Gerechtfertigtes Eindringen? | |
Von Rabbiner Schabtai A. Rappoport * | |
K. besitzt ein kleines Unternehmen für Biotechnologie. Sein langjähriger Freund P. ist in der Gesellschaft als administrativer Mitarbeiter angestellt. Vor kurzem entdeckte K., dass einige vom Unternehmen entwickelte Spitzenprodukte in die Hände einer Konkurrenzfirma gefallen sind. Aufgrund einer von ihm persönlich durchgeführten sorgfältigen Untersuchung beginnt K. den Verdacht zu hegen, dass es innerhalb des Unternehmens einen Maulwurf geben muss; und es kommt niemand anderes in Frage als P.! Vorläufig kann K. seinen Freund P. jedoch nicht zur Rede stellen, da sein Verdacht nicht auf Tatsachen beruht. Er braucht hieb- und stichfestes Beweismaterial. Nach reiflicher Überlegung glaubt er, das Mittel zur Aufdeckung eines unwiderruflichen Indizes entdeckt zu haben, das P. entweder als den Schuldigen brandmarkt oder ihn endgültig von aller Schuld rein wäscht. K. weiss, dass P. die gesamte Korrespondenz und seine privaten Angelegenheiten zu Hause auf seinem Computer verwaltet. Falls P. wirklich derjenige ist, der die Produkte der Gesellschaft an die Konkurrenz verkauft, muss ein Beleg für diese Transaktionen in den Dateien zu finden sein. Es ist unmöglich, in das Haus von P. einzudringen und heimlich an seinen Computer zu gelangen. Für die Backup-Kopie seines Systems greift P. aber regelmässig auf einen auswärtigen Sicherheitsserver zurück; an der dafür zuständigen Gesellschaft ist K. finanziell beteiligt. K. könnte folglich über den auswärtigen Server das Konto von P. einsehen, den nicht allzu komplizierten Sicherheitscode knacken und seine Dateien lesen. Doch nun steht K. vor einer schwierigen Frage: Ist es in ethischer Hinsicht vertretbar, in das Privatleben von P. einzudringen? K. versichert, dass keinerlei Informationen je nach aussen dringen werden, falls P. unschuldig sein sollte, und dass er selbst versuchen wird, das Gelesene aus seiner Erinnerung zu tilgen. Dieses Eindringen in sein Privatleben wird keinerlei Folgen für P. haben, denkt K. Die Mischnah (Sanhedrin III, 7) erwähnt die Art und Weise, wie ein Urteil in einem jüdischen Gericht ausgesprochen werden muss: „Wenn man zum Urteil kommt, werden die betroffenen Parteien wieder [in den Saal] eingelassen und der älteste Richter sagt… ‘Sie werden bestraft mit’ … Und wie können wir wissen, dass keiner der Richter beim Hinausgehen sagen darf ‘Ich war für den Freispruch, während meine Amtskollegen für eine Verurteilung stimmten; was konnte ich denn tun, da sie die Mehrheit darstellten? Denn es steht geschrieben über einen solchen Richter ‘Du sollst nicht als Verleumder umhergehen unter deinem Volk’ (Levitikus 19, 16) oder auch ‘Ein Verleumder verrät, was er heimlich weiss’ (Sprüche 11, 13).“ Diese Strenge scheint unerklärlich. Weshalb wird die Enthüllung der Meinung einer Minderheit des Gerichts gleichgestellt mit übler Nachrede und Indiskretion, die als Handlungen verboten und verachtenswert sind? In seinem Kommentar der Mischnah erklärt Maimonides, dass das jüdischen Gericht sich weigert, die individuellen Meinungen zu veröffentlichen, damit die unterlegene Partei nicht erfährt, welcher Richter zu ihren Ungunsten entschieden hat. Dank dieser Vertraulichkeit werden die Richter von der gesamten Gemeinschaft in Ehren gehalten. Dieser Gedankengang ist wirklich verblüffend. Finden denn die Richter nie Gnade vor den Augen beider Parteien? Inwiefern wird ihr Image aufpoliert, wenn der Verlierer eines Verfahrens zu Unrecht annimmt, das Urteil sei einstimmig gefällt worden? Ausserdem scheint die Aufdeckung der individuellen Richtermeinungen der Objektivität der Wahrheit doch besser zu dienen. Warum wird das Ansehen der Gerichtsmitglieder höher gewichtet als die Wahrheit? Der Talmud (Sanhedrin 31' a) erwähnt einen Bericht, der sich auf die oben angeführte Mischnah bezieht. Es geht darin nicht um einen Gerichtshof, sondern um das Beth Hamidrasch (Studierhaus), das zur Zeit des Talmud den Rat der Weisen beherbergte. „Es ging das Gerücht um, ein gewisser Schüler habe eine Frage enthüllt, über das im Beth Hamidrasch 22 Jahre zuvor debattiert worden war. In der Folge schloss ihn Rabbi Amma aus dem Studierhaus aus: ‘Dieser Mann plaudert Geheimnisse aus.’“ Dieser Fall ist noch erstaunlicher: Weshalb sollten Diskussionen der Weisen untereinander geheim gehalten werden? In der Mischnah und im Talmud wird über zahlreiche ähnliche Gespräche berichtet, und genau diese Texte stellen die Grundlage der Halachah dar. Die Mischnah (Yadaim IV, 3) berichtet von einer Debatte zwischen den Weisen von Yavneh. Beide Parteien bringen gewichtige Argumente vor und mit Hilfe einer Abstimmung gelangt man zu einer Entscheidung. Der Bericht fährt fort: Als Rabbi Eliezer – der bei der Diskussion der Weisen von Yavneh nicht anwesend war – über die Debatte und ihr Ergebnis informiert wurde, war er sehr verärgert und zitierte den Vers aus den Psalmen (25, 14): „Das Geheimnis des Herrn ist für die, die ihn fürchten; und seinen Bund lässt er sie wissen.“ Rabbi Eliezer befahl anschliessend den Weisen, ihr Abstimmungsergebnis zu vergessen; sein eigener Meister – und dieser wusste es aus erster Hand – war der Verwahrer einer mündlichen Überlieferung von Moses, gemäss der das Gesetz genau wie der Entscheid definiert wurde, den die Weisen durch eine Abstimmung gefällt hatten. Warum also war Rabbi Eliezer so wütend geworden? Was wollte er uns vermitteln, als er den Vers vom „Geheimnis des Herrn“ zitierte? Versuchen wir, diese Rätsel aufzulösen. Bei allen Versammlungen von Torah-Gelehrten, sei dies nun an einem Gerichtshof oder bei einem Rat von Weisen, versteht jeder Entscheidungsträger jederzeit beide Aspekte des diskutierten Themas; er wägt in seinem Innersten beide Seiten gegeneinander ab, um zu einer Entscheidung zu gelangen. Wenn ein Urteil einstimmig gefällt wird, bedeutet dies, dass klare und eindeutige Argumente vorlagen. Beruht aber ein Urteil auf einem Mehrheitsentscheid, heisst dies, dass keine der beiden Parteien ihre Meinung mit überzeugenden Überlegungen untermauern konnte. Weshalb hat sich also ein Mitglied der Versammlung so und nicht anderes entschieden? Dieser Einzelne ist scheinbar allein nicht in der Lage, seine endgültige Entscheidung rational zu erklären. Diese basiert nämlich auf einer inneren Überzeugung, auf seinem tieferen Verständnis der Torah und der konkreten Bedeutung des göttlichen Willens. Es ist nichts anderes als das „Geheimnis des Herrn“, die in jeder Seele verborgen liegt und sich aus der ständigen Offenbarung Gottes gegenüber seinem Volk ergibt. In den Schriften wird Rabbi Eliezer als der gewissenhafteste Schüler von Rabban Yochanan ben Zakai bezeichnet; er verfügte über ein unglaubliches Gedächtnis und erinnerte sich an alles (Avot II, 8; Sukka 28a; Sanhedrin 68a). Er kannte dank seinen ständigen Bemühungen die richtige Entscheidung, über welche die Weisen so lange diskutiert hatten. Da mag seine Wut nicht erstaunen, wenn seine Amtskollegen, die nicht dasselbe Talent besitzen wie er, dank dem „Geheimnis des Herrn“ zum selben Schluss gelangen; wie wir gesehen haben, offenbart G’tt dieses Geheimnis jedem Weisen, der ihn fürchtet. Rabbi Eliezer hatte in diesem Moment den Eindruck, seine harte Arbeit zur Vermittlung des mündlich überlieferten ursprünglichen Gesetzes sei überflüssig geworden. Wenn ein Gerichtshof ein einstimmiges Urteil fällt, hat die unterlegene Partei keinen Grund, an der Ehrbarkeit der Richter zu zweifeln, da diese entscheidende Argumente für ihre Entscheidung finden mussten. Findet der Verlierer des Verfahrens aber heraus, dass einer der Magistraten zu seinen Gunsten entschieden hatte, schliesst er daraus, dass alle anderen diese Möglichkeit vielleicht auch erwogen haben. Er könnte also den Verdacht hegen, die Richter hätten aus Überlegungen unabhängig von seinem Fall oder gar aus unlauteren Gründen zu seinen Ungunsten entschieden. Die Veröffentlichung einer individuellen Meinung würde demnach dazu führen, dass kein Richter je eine minoritäre, originelle Meinung vertreten würde. Gemäss der Mischnah (Avot IV, 8) muss sich ein Gericht aus verschiedenen Richtern zusammensetzen, damit unterschiedliche Ansichten geäussert werden können. Die Aufdeckung einer individuellen Meinung droht dieses Ziel in Frage zu stellen. Dasselbe gilt für einen Rat der Weisen: kein Gelehrter würde es je wagen, einen ungewöhnlichen, überraschenden Gedanken zu äussern, wenn er weiss, dass die Diskussionen irgendwann öffentlich gemacht werden. Die Zusicherung der Vertraulichkeit ist demnach eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass die Weisen sich frei fühlen, in seinem Innersten eigene Gedanken und Überlegungen anzustellen; und zwar bis zu dem Zeitpunkt, da sie die Zeit gekommen fühlen, diese Ansichten rational darzulegen und sie publik zu machen. Was für einen Weisen oder Richter zutrifft, muss auch für jeden Einzelnen gelten. G’tt offenbart sich jedem Mitglied seines Volkes, wenn auch in unterschiedlicher Weise; manchmal handelt es sich um eine Meinung der Torah, dann wieder um eine berufliche Entscheidung oder den Beschluss, seine Zeit oder sein Geld in diese oder jene Sache zu investieren. Denn der göttliche Wille kommt auf unterschiedlichen Ebenen und in sehr komplexer Form zum Ausdruck. Die Fähigkeit jedes Individuums, in irgendeiner Angelegenheit des Lebens die richtige Entscheidung zu fällen, hängt von der Möglichkeit ab, seine Gedanken und intimsten Ideen in seinem Innersten frei auszudrücken. Manchmal schreibt er sie zu seinem ausschliesslichen Eigengebrauch nieder, um sie später lesen und eventuell abändern zu können. Er kann auf der Suche nach Daten oder Erfahrungen im Internet surfen, er kann sich mit Personen in Kontakt setzen, die seine Persönlichkeit bereichern könnten. Wenn er dabei nicht umfassende Diskretion geniesst, wird er seine Ideen nicht ausdrücken, seinen Gedanken nicht wirklich auf den Grund gehen können. Wenn man also vom Recht des Einzelnen auf Geheimhaltung seiner Gedanken und deren schriftlichen oder mündlichen Ausdruck spricht, geht es nicht um sein Recht, abstossende Geheimnisse zu verstecken, sondern um sein unveräusserliches Recht auf Entfaltung seiner Persönlichkeit in jeder Phase seiner Existenz. Die Verletzung der Privatsphäre eines Menschen, auch durch eine einzige Person, ist daher gemäss den biblischen Gesetzen über die Verleumdung und die Verbreitung persönlicher Informationen streng untersagt. Doch weil man nicht berechtigt ist, Straftaten zu begehen und diese unter Berufung auf die Halachah zu vertuschen, kann sich die geschädigte Person an ein jüdisches Gericht wenden; wenn die vorgebrachten Motive überzeugend genug sind, kann der Gerichtshof einen Durchsuchungsbefehl ausstellen, der das Eindringen in die Privatsphäre des Verdächtigen gestattet. K. jedoch besitzt nicht das Recht, auf eigene Faust in die Computerdateien von P. einzudringen, um dort nach entsprechenden Informationen zu suchen. Selbst wenn die Sicherheitsdienste des Staates in das Privatleben eines Bürgers eindringen wollen, um einen Terroranschlag zu vereiteln, darf dieser Eingriff weder auf die leichte Schulter genommen noch in diskriminierender Weise durchgeführt werden. Die öffentliche Sicherheit hat natürlich Vorrang vor einer eventuellen Verletzung der persönlichen Rechte (Recht auf freie Entfaltung). Doch diese Entfaltung ermöglicht den Ausdruck des eigentlichen Wesens eines Menschen, den Geheimnissen G’ttes gegenüber seelisch offen zu sein: Folglich müssen ihre grundlegende Bedeutung und die Notwendigkeit des umfassenden Schutzes der Intimsphäre zu ihrer Verwirklichung ernsthaft bedacht werden. * Rabbiner Schabtai Rappoport leitet die Yeschiwah "Schwut Israel" in Efrat (Gusch Etzion). Er hat vor kurzem die letzten beiden Bände der Responsen herausgegeben, die von Rabbiner Mosche Feinstein, s.A., geschrieben wurden. Er entwickelt gegenwärtig eine Datenbank, die alle aktuellen Themen der Halachah umfasst. Richten Sie Ihre Fragen oder Kommentare an folgende E-Mail-Adresse: shrap@bezeqint.net. |