Juden in Georgien | ||
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Von Jemal Simon Ajiaschwili * | ||
Der genaue Zeitpunkt, wann die Juden nach Georgien einwanderten und sich hier niederliessen, kann nicht eindeutig bestimmt werden. Ausserdem sind einige Daten recht widersprüchlich. Die Geschichtswissenschaft spricht sich eher für die in der Quelle „Das Leben in Kartlien” präsentierte Variante aus, gemäss der die erste Einwanderungswelle von Juden infolge der Invasion Jerusalems durch Nebukadnezar im Jahr 586 v. Chr. in Kartlien eintraf: die Juden hatten den Gouverneur von Mzcheta gegen Entrichtung eines Tributs um Land gebeten, um dort zu wohnen. Gemäss derselben Quelle waren die Juden im 1. Jh. n. Chr. in die Gegend von Mzcheta eingewandert, und die von Vespasian Verfolgten hatten ihre Glaubensbrüder, die seit 600 Jahren in Georgien lebten und in Bezug auf das kulturelle Leben der Gesellschaft anscheinend recht weit entwickelt waren, gern aufgenommen. Die Juden von Mzcheta standen in ständigem Kontakt zu Palästina. Kirion II. beschrieb dies in blumigen Worten: „Jeder Pulsschlag in Jerusalem hallt in Mzcheta wider“. Dank diesen Beziehungen waren sie über die Ereignisse im Heiligen Land auf dem Laufenden und konnten gegebenenfalls reagieren. Der Text der „Evangelisierung“ enthält mehrere aussagekräftige Abschnitte zu den georgischen Juden. Speziell erwähnenswert ist derjenige über Elios von Mzcheta und Longinos von Karsna. Sie waren aus Jerusalem ausgezogen, wo der Oberrabbiner die Versammlung der Glaubensgelehrten einberufen hatte, um die Geschichte Christi zu untersuchen. Der Autor von „Das Leben in Kartlien“ betont, dass „als Jesus gefangen wurde, weder Elios noch Longinos daran beteiligt gewesen waren“. Nach der Kreuzigung Christi hatte Elios dessen „heilige Tunika“ mitgenommen. Bei seiner Rückkehr nach Mzcheta rannte ihm seine Schwester Sidonie entgegen. Sie drückte die Tunika von Christus an ihr Herz und fiel auf der Stelle tot um. Sidonie wurde mit diesem Kleidungsstück beerdigt. Kurze Zeit später war ein göttlicher Baum auf ihrem Grab gewachsen – daher der Name „Sveti Tzchoweli”, die belebende Säule. Die Ruine der im 4. Jh. n. Chr. an diesem Ort erbauten Basilika kann innerhalb der Kathedrale von Svetizchoweli immer noch besichtigt werden. Der Chronik zum Leben der Juden in Mzcheta aus der Feder des Priesters Abiatar können wir entnehmen, dass die georgischen Juden sich nicht mit denjenigen zusammentaten, die Jesus kreuzigten. In der wichtigen Zeitspanne in der Geschichte Kartliens, nämlich während der „Evangelisierung“, scheinen sie zudem gemäss dem Bericht des Historikers eine Art Vermittlerfunktion zwischen den Ideologen des Alten und des Neuen Testaments erfüllt zu haben. Diese Quellen erzählen, dass die georgischen Juden sich in Georgien als erste zum Christentum bekehrten und, wie Abiatar, Sidonie und andere, zur Verbreitung des neuen Glaubens beitrugen. Angesichts dieser Umstände soll darauf hingewiesen werden, dass die Geschichte „Abiatar, und mit ihm die georgische Jüdin Sidonie, als die ersten christlichen Schriftsteller Georgiens“ nennt. Priester Abiatar und die Chronik sind interessanterweise durch ihre dramatische Ausstrahlung zu einer Quelle der Inspiration für mehrere Schriftsteller geworden. Die „Briefe nach Georgien“ von Boris Pasternak bestätigen, dass auch er einen Roman zu diesem Thema schreiben wollte, dass ihn aber die bekannten tragischen Ereignisse am Ende seines Lebens an der Verwirklichung dieses Projekts hinderten. Nach dieser entscheidenden Epoche deckt die Geschichte lange den Mantel des Schweigens über die georgischen Juden. Möglicherweise ist dieses Schweigen auf die besonderen Merkmale des jüdischen Lebens zurückzuführen, das sich streng an die religiösen Regeln hielt und vom tausendjährigen Warten auf den Messias geprägt war. Mehrere historische und kulturelle Bauten (Synagogen, durch ihren ästhetischen Wert unvergleichliche Grabplatten) sowie die rituellen Gegenstände zeugen von der Intensität des religiösen Lebens der Juden zu jener Zeit. Ganz besonders hervorzuheben ist ein einzigartiges Torah-Manuskript: das Pentateuch von Moses aus dem 11.-12. Jahrhundert, das man in der Synagoge von Lailachi in Letschkhumi entdeckt hat. Die lokale jüdische und christliche Bevölkerung schrieb diesem Manuskript Wunderkräfte zu und betete es an. Nicht zu vergessen sind zwei Abhandlungen in hebräischer Sprache, die zwischen 1207 und 1208 hätten geschrieben oder kopiert werden können und die man den Anhängern der Karäer zuschreibt, deren Schulen sich zur Zeit der Königin Tamar bei Gagra befanden. Die Legenden über die Königin Tamar besagen, dass es in ihrem Gefolge einen Juden gegeben habe, einen gewissen Bisso, der später eine führende Position im Dorf innegehabt habe. Dieselben Legenden berichten von einem Grosshändler in Tiflis namens Zankan von Zorababel, den einige georgische Gelehrte für einen Juden halten und der vom georgischen Königshof ausgesandt wurde, einen Ehemann für Tamar zu suchen. Diese historischen Quellen zeigen, über welche Rechte die Juden damals in Georgien verfügten. Die Regelwerke späterer Jahrhunderte, in denen der rechtliche Status der georgischen Juden festgelegt wird, enthalten keine Hinweise auf eine religiöse, gesellschaftliche, politische oder anderweitige Diskriminierung. Zur Zeit der Feudalherren stellte der Handel die Hauptbeschäftigung der georgischen Juden dar. Analog zur Einteilung in der Wirtschaft gab es drei bedeutende „Gilden“: die Grosshändler, die mittelgrossen und die kleinen Händler. Später befassten sich die Juden mit Heimarbeit und Handwerk, die jüdischen Leibeigenen bewirtschafteten das Land, bauten Wein und Getreide an. Es gab aber eine besondere Kaste, die sich aus jüdischen Leibeigenen, Kirchen und Klöstern zusammensetzte und die zusammen mit den christlichen Leibeigenen der georgischen Kirche diente. Benjamin von Tudela, der Reisende aus dem 12. Jh., bestätigt, dass es in Georgien keine Hinweise auf eine grössere jüdische Bewegung gegeben habe, da sich die georgische Kirche nicht gegen das Judentum aussprach und den georgischen Juden gegenüber tolerant war. Es gab daher für letztere nicht einmal in religiöser Hinsicht einen Grund, einen Aufstand durchzuführen. Falls es sich als notwendig erwies, wenn z.B. ein Religions- oder Kultgesetz neu ausgelegt wurde, gehorchten die georgischen Juden den hebräischen Akademien von Bagdad, deren Verantwortliche sie mit Ratschlägen versorgten. Einige georgische Gelehrte (P. Ingorokva) gehen davon aus, dass die erste georgische Version der Bibel aus dem Hebräischen übersetzt worden war. Die Einwohner des alten Georgiens identifizierten sich von Anfang an mit dem Neuen Testament, der Philosophie und der Poesie des Alten Testaments, dessen Figuren sie zu ihren Begleitern in ihrem spirituellen Leben machten. Die Bagratiden bezeichnen sich als die direkten Nachfahren des biblischen Königs David. Seit frühester Vergangenheit und bis zum 19. oder 20. Jh. enthalten die literarischen Meisterwerke Georgiens mehrere Verweise auf die Bibel. In der Mitte des 19. Jhs. erhält das hebräische Thema eine neue Ausrichtung: es verlässt den Bereich der allgemeinen Philosophie und des „Subtemporären“, um sich der täglichen Realität zuzuwenden. Diese Veränderung wurde durch soziopolitische Umwälzungen der damaligen Zeit ausgelöst [Aufkommen von „Tergdaleulni“ in der Literatur, der Unabhängigkeitsbewegung u.a.]. Für den seiner Freiheit beraubten georgischen Dichter rückt die Aussage von Psalm 137, in der von der Gefangenschaft und den Sorgen der Juden die Rede ist - „an den Wassern zu Babel sassen wir und weinten“ -, sehr nahe (Variationen zu den Versen von Byron und Heine durch Ilja Tschavtschavadse). 1886 schreibt Ilja Tschavtschavadse einen Artikel, der besondere Aufmerksamkeit verdient. In diesem Artikel analysiert er die Situation der deutschen Juden im Kontext der politischen und wirtschaftlichen Ereignisse Europas und sagt die massive Judenvernichtung in Europa voraus. Verschiedene poetische Variationen anderer georgischer Dichter [Akaki Zereteli] enthalten manchmal Anspielungen auf biblische Figuren, wie das sehr bekannte Gesicht des verzweifelten Propheten Jeremias, der um den verwüsteten und teilweise zerstörten Tempel weint. Nach dem berühmten Dreyfus-Prozess [1894] und dem ersten Zionistenkongress in Basel 1897 nimmt die jüdische Frage in der georgischen Literatur eine erstaunlich moderne Form an. Die Idee von der Wiederherstellung eines unabhängigen Staates wurde innerhalb der georgischen Gesellschaft sofort aufgenommen und unterstützt (I. Evdoschwili, T. Tabidze, K. Gamsakhurdia, G. Robakidse). Alle diese Publikationen weckten die Identität der georgischen Juden. Nun treten illustre Persönlichkeiten auf den Plan: Rabbi David Baazov, sein Sohn, der 1938 ermordete Schriftsteller Herstel Baazov, und einige mehr. Zeitungen werden gegründet: Die Stimme der Juden, Makabeli, die trotz ihrer kurzen Lebensdauer eine wichtige Rolle im Leben der georgischen Juden spielten. Gleichzeitig muss die ablehnende Haltung der georgischen Schriftsteller (Ilja Tschavtschavadse, David Kldiaschwili, Mikheil Dschavakhicwili) und der öffentlichen Meinung in Georgien im Allgemeinen angesichts der Verfolgungen (Pogrome) von Juden und angesichts des entfesselten Antisemitismus in bestimmten europäischen Ländern und in Russland hervorgehoben werden. Sie haben die verfolgten Juden durch Wort und Tat unterstützt, was einige von ihnen das Leben kostete (Opferung von Sabba Kldiaschwili im Pogrom von Odessa 1905). Der Holocaust und die georgische Gesellschaft: Im Dezember 1938, 20 Tage nach der blutigen Kristallnacht, in der Dutzende von deutschen Juden den Tod fanden, veröffentlichte der Dichter Alexander Abascheli in der extrem harten Zeit, als in Georgien der Druck der sowjetischen Ideologie übermächtig wurde, einige Gedichte, in denen die Restauration des jüdischen Staates vorausgesagt wurde. In genau diesen Jahren schweben die Juden als Nation zwischen Leben und Tod. Im Parlament der ersten unabhängigen Republik Georgien sassen in den Jahren 1918-1921 drei jüdische Angeordnete, einer von ihnen war Joseph Eligulaschwili. Unter der bolschewistischen Diktatur waren die jüdische Religion und Kultur Einschränkungen unterworfen. Und dennoch wurde sogar in dieser schwierigen Zeit in Georgien keine einzige Synagoge geschlossen, und im Gegensatz zu anderen sowjetischen Universitäten stand Hebräisch an der Universität von Tiflis weiterhin auf dem Lehrplan. Gegen Ende der 1960er Jahre begann die Rückkehr der georgischen Juden nach Israel, die Alijah. Am 6. August 1969 wandten sich 18 georgische Juden in einem Brief an die Uno und baten sie, Druck auf die sowjetischen Behörden auszuüben, damit diese ihrem Gesuch um Rückkehr in ihre historische Heimat stattgeben. Dieses Schreiben stiess weltweit auf grosses Echo, was der massiven Alijah der sowjetischen Juden neuen Auftrieb gab. Auch in den 70er Jahren, als eine heftige israelfeindliche Kampagne in der UdSSR tobte, erwies sich die Alijah der georgischen Juden immer als bedeutender als diejenige in den anderen sowjetischen Republiken. Der staatliche Antisemitismus war weniger aggressiv als in den übrigen Ostblockländern. Heute leben die meisten georgischen Juden, d.h. fast 75’000 Menschen, in Israel, rund 7-8’000 sind in die USA, nach Kanada oder Europa ausgewandert. Nur 10’000 Juden sind in Georgien geblieben, doch von ihnen bekleiden einige bedeutende Positionen im gesellschaftlichen Leben der Republik, in Kultur und Wissenschaft; die drei jüdischstämmigen Mitglieder des Schriftstellerrats haben den Staatspreis erhalten. Die jüdische Gemeinschaft Georgiens ist im Parlament vertreten. In Tiflis und in anderen Städten des Landes wurden Hunderte von Synagogen unter Denkmalschutz gestellt. An den Hochschulen wird Hebräisch, jüdische Geschichte und Zivilisation gelehrt, die Kulturzentren sind offen und es werden mehrere jüdische Zeitungen verlegt. Im September 1995 feierte Georgien das hundertjährige Bestehen der Synagoge von Oni. Es wurde ein richtiges Nationalfest daraus. Bei dieser Gelegenheit erinnerte der Rabbiner von Oni an die Legende, gemäss der sich nach der Zerstörung des Zweiten Tempels von Jerusalem durch Kaiser Titus Vespasianus im Jahr 70 n. Chr. die Steine des Tempels in die Luft erhoben und sich über die ganze Erde verteilten. Der grösste Stein sei in das Dorf Oni geflogen. Da, wo der Stein zu Boden gefallen sei, hätten die jüdischen Einwohner diese grosse Synagoge errichtet. Bei Anbruch des 20. Jahrhunderts berichteten die Vertreter der europäischen Länder anlässlich eines internationalen jüdischen Kongresses von den Verfolgungen und Pogromen, denen ihre Gemeinden zum Opfer fielen. Rabbiner David Baazov, der aus dem fernen Kaukasus angereist war und Georgien vertrat, begann seine Rede mit folgenden Worten: „Brüder, ich komme aus einem Land, in dem seit 2600 Jahren Juden leben und wo sie noch nie verfolgt oder ermordet wurden“. Das Publikum war sprachlos und erschüttert. 1998 wurde die 2600-jährige Präsenz der Juden in Georgien mit einer bedeutenden Feier begangen. * Jemal Simon Ajiaschwili, georgischer Jude, ist Autor, Übersetzer, ehemaliger Parlamentarier sowie Rektor der in Tiflis eröffneten hebräischen Universität. |