Die Affäre Zentai | ||
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Von Dr. Efraim Zuroff * | ||
Man könnte sich kaum einen idyllischeren Ort für ein derart dramatisches Treffen vorstellen. Die reizende Kaffeestube befindet sich in einem Holzhäuschen auf einem Kai, das im australischen Perth (“die abgelegenste Stadt der Welt”) in den ruhigen Swan River hinausragt. Hier warte ich auf eine Begegnung, die mich mit Unbehagen erfüllt. Schliesslich treffe ich nicht alle Tage die Kinder eines Mannes, den ich als Holocaust-Verbrecher entlarvt habe; als sie jedoch von meiner Reise nach Perth erfuhren, baten sie um ein Gespräch, und ich hatte zugestimmt, weil ich dachte, es sei wichtig, ihnen die Möglichkeit zu geben, ihre Argumente vorzubringen. Ich wollte ihnen aber auch die Hintergründe des Falles und die Art des Beweismaterials gegen ihren Vater erklären. Mir war ebenfalls klar, dass sie meine Weigerung, sie zu treffen, als einen Mangel an Überzeugung oder als das Eingeständnis hinstellen könnten, ich hätte etwas zu verbergen. Während ich auf die Kinder des Täters wartete, versuchte ich meine natürlichen Bedenken angesichts einer solchen Begegnung beiseite zu schieben (ich hatte halb im Scherz einen Freund aus der jüdischen Gemeinschaft von Perth zu den lokalen Vorschriften betreffend das Tragen von Waffen befragt) und konzentrierte mich auf die Erklärung, die ich ihnen geben wollte, und auf die wahrscheinlich unangenehmste Nachricht, die sie je erhalten würden, und dachte daran, wie sich diese Geschichte bis hierher entwickelt hatte. Als das Wiesenthal Center sein Projekt „Operation: Letzte Chance” am 13. Juli 2004 in Ungarn startete, kam die skeptische Frage auf, ob dies wirklich notwendig sei. So bemerkte beispielsweise der ungarische Holocaust-Forscher Laszlo Karsai, dass Ungarn viele Menschen, die für die Holocaust-Verbrechen verantwortlich waren, die er kurz nach dem Ende des Kriegs strafrechtlich verfolgt habe und dass Prozesse gegen ältere ungarische Angeklagte sowieso sinnlos seien und keinerlei erzieherischen Zweck mehr erfüllen würden. Karsais erstes Argument war durchaus stichhaltig, es schloss ja die Strafverfolgung jener nicht aus, die bis anhin der Justiz entkommen waren, was kurz nach dem Start der „Operation: Last Chance” klar wurde. Ironie des Schicksals: Karsai persönlich, unser schärfster Kritiker, liess mir einen Brief zukommen, der den vorliegenden Fall ins Rollen und mich nun nach Perth brachte. Der besagte Brief stammte von Adam Balazs, einem älteren, in Budapest lebenden Holocaust-Überlebenden, und enthielt rund zwei Dutzend gelb verfärbte Blätter, eindeutig Kopien von Zeugenaussagen aus dem Jahr 1948. Laut Karsais Begleitschreiben besass Adam Balazs „eine Menge Originaldokumente, die bewiesen, dass sein Bruder Peter Balazs von Karoly Zentai umgebracht worden war, der 1958 in Australien lebte… und nun hat er mich gebeten, Ihnen diese Dokumentation zukommen zu lassen (er will kein Geld dafür!). Versuchen Sie bitte Karoly Zentai aufzuspüren, falls er immer noch lebt, oder informieren Sie wenigstens Herrn Balazs über das, was ihm widerfahren ist.” Obwohl ich kein Ungarisch verstehe, war mir von Anfang an klar, dass es sich um glaubwürdige Informationen und eine sehr ernst gemeinte Anschuldigung handelte. Aus den Zeugenaussagen ging nach ihrer Übersetzung ins Hebräische hervor, dass Karoly Zentai, ein in Budapest dienender Offizier der ungarischen Armee, im Herbst 1944 häufig Jagd auf Juden machte und diese in seine Militärbaracken bringen liess, wo sie schwer misshandelt wurden. Am 8. November 1944 identifizierte Zentai in der Strassenbahn den 18-jährigen Peter Balazs als Juden, der den obligatorischen gelben Stern nicht trug. Er zwang Peter Balazs aus der Strassenbahn auszusteigen und brachte ihn in die Baracken an die Arena-Strasse 51. Hier prügelte er zusammen mit zwei anderen Offizieren, Bela Mader und Lajos Nagy, den jüdischen Jugendlichen zu Tode. Später beschwerte er mit Nagys Hilfe die Leiche mit Steinen und warf sie in die Donau. Nach dem Krieg wurde Mader zu einer lebenslangen Haftstrafe und Nagy wegen Kriegsverbrechen zum Tode verurteilt; im Laufe des Gerichtsverfahrens von Nagy kam Zentais Rolle bei der Ermordung von Peter Balazs ans Tageslicht. Diese Information veranlasste die ungarischen Behörden, rechtliche Schritte gegen Zentai zu unternehmen; sie wollten ihn verhaften, doch zu dieser Zeit (1948) war er bereits aus Ungarn geflohen und lebte in der amerikanischen Zone im besetzten Deutschland. Die Ungarn baten um seine Auslieferung, um ihn in Budapest vor Gericht zu stellen, doch aus bis heute ungeklärten Gründen wurde Zentai nicht in seine Heimat zurückgeschickt, um dort für seine Verbrechen zur Rechenschaft gezogen zu werden. In dieser Zeit bemühte sich eine Person ganz besonders darum, Zentai vor Gericht zu stellen, nämlich der Vater von Peter Adam, Dezso Balazs, ein bekannter jüdischer Anwalt, der den Holocaust in Ungarn überlebt hatte. Die von seinem Vater zusammengetragenen Dokumente und Zeugenaussagen hatte Adam nach dessen Tod aufbewahrt und später, nach dem Start der „Operation: Letzte Chance“ in Ungarn, in unser Büro nach Jerusalem geschickt. Da die Dokumente sich eindeutig als zuverlässig erwiesen, musste zunächst abgeklärt werden, ob Zentai immer noch lebte und ob sein Gesundheitszustand die Teilnahme an seinem Prozess zuliess, und wenn ja, wo er sich aufhielt. Gemäss dem Brief von Adam Balazs war er nach Australien entkommen und lebte 1958 in Perth, wobei nicht klar war, ob dies tatsächlich zutraf und immer noch der Wirklichkeit entsprach. Schliesslich waren seither 46 Jahre vergangen und es hatte sich vieles verändern können. Als erstes ging ich daher nach Yad Vashem, um zu kontrollieren, ob der Name und die Einwanderungsdaten von Zentai in den Dateien des Internationalen Suchdienstes zu finden waren, den das Rote Kreuz nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen hatte, um Menschen beim Aufspüren von Verwandten und Freunden zu helfen, die den Krieg überlebt hatten. Karoly Zentai aus Ungarn, geboren am 8. Oktober 1921, war jedenfalls in der Datenbank. Und was noch wichtiger war: seine Emigration nach Australien am 7. Februar 1950 an Bord der „SS Fair Sea“ wurde hier auch bestätigt, was die Wahrscheinlichkeit deutlich erhöhte, dass Zentai, falls er noch lebte, immer noch in Australien war. (Unsere Erfahrungen haben gezeigt, dass geflohene osteuropäische Nazi-Kriegsverbrecher nur selten, wenn überhaupt, ihr erstes Auswanderungsziel wieder verlassen.) Nun galt es also herauszufinden, ob Zentai immer noch lebte und gesund genug war, um vor Gericht zu stehen. Ich bat einen verständnisvollen australischen Ermittlungsjournalisten um Hilfe bei dieser Suche, und wir fanden schnell heraus, dass es einen Charles Zentai gab, der in Willeton, einem Vorort von Perth lebte. Es war nicht die Adresse, die ich von Adam Balasz bekommen hatte, doch es lag ganz in der Nähe. Kurz darauf konnten wir bestätigen, dass dieser Mann auf der „SS Fair Sea“ nach Australien gereist war, was den Beweis erbrachte, dass Charles und Karoly Zentai ein und dieselbe Person waren. In einem Telefongespräch mit dem Journalisten klang Zentai „geistig rege und jünger als 83“, doch seine Gesundheit musste noch abgeklärt werden. Zu diesem Zweck taten wir uns mit dem Nachrichtensender Channel Nine News in Australien zusammen, der ein Team beauftragte, Zentai ohne sein Wissen zu filmen. In der Zwischenzeit – ich war nun überzeugt, dass wir den Gesuchten gefunden hatten – schickte ich dem israelischen Botschafter in Ungarn und in Australien jeweils ein Dossier mit den belastenden Dokumenten und bat sie, möglichst bald eine gründliche Untersuchung des Falls in die Wege zu leiten. Das Team von Channel Nine brauchte mehrere Tage, um Zentai zu filmen, doch das Warten lohnte sich in jeder Hinsicht. Sie filmten ihn beim Autofahren, was ein eindeutiges Zeichen dafür war, dass sein Gesundheitszustand für einen Prozess ausreichte, und es gelang uns auch, ihn zu den Anschuldigungen gegen seine Person zu interviewen. Zentai leugnete den Mord an Peter Balazs, was kaum erstaunlich war (nur wenige Holocaust-Verbrecher geben ihre Schuld zu). Interessant waren aber zwei seiner Bemerkungen. Die erste bestand aus der Behauptung, er sei „bereit nach Ungarn zurückzugehen, um sich zu verteidigen“. In der zweiten Bemerkung verlangte er, dass seine Familie nichts von diesen Anschuldigungen erfahren solle. Angesichts der Tatsache, dass er für einen wichtigen Beitrag in den Abendnachrichten interviewt wurde, erschien dies ein wenig naiv, wenn nicht gar dumm, doch damit betonte er die engen Bande zwischen sich und seiner Familie, was mir seither oft durch den Kopf ging. Kurz darauf, Anfang März 2005, erliess ein ungarisches Militärgericht einen internationalen Haftbefehl gegen Karoly (Charles) Zentai. Dies war der erste Schritt in dem Prozess, der zu einem Auslieferungsantrag an Australien führte. Als der australische Justizminister Chris Ellison den Antrag unterzeichnete, stand fest, dass Zentais Rendezvous mit dem Gesetz nun unmittelbar bevorstand, und zu diesem Zeitpunkt traf ich in Perth mit drei seiner Kinder zusammen – seinen Söhnen Ernie und Gabe und seiner Tochter Eva. Rückblickend war diese Begegnung von Vornherein zum Scheitern verurteilt, da keine der beiden Seiten der anderen das Gewünschte liefern konnte. Ich war jedenfalls in keiner Weise von den Beteuerungen der Kinder bezüglich der Unschuld ihres Vaters zu überzeugen, da sie sich dabei auf seine eigenen egozentrischen Berichte der Ereignisse, indirekt vermittelte Zeugenaussagen und Wunschdenken beriefen. Und ich zog natürlich nie ernsthaft in Erwägung, den Prozess „fallen zu lassen“. Seine Kinder hingegen sträubten sich, auch nur die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, ihr geliebter Vater könnte Peter Balazs tatsächlich umgebracht haben, die schwarzen Flecken in der väterlichen Vergangenheit waren für sie einfach undenkbar. Ich versuchte ihnen gegenüber ein gewisses Mitgefühl an den Tag zu legen, da ich mir des Schocks bewusst war, den die Veröffentlichung des Beweismaterials gegen ihren Vater ausgelöst haben musste. Sie räumten zwar ein, der Holocaust habe tatsächlich stattgefunden, weigerten sich aber zu glauben, ihr Papa, von dem sie behaupteten, er habe nie auch nur eine leicht antisemitisch gefärbte Bemerkung geäussert, sei zu einem Mord an einem Juden in der Lage gewesen. Und so verabschiedeten sie sich nach unserem Gespräch frustriert und mit leeren Händen, während ich mit dem Gefühl von dannen ging, dass die Ereignisse der Schoah tiefe Spuren hinterlassen hatten, und zwar nicht nur bei den Opfern und ihren Familien, sondern auch bei den Nachkommen der Täter. Karoly (Charles) Zentai ist bereits an Ungarn ausgeliefert worden, um dort für den Mord an Peter Balasz am 8. November 1944 in den Militärbaracken an der Arena utca 51 in Budapest vor Gericht zu erscheinen. *Dr. Efraim Zuroff ist Nazi-Jäger, Historiker, Schoah-Spezialist und Leiter des Jerusalemer Büros des Simon Wiesenthal Centers in Los Angeles. Man kann mit ihm Kontakt aufnehmen unter: swcjerus@netvision.net.il, oder seine Website besuchen: www.operationlastchance.org. |