Das Gemeindezentrum

Foto: Bethsabée Süssmann
Von Roland S. Süssmann
Georgien steckt voller Widersprüche. Einige Regionen sind sehr dünn besiedelt, mit nur einigen wenigen kleinen, abgelegenen und rückständigen Dörfern im Kaukasus, während andere Gegenden wirtschaftlich erfolgreich sind und Touristen an die Strände des Schwarzen Meers locken. Die Wirtschaft beruht nicht ausschliesslich auf den Bodenschätzen des Landes, sondern auch auf der Landwirtschaft, vor allem auf Zitrusfrüchten und Tee. Leider mussten diese Bereiche seit dem Zusammenbruch der UdSSR und nach den Konflikten in Abchasien und Ossetien einen starken Einbruch verzeichnen.
Georgien gilt heute übrigens als eines der ärmsten Länder der ehemaligen Sowjetunion, weil die Kriminalität und das fehlende Erdöl seiner Wirtschaft in den 1990er Jahren ernsthaft geschadet haben. Erst seit der „Rosenrevolution” von 2003 und den dadurch ausgelösten massiven US-Investitionen hat sich die Situation allmählich verbessert. Doch dem sozialen Dienstleistungs- und Gesundheitsangebot mangelt es weiterhin und immer noch an Geld.
Die Geschichte der georgischen Juden reicht weit in die Vergangenheit zurück, da einige Fachleute davon ausgehen, dass bereits vor 2600 Jahren Juden hier ansässig waren. Im Gegensatz zu den meisten sowjetischen Republiken entgingen die georgischen Juden dem gewalttätigen Antisemitismus und dem erzwungenen Atheismus. Während der sowjetischen Herrschaft konnten sie vielmehr ihre jüdische Identität und ihre uralten Traditionen bewahren. Gleich nach der Befreiung reisten Zehntausende von georgischen Juden aus und liessen sich in Israel nieder. Die Zurückgebliebenen wohnen zu 90% in der Hauptstadt Tiflis, die anderen in Gori, Kutasi, Batumi und Oni.
Dies erklärt, weshalb die meisten der noch hier lebenden Menschen betagt und alles andere als wohlhabend sind. Man muss sich vor Augen führen, dass das durchschnittliche Einkommen eines Rentners bei rund 15 Dollar liegt! Ohne die massive Unterstützung des Joint Distribution Commitee (JDC) könnten sich diese Menschen nicht einmal das Notwendigste leisten, nämlich Nahrung, Kleidung, Wohnraum, Produkte der Körperhygiene und natürlich medizinische Versorgung. In diesem Kontext der wirtschaftlichen Not sind die Juden Georgiens entschlossen, alles zu unternehmen, um wieder eine solide Gemeindestruktur zu schaffen, dank der sie die Ärmsten von ihnen tatkräftig unterstützen können. Bis dieser Wunsch in Erfüllung geht, steht ihnen das JDC mit konkreter Hilfe zur Seite.
Man darf die Augen nicht davor verschliessen, dass das heutige Tiflis nicht mit der Stadt vor rund zehn Jahren zu vergleichen ist, wo die Mafia für Ordnung sorgte und die Einwohner sich nach 17 Uhr nicht mehr auf die Strasse trauten, weil dort Bandenkriege tobten. Einige Viertel waren extrem gefährlich. Diese Situation führte dazu, dass Sozialhilfe sehr schwierig war und einige Menschen Hungers starben, weil es niemand wagte, sie mit dem Lebensnotwendigen zu versorgen. Nicht einmal mit einem Laib Brot.
In Tiflis haben wir im neuen Gemeindezentrum mit REVAZ SCHATASCHWILI gesprochen, dem Direktor des sozialen Zentrums, das den Namen „Chesed Eliahu“ trägt.

Können Sie uns kurz die wichtigsten Aspekte Ihrer Tätigkeit beschreiben?

Bevor ich auf Ihre Frage eingehe, möchte ich die Tatsache betonen, dass wir gegenwärtig über ein herrliches, ultramodernes Gemeindezentrum verfügen, in dem sich unter der Aufsicht des JDC die meisten jüdischen Organisationen von Tiflis unter einem Dach befinden und wo sich alle unsere kulturellen und sozialen Veranstaltungen abspielen (Jugend, Theater, Herausgabe der Gemeindezeitung). Es wurde vor ungefähr vier Jahren dank einer grosszügigen Spende von Henry Posner und seiner Familie zugunsten der jüdischen Gemeinschaft Georgiens eröffnet. Dieses Zentrum ist von ungeheurer Bedeutung. Es ist das Herz des jüdischen Lebens in Tiflis. Die Leute kommen gern hierher, und zwar wegen der hier herrschenden herzlichen jüdischen Atmosphäre. Ausserdem bieten wir eine ganze Reihe von unterschiedlichsten Aktivitäten an.
Die Haupttätigkeit unseres Zentrums besteht natürlich aus der Sozialhilfe, deren Verantwortlicher ich bin. Wir gewähren rund 1500 älteren Menschen und 200 Kindern direkte Unterstützung. Das Programm mit der grössten Tragweite besteht aus der Verteilung von Mahlzeiten. Täglich nehmen 240 Personen ihr koscheres Mittagessen im Gemeindezentrum ein. Darüber hinaus liefern wir 80 Mahlzeiten pro Tag daheim aus. Einmal monatlich – und dies schon seit 10 Jahren - verteilen wir ca. 1400 Pakete mit unverderblichen Nahrungsmitteln. Die Unterstützung zugunsten von Kindern beginnt am Tag ihrer Geburt und endet praktisch am Ende ihrer Jugend. In den meisten Fällen versorgen wir sie mit allem, was sie in medizinischer Hinsicht benötigen, sowie auch mit Kleidung, Nahrung und Spielsachen. Wir kümmern uns um ihre Ausbildung (wir schreiben sie an einer der beiden jüdischen Schulen der Stadt ein), organisieren für sie jüdische und kulturelle Aktivitäten und sogar Ferienlager.

Sie haben von medizinischer Unterstützung gesprochen. Worin besteht diese genau?

Dazu muss man wissen, dass es in Georgien keine Sozialvorsorge gibt und dass die ärztliche Versorgung älterer Menschen katastrophal ist. Wir schätzen uns glücklich, dass wir unseren Glaubensgenossen in diesem Bereich zur Seite stehen können. Ich bin selbst Arzt, und wir besitzen einen medizinischen Bereitschaftsdienst, der täglich geöffnet ist. Wir bieten keine offizielle ärztliche Versorgung, aber wir verfügen über freiwillige Ärzte, die unsere Patienten untersuchen. Unsere Haupttätigkeit besteht aus der Medikamentenausgabe an 400 Personen pro Monat und aus der Verteilung von rund 600 Brillen pro Jahr, ganz zu schweigen von den Hörgeräten, Krücken usw. Neben der medizinischen Versorgung, die im Zentrum selbst stattfindet, besucht ein Team von Krankenpflegern die Menschen, die ihre Wohnung nicht mehr verlassen können und oft unter prekären Umständen und allein leben. Gegenwärtig kümmern wir uns um 120 derartige Fälle. Eine Gruppe von Freiwilligen unterstützt uns auch dadurch, dass sie Menschen, die sich nicht mehr fortbewegen können, zu Hause versorgen.

Die genaue Zahl der in Georgien lebenden Juden ist nicht bekannt. Wie entscheiden Sie also, wer von Ihnen unterstützt wird? Kann da jeder kommen, der behauptet, ein Jude zu sein?

Nein, natürlich nicht. Die betreffenden Familien sind uns bekannt. Dann bitten wir auch die Leute, die sich an uns wenden, ein ausführliches Dossier auszufüllen, das wir in unsere Datenbank eingeben, so dass wir die Informationen miteinander vergleichen können. Neben dem Lebenslauf der betreffenden Person verlangen wir auch Hinweise auf die Familie des Ehegatten usw. Es kommt vor, dass um Unterstützung Ersuchende keine Papiere besitzen und sie keine Möglichkeit haben, ihre Zugehörigkeit zu unserer Gemeinschaft zu beweisen. In der Regel handelt es sich um Überlebende der Schoah aus der Ukraine oder Weissrussland. Dank unserer Erfahrung sehen wir sofort, ob es sich um Hochstapler handelt, was sehr selten ist. Wir verfügen aber über ein Sonderbudget, um hilfsbedürftige Juden unterstützen zu können, die sich hier niederlassen, aber nicht aus Georgien stammen.
Ein anderer Teil unserer Tätigkeit steht in indirektem Zusammenhang mit der ärztlichen Versorgung unserer Senioren und besteht aus einem Sonderprogramm für Menschen, die ihr Zuhause nicht mehr allein verlassen können. Wir holen sie jeden Tag ab und fahren sie ins Zentrum, wo sie eine Mahlzeit erhalten sowie zwischen einigen Veranstaltungen aussuchen können. Sie befinden sich dadurch in Gesellschaft und haben den Eindruck, weiterhin ein „normales“ Leben zu führen, ohne den ganzen Tag allein in ihrer Wohnung herumzusitzen. Zu diesem Angebot gehören Kurse aller Art, darunter auch Themen wie Judentum, Handarbeiten, Chorsingen, israelischer Volkstanz und vieles mehr. Dieses Programm wendet sich an mehrere Dutzend Menschen.

Sie haben die Personen erwähnt, die das Gemeindezentrum aufsuchen. Sprechen Sie aber auch gezielt jene an, die nichts von Ihrer Existenz wissen, und sagen sie ihnen, dass Sie ihnen helfen könnten?

Natürlich. Wir haben Tiflis in 4 Sektoren eingeteilt, für die jeweils eine Person verantwortlich ist. Ihr stehen diverse Teams zur Seite, die diese Quartiere aufsuchen und prüfen, ob dort Juden leben, wie ihre Lebensbedingungen aussehen, ob sie Unterstützung brauchen, ob sie das Gemeindezentrum aufsuchen möchten usw.

Abschliessend möchten wir betonen, dass die Haupttätigkeit des Gemeindezentrums von Tiflis zwar zweifellos die Sozialhilfe ist, dass es aber auch eine ganze Reihe von Programmen für junge Leute anbietet, die – falls sie nicht das Land verlassen – irgendwann die jüdische Gemeinschaft Georgiens von morgen sein werden. Dank den Programmen des JDC erhalten sie eine grundlegende jüdische Mindestausbildung, so dass sie sich aufgrund dieses Wissens dem Gemeindeleben zuwenden können.
Zum Abschied sagte Revaz Schataschwili zu uns: „Täglich werden wir mit immer mehr und immer wichtigeren Anfragen konfrontiert, dabei geht es sowohl um die Unterstützung unserer Senioren als auch um die Ausbildung unserer Jugend. Wir tun alles, um diesen Herausforderungen gerecht zu werden, doch in Bezug auf die finanziellen Mittel besitzen wir nur einen bedeutenden Geldgeber, das JDC. Wir sind für jede Unterstützung dankbar, die wir bekommen“.



ANNA RUMINOVNA

Eine der Besonderheiten anlässlich der Begegnungen mit den jüdischen Gemeinden der ehemaligen sowjetischen Republiken besteht darin, dass die meisten der älteren Menschen Veteranen der Roten Armee sind und während des Zweiten Weltkriegs gedient haben. Vergessen wir nicht, dass Tausende von georgischen Juden ihr Leben im Kampf gegen die Deutschen und den Nationalsozialismus verloren.
In Tiflis trafen wir mit Frau Anna Ruminovna-Chrumchinka zusammen. Das Einzelkind Anna stammt aus Kiew, ihr Vater war ein berühmter Chirurg. Am 9. Mai 1941, im Alter von 18 Jahren, meldete sich Anna als Freiwillige bei der Armee und kam zur Funkkommunikation der Luftwaffe. In der Armee lernte sie ihren Mann kennen. Ab 1941 folgte sie der Roten Armee in ihrem Vordringen gegen Westen. Sie kämpfte an vielen Orten mit, wurde verletzt und schliesslich aus dem Armeedienst entlassen. Anna kehrte nach Kiew zurück, wo sie ihre Eltern wiederfand, die wie durch ein Wunder nicht deportiert worden waren. 1945 liess sich ihr Mann in Tiflis nieder, wo sie dann ihr gesamtes Leben verbrachten. Ihr Gatte starb vor zwei Jahren, aber seither grübelt Anna Ruminovna nicht einfach in der Vergangenheit herum und trauert ihrem verlorenen Liebsten nach, sondern lebt jeden Augenblick der Gegenwart intensiv und fröhlich. Kürzlich durfte sie die Hochzeit ihres Urenkels miterleben!

Die Jewish Agency

Seit einigen Jahren bereits beschränken sich die Aktivitäten der Jewish Agency nicht mehr auf die Alijah allein. In vielen Ländern, insbesondere in den früheren sowjetischen Republiken, spielt diese Organisation vor allem in der jüdischen Aus- und Weiterbildung eine eminent wichtige Rolle. Wir trafen in Tiflis Gregory Brodsky, der die Jewish Agency im Südkaukasus, d.h. in Georgien, Aserbeidschan und Armenien, vertritt.

Wie viele Juden wandern derzeit aus den oben genannten Länden nach Israel aus?

Dazu möchte ich zunächst sagen, dass in diesen drei Ländern vor allem eines schmerzlich fehlt, nämlich die zionistische Erziehung. Als ich vor rund einem Jahr hier eintraf, wurde mir bewusst, dass in dieser Hinsicht praktisch nichts getan wird. Nun ist aber nicht von der Hand zu weisen, dass alle Menschen, die sich in Israel niederlassen möchten, wenigstens über ein Mindestmass an Wissen zum Land, zur Sprache, zur Mentalität usw. verfügen sollten. Ich rief daher sofort ein Programm mit Seminaren aller Art ins Leben, die jedem gemäss seinen besonderen Umständen entgegenkommen. Eine dieser Veranstaltungen wandte sich beispielsweise an junge Eltern bis zu höchstens 35 Jahren: wir haben ihnen von Israel erzählt, ihnen das Leben in diesem Land beschrieben, die Arbeitsmöglichkeiten usw. Parallel dazu bieten wir Hebräischkurse an und organisieren die unterschiedlichsten Freizeit- und Bildungsaktivitäten, und zwar sowohl hier in Georgien als auch in Aserbeidschan und Armenien. Es sind schon die ersten konkreten Ergebnisse spürbar, vor allem bei der Jugend. Gegenwärtig wandern jährlich ca. 300 georgische Juden nach Israel aus, in Aserbeidschan und Armenien sind es ungefähr 270 Personen.

Ich kann mir vorstellen, dass es nicht allzu schwer ist, ältere Menschen ohne Verwandte und mit winziger Rente davon zu überzeugen, in eine bessere Zukunft aufzubrechen. Doch was unternehmen Sie, um tatsächlich erfolgreich zu sein, ich meine damit, junge Arbeitskräfte zu einer Niederlassung in Israel zu bewegen?

Wir brachten vor kurzem eine Gruppe von Ärzten zusammen, die ältesten von ihnen zwischen 43 und 45 Jahre alt, und boten ihnen an, mit ihnen bereits hier – in russischer oder englischer Sprache - die Prüfungen vorzubereiten, die sie für ihre Tätigkeit in Israel brauchen. Den jüdischen Ärzten aus Georgien, die das Examen bestehen, wird eine feste Stelle in einem israelischen Krankenhaus zugesichert. Wenn man weiss, in welchem Zustand sich die Medizin hier in Georgien befindet, erstaunt es nicht, dass viele von ihnen diese Gelegenheit beim Schopf packen werden. Mit der Zeit werden wir ähnliche Programme für andere Berufsgruppen einführen.
Müsste ich meine Aufgaben in knapper Form beschreiben, würde ich sagen, dass sie auf zwei Ebenen stattfinden: auf der ersten geht es um die herkömmliche Arbeit der Jewish Agency, deren Hauptauftrag darin besteht, möglichst viele Juden nach Israel zu schicken; die zweite betrifft jüdische und zionistische Ausbildungsprogramme in direkter Zusammenarbeit mit der jüdischen Gemeinschaft.
Da die georgischen Juden ihrem Herkunftsland sehr eng verbunden sind, ist diese Aufgabe alles andere als einfach und verkörpert eine echte Herausforderung. Ich arbeite aber völlig ohne Illusionen und weiss, dass die nach Israel auswandernden Georgier nicht sonderlich zionistisch denken, vor allem die jungen Leute nicht. Sie gehen aus einem einzigen Grund nach Israel: sie wollen besser verdienen. Dies beginnt übrigens mit einem Vorteil, der uns in Israel schon ganz selbstverständlich erscheint: der Krankenversicherung, die in Georgien nicht existiert. Hier besitzt ein Arbeitnehmer, der in Rente geht, keinerlei Ansprüche, mit Ausnahme einer kleinen Pension. Doch angesichts des Potenzials bleibt die Zahl der Auswanderer nach Israel dennoch sehr gering.