Sderot | ||
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Von Roland S. Süssmann | ||
Auf dem Tisch eine halbleere Cola-Flasche, einige schmutzige Gläser, ein Computer. Am Boden Spielsachen und ein Kinderschuh, darum herum Glasscherben und zerbröckelter Gips. Aus den Möbeln steigt beissender Brandgeruch auf. Wir befinden uns in Sderot, in einem Haus, das knapp 12 Stunden zuvor von einer Kassam-Rakete getroffen wurde. Die Einwohner hatten keine Zeit zu fliehen, doch die Mutter und die Kinder konnten im Schutzraum Zuflucht finden. Von panischer Angst ergriffen begann der Vater in den Flammen nach seiner Familie zu suchen und erlitt Brandverletzungen 3. Grades! Diese Informationen werden in den israelischen Medien nie erwähnt. Dabei ist diese Situation nicht aussergewöhnlich und widerspiegelt nur die Realität, wie sie seit 7 Jahren in Sderot zum Alltag gehört. Überall in Israel herrscht Ruhe… ausser in Sderot, wo die Kinder seit Monaten nicht mehr draussen spielen können, wo die Eltern jedes Mal vor Sorge fast sterben, wenn ein Kind den Schulweg antritt, und wo 90 % der Familien in Schutzräumen schlafen. Seit dem Beginn der erneuten Bombardierung mit Kassam-Raketen haben rund 60 % der Bevölkerung die Stadt vorübergehend oder für immer verlassen. Dazu muss man wissen, dass die Einwohner keine Idealisten sind wie in Judäa und Samaria, die meisten sind vor kurzem aus dem Kaukasus, aus Kasachstan oder Äthiopien eingewandert. Jene, die seit langem in Sderot leben, haben sich nicht besser an den Krieg gewöhnt, man fühlt sich nirgendwo mehr in Sicherheit, weder auf der Strasse noch im eigenen Heim. Ein Spaziergang durch Sderot erweist sich als aufschlussreich. Man trifft nur wenige Leute an, diejenigen, die nicht abgereist sind, verlassen ihr Haus nur dann, wenn es unumgänglich ist. Zu einem bestimmten Zeitpunkt war die Stadt fast leer von Einwohnern, die Synagogen waren verlassen. Man muss sich klar machen, dass der ständige Beschuss von Sderot durch die arabischen Terrororganisationen nicht nur auf die Zerstörung einer Kleinstadt, einer Schule oder eines Gemischtwarenladens abzielt, sondern als Politik viel langfristiger angelegt ist und die Schwächung des Staates Israel anstrebt. Die Araber wollen den Durchhaltewillen der Einwohner brechen, ihren Alltag so lange in ein Chaos verwandeln, bis sie resignieren und der Stadt den Rücken kehren. Die Strategie ist offensichtlich: zuerst Sderot, dann Aschkelon, anschliessend Aschdod und als krönender Abschluss die Evakuierung von Tel Aviv. Die Terrororganisationen, einschliesslich der angeblich gemässigten „Palästinensischen Autonomiebehörde“ und der arabischen Regierungen, die ihnen ihre Unterstützung zukommen lassen, fühlen sich ermutigt und werden immer frecher. Dies ist direkt auf die Untätigkeit der Regierung und die Vertreibung der israelischen Juden aus Gusch Katif zurückzuführen, was von den Arabern als eindeutiges Zeichen der Schwäche und als grosszügiges Geschenk interpretiert wurde. Doch dabei vergisst man die Reaktion einer kleinen Gruppe von jungen Israelis, alles Freiwillige aus Beer-Schewa, Judäa und Samaria, die alles in ihrer Macht Stehende unternehmen wollen, damit Sderot nicht fällt; sie sind fest entschlossen, die Strategie der Araber zu durchkreuzen. Angesichts der Lähmung der offiziellen Stellen und der eindeutig kontraproduktiven Einstellung der Regierungsinstanzen haben sich 127 Personen in der Stadt niedergelassen, um ihr wenigstens einen Anschein von Leben zu verleihen. Dieser Schachzug erfolgte unter der fachkundigen Leitung des Aktivisten ALON DAVIDI, Fachmann für Sozialhilfe und Erziehung. Alon hat eine Aktionsgruppe namens Sicherheitspersonal von Sderot gegründet, die es sich zunächst zum Ziel gesetzt hat, den Einwohnern von Sderot neuen Mut zu geben. Gleichzeitig hat die Gruppe eine Reihe von Dienstleistungen eingerichtet, um der Bevölkerung in den unterschiedlichsten Bereichen Hilfe anzubieten. Die erste Aktion bestand darin, die Sicherheitsvorkehrungen zu verstärken (die Regierung tut es ja nicht), indem bei den offiziellen Instanzen entsprechende Schritte unternommen wurden, entweder durch politische Aktionen (Demonstrationen, Streiks usw.) oder auf juristischem Weg. Diese Gruppe stellt den Personen, die durch Kassam-Raketen zu Schaden kamen, einen Rechtsbeistand zur Verfügung, damit sie einen gerechten Schadenersatz, eine Steuerermässigung, Entschädigungen und eine direkte Unterstützung von der Nationalversicherung erhalten; sie versorgt die immer zahlreicheren Familien in Not auch materiell und sozial. Vor diesem Hintergrund hat sie ein Zentrum für Secondhand-Kleider sowie eine Volksküche eröffnet und vieles mehr. Die Organisation bildete (nichtmedizinische) Erste-Hilfe-Teams, um den Menschen und Familien nach einem Angriff auf ihr Haus oder ihr Quartier zu helfen. Die vielen Menschen, die unter Schock stehen, werden von den offiziellen Gesundheitsbehörden der Regierung nicht als Opfer des Terrorismus angesehen. Und schliesslich haben die Freiwilligen für die Einwohner eine Reihe von Aktivitäten eingeführt, die der Entspannung und Zerstreuung dienen: dazu gehören Ausflüge (z.B. ein Tag am Toten Meer, einschliesslich einer Massage), Ferientage für die Kinder usw. Trotz all dieser Aktionen, welche eine grosse Erleichterung für die Einwohner darstellen, muss man sich vor Augen führen, wie schwierig der Alltag geworden ist. Der Staat unternimmt sozusagen nichts, um den konkreten Schutz der Einwohner zu gewährleisten. Besonders auffällig ist dies in den Schulen. Zum Beweis haben wir eine Schule besucht, die dürftig von einer 3 m breiten Betonstruktur geschützt wird, welche den Einschlag von Kassam-Raketen verhindern soll. In Wirklichkeit ist diese Mauer weniger lang als das Schulgebäude, so dass ein Teil der Kinder dem feindlichen Feuer ausgesetzt ist. Unter diesen Bedingungen muss die Bevölkerung von Sderot leben und überleben. Bis heute wurden über 5'000 Kassam-Raketen auf die Stadt abgefeuert. Zahlreiche Einwohner wurden verletzt, einige bis an ihr Lebensende verstümmelt, es gab viele Tote, und Dutzende Häuser wurden zerstört. Auch auf wirtschaftlicher Ebene sieht die Lage besorgniserregend aus, da der Immobilienmarkt praktisch ausgetrocknet ist und der Kleinhandel von der Hand in den Mund lebt. So nimmt beispielsweise der Metzger am Anfang jeder Woche die Fleischbestellungen auf. Und die Nachfrage sinkt natürlich von Woche zu Woche, es braucht nur eine weitere Rakete einzuschlagen, damit ein Teil seiner Kundschaft die Stadt, auch vorübergehend, verlässt. In bestimmten Wochen steht der Metzger am Schluss mit 80 % seiner Ware da, ohne irgendeine Möglichkeit, diese noch zu verkaufen. Wie lange hält er das noch durch? Es stellt sich demnach die Frage, wieso die aufeinander folgenden israelischen Regierungen es zuliessen, dass die Situation dermassen verfahren ist. Darauf gibt es zahlreiche Antworten, doch eines steht fest: der Hagel von Kassam-Raketen hat sich sofort nach der Evakuierung der Juden aus Gaza in Bezug auf Volumen und Intensität verdreifacht. Diese Entwicklung hatte man vorausgesehen, doch niemand wollte den Prognosen und Warnungen Glauben schenken. In einem Gespräch erklärte Eli Moyal, der Bürgermeister von Sderot, der die Stadt seit 9 Jahren regiert - 7 davon unter dem Bombenhagel: „Wir befinden uns in einer paradoxen Situation. Einerseits sind sich alle einig darüber, dass Sderot unter keinen Umständen fallen darf, und andererseits rührt die Regierung keinen Finger, um uns zu helfen. Die Antwort auf die Kassam-Angriffe ist natürlich nicht in Sderot, sondern in Gaza zu finden, von wo aus diese selbst gebastelten Raketen auf uns abgeschossen werden. Doch da wir schon seit Jahren keine starke und entschlossene politische Führung mehr besitzen, kommt es in Gaza zu keiner grösseren militärischen Aktion. Gleichzeitig darf man auch nicht vergessen, dass es das Attentat auf das Park Hotel in Natanyah mit über 20 Toten und Dutzenden von Verletzten brauchte, damit die Regierung Sharon 2002 eine gross angelegte Militäroperation startete. In der Politik gibt es einen Wert, den man zynisch die noch akzeptable oder erträgliche Zahl der Todesopfer nennt, bevor eine massive Militäroperation gerechtfertigt ist. Anscheinend haben unsere Toten und Verletzten die vorgeschriebene Mindestquote noch nicht erfüllt. Es ist jedoch nur eine Frage der Zeit, bis die israelische Regierung zum Handeln gezwungen ist. Bis dahin muss unsere kleine Stadt wohl oder übel weiterhin einen hohen Preis in Form von Menschenleben, Geld und Blut zahlen. Die Einwohner von Sderot sind gegen ihren Willen, aber mit Mut und Entschlossenheit zu den neuen Helden Israels geworden. Glauben Sie mir, sie wären sehr viel lieber nur einfache Bürger und würden auf die allgemeine Bewunderung verzichten.“ Es herrscht der Eindruck vor, dass die Regierung nichts unternimmt oder zumindest nicht das tut, was man von ihr erwartet, nämlich die systematische Bombardierung von Gaza, bis alle von dort aus operierenden Terroristen völlig ausgemerzt sind. Heute gibt es Indizien dafür, dass die Hamas stärker wird, sich neu organisiert und in Kürze eine ähnliche Operation starten wird wie die Hisbollah 2006 gegen den Norden Israels. Bei unserer Abreise sagte mir Alon Davidi: „Die Regierung hat vorübergehend einige Einwohner in Jerusalemer Hotels und in anderen Städten des Landes untergebracht. Das ist natürlich keine Lösung, ganz im Gegenteil, damit ermutigt man den Feind, der seinem Ziel – eine von ihren Einwohnern verlassene jüdische Siedlung – ein ganzes Stück näher kommt… mit Hilfe des Staates Israel. Der Abnützungskrieg, der Sderot und die umliegenden Ortschaften heimsucht, ist hart und mit grossen Opfern verbunden. Wir können unsere Feinde nur bekämpfen und ihre Pläne durchkreuzen, wenn wir alle zusammenhalten, wenn jeder von uns seine Freunde und Brüder unterstützt und stärkt. Nur die Beibehaltung und die Verstärkung einer konstanten jüdischen Präsenz in Sderot und in diesem Teil des Negev geben uns die Möglichkeit, diesen Krieg zu gewinnen.“ |