroberung Polens hatte Hitler erklärt, er beabsichtige als erstes, „die Ostmark von Juden zu säubern“. Schon vor ihrer endgültigen Deportation in den Osten war die jüdische Gemeinschaft infolge der früheren Teilemigrationen am Aussterben, nun brach ihre Lebensgrundlage zusammen. Im Jahr 1940 waren nur 20 % der Juden Wiens unter 40, die Bevölkerung bestand ausserdem fast nur noch aus Frauen. Die umfangreichen Deportationen von Wiener Juden nach Polen begannen im Februar 1941 und erreichten im darauf folgenden Jahr einen Höhepunkt. 1945 hatten nur 5’700 Juden in Österreich, hauptsächlich in Wien, überlebt, wobei nur wenige von ihnen von Nichtjuden versteckt und gerettet worden waren. Das Eigentum und die Häuser der Juden, die auswandern mussten oder ermordet wurden, gerieten in arische Hände. Während den 50 Jahren nach dem zweiten Weltkrieg unternahmen die verschiedenen österreichischen Regierungen kaum Anstrengungen, um diesen Besitz zurück zu erstatten. Entsprechende Bemühungen fanden erst in den vergangenen zehn Jahren statt. Der „Beitrag” Österreichs zum Holocaust war sowohl in Bezug auf Planung und Durchführung zweifellos unverhältnismässig gross. Neben Adolf Hitler, dem in Österreich geborenen Architekten der Endlösung, gab es da auch Adolf Eichmann, der in Linz aufgewachsen und für die europaweite Deportation der Juden in die Todeslager zuständig war; dazu gehörten auch Odilo Globocnik, ehemals Gauleiter von Wien, der alle Vernichtungslager in Polen beaufsichtigte, Ernst Kaltenbrunner, einen österreichischen Nazi und Nachfolger von Heydrich als oberster Koordinator des deutschen Völkermords in Berlin, sowie Reichskommissar Arthur Seyss-Inquart, verantwortlich für die Deportation holländischer Juden. Der grösste Teil der Mitarbeiter von Eichmann und seines Spezialkommandos in Ungarn stammte aus Österreich, ebenso wie viele der führenden Nazis im Balkan, wie z.B. Kurt Waldheim, der 1986 zum österreichischen Staatspräsidenten gewählt wurde. Darüber hinaus waren rund 40 % der KZ-Kommandanten in Polen, unter ihnen auch der berühmt-berüchtigte Franz Stangl, Österreicher. Natürlich setzt sich das Bild, das wir von Österreich haben, aus vielen verschiedenen Facetten zusammen. Es ist das Land von Beethoven, Haydn, Mozart und Johann Strauss, wir kennen die Wiener Philharmoniker, die Spanische Hofreitschule, die herrlichen Alpengipfel, berühmte Skiorte und die legendäre Gemütlichkeit. Es fällt schwer, den Charme der barocken Kirchen in Wien, die Prachtbauten der Kaiserzeit und die fröhlichen Walzer mit Hitler, Nationalsozialismus und Auschwitz in Verbindung zu bringen; dazu gehört auch die Tatsache, dass Wien in den 50 Jahren vor (und kurz nach) 1938 Deutschland bei den Judenverfolgungen immer ein paar Schritte voraus war. Trotz dieser düsteren Schatten, welche die österreichische Geschichte nach dem zweiten Weltkrieg schwer belasteten, sind in der Gegenwart bedeutende Veränderungen festzustellen. Österreich gilt heute als blühende und stabile westliche Demokratie und ist Mitgliedstaat der EU. Das Land hat erkannt, wenn auch ziemlich spät, dass es für den materiellen Schaden Entschädigungen zahlen muss, und es hat den aussergewöhnlich kreativen Beitrag gewürdigt, den die Juden vor dem Holocaust in der österreichischen Kultur, Gesellschaft und Wirtschaft geleistet haben. Die Gespenster der zwar glorreichen, aber auch an Abgründen reichen Wiener Vergangenheit beherrschen immer noch die Gemüter, doch heute ist da auch Raum für einen gewissen vorsichtigen Optimismus. * Professor Robert S. Wistrich ist Professor für moderne europäische Geschichte und Direktor des „Vidal Sassoon International Center for the Study of Antisemitism“ an der Hebrew University in Jerusalem. Er hat über 20 Werke verfasst, darunter „Hitler and the Holocaust“ (Modern Library, New York 2002) und vor kurzem „Laboratory for World Destruction: Germans and Jews in Central Europe*“ (University of Nebraska Press 2007). |