Zwischen Orient und Okzident
Von Roland S. Süssmann
Zu dem Zeitpunkt, da das Problem der Türkei-Europa immer komplexer wird; da Papst Benedikt XVI. zwecks Beruhigung der islamischen Welt in die Türkei reist, um in einer Moschee zu beten; da zwei unmittelbare Nachbarn der Türkei, Iran und Russland, ein verwickeltes und gefährliches politisches Spiel treiben, stellen wir uns eine einzige Frage: wie steht es um die jüdische Gemeinschaft der Türkei in diesem Land, das direkt von dieser so schwierigen geopolitischen Entwicklung beeinflusst wird? Vergessen wir nicht, dass die Türkei allgemein als laizistischer Staat gilt, der von einer islamischen, wenn auch gemässigten Partei regiert wird und in dem Glaubensfreiheit herrscht, obwohl die offizielle und formelle Identifizierung der Juden mit Israel nicht selbstverständlich ist.
Es gibt hier keine zionistische Erziehung und Ausbildung, und die zionistisch ausgerichteten jüdischen Organisationen, wie beispielsweise WIZO oder Keren Hayessod, sind hier nicht vertreten. Letztendlich befassen sich die Gemeinden ausschliesslich mit der Ausübung der Religion oder mit gesellschaftlichen und sportlichen Anlässen sowie mit Vereinsarbeit. Um besser zu verstehen, wie das Leben der Juden in der Türkei von heute aussieht, haben wir ein Gespräch mit dem türkischen Oberrabbiner geführt, dem Hahambaschi ISAK HALEVA, der uns exklusiv und mit grosser Wärme empfing.

Können Sie uns in wenigen Worten eine Momentaufnahme vom türkischen Judentum der Gegenwart geben?

Bevor ich auf Ihre Frage eingehe, möchte ich an dieser Stelle daran erinnern, dass wir die Nachkommen und Erben der grossen jüdischen Geschichte sind, die während Jahrhunderten in der Türkei stattgefunden hat. Ich denke da ganz besonders an die glorreiche Zeit des Osmanischen Reichs, als die hiesige jüdische Gemeinschaft eine der bedeutendsten der Welt war. Nach der Vertreibung aus Spanien trat die Türkei die Nachfolge an, und viele jüdische Intellektuelle, berühmte Rabbiner und zahlreiche andere hochrangige Persönlichkeiten von internationalem Ruf stammen aus der Türkei. Wir profitieren heute von diesem Erbe und verkörpern die Fortsetzung des ursprünglichen sephardischen Judentums. Vor diesem Hintergrund bewahren wir natürlich unsere Traditionen und bemühen uns nach Kräften, das Judäo-Spanische, auch Ladino genannt, zu retten und zu pflegen. Diese Sprache ist, wie auch das Jiddische, seit rund 30 Jahren im Rückgang begriffen, die Juden sprechen heute alle türkisch. Dennoch sind wir eine sehr traditionalistische sephardische Gemeinschaft geblieben und keiner politischen oder religiösen Strömung zuzuordnen, wie dies in anderen Ländern der Fall ist. Wir kennen im Grunde nur ein einziges Merkmal: wir sind Juden, ob fromm oder nicht gläubig, und dies stellt das Fundament für unser Zusammengehörigkeitsgefühl dar. Überall da, wo es Juden gibt, steht auch eine Synagoge. Bis vor kurzem zählten wir 18 Synagogen, doch heute sind es bereits 19. Wir haben nämlich letzthin in einem Quartier, in dem sich in der letzten Zeit zahlreiche Juden niedergelassen haben, eine neue Synagoge eröffnet; es war undenkbar, dass ein derartiges Viertel keine Synagoge besitzen sollte. Dazu muss man wissen, dass ihr eine grosse Bedeutung zukommt und sie das Herz des jüdischen Lebens darstellt, da sich die Menschen, obwohl sie nicht sehr fromm sind und am Schabbat arbeiten, mit ihrer Synagoge sehr verbunden fühlen. Vielen von ihnen ist es unter der Woche ein ganz besonderes Anliegen, in ihre Synagoge zu kommen und dort das Minjan zu gewährleisten (Anzahl von mindestens zehn Männern als Voraussetzung für das gemeinsame Gebet).
Unser ganz besonderer Stolz gilt unserer jüdischen Schule, die vom Kindergarten bis zur Maturität von fast 500 Schülern besucht wird. Früher arbeiteten die Juden in allen Berufen und nicht selten traf man auf einen jüdischen Schuhmacher oder Malermeister. Dies ist heute nicht mehr der Fall. Die meisten unserer jungen Leute lernen einen kaufmännischen Beruf und treten in die Geschäftswelt ein.
Eine kleine Anekdote, die Sie vielleicht interessieren wird: in Istanbul gibt es zwei koschere Restaurants; das eine ist nur mittags, das andere mittags und abends geöffnet. Sie sind dermassen erfolgreich, dass wir ernsthaft planen, das zweite in grösseren Räumlichkeiten unterzubringen. Die rituelle Schächtung ist natürlich gestattet. Wir besitzen auch ein seit über 100 Jahren bestehendes jüdisches Krankenhaus namens «Or Hachaym», das damals von den Familien Kadury und Sasson finanziert wurde. Diese Institution ist in medizinischer Hinsicht recht modern, verfügt aber im Bereich der Chirurgie oder der langfristigen Betreuung nicht über die geeignete Ausstattung. Natürlich werden dort nur streng koschere Mahlzeiten serviert und im Prinzip nur jüdische Patienten aufgenommen. Darüber hinaus verfügen wir über zwei Altersheime, eines für noch selbständige Menschen, das andere für den allerletzten Lebensabschnitt.

Die Tatsache, dass es zwei Altersheime gibt, beweist doch irgendwie, dass es sich um eine alternde Gesellschaft handelt. Trifft dies tatsächlich zu?

Ja, wie dies leider fast überall in Europa der Fall ist. Dies ist insbesondere darauf zurückzuführen, dass zahlreiche Gemeindemitglieder nach Israel ausgewandert sind. Doch ich glaube nicht, dass die Überalterung das eigentliche Problem unserer Gemeinschaft ist. Unglücklicherweise leiden wir hier auch unter der unheilvollsten Seuche, an der das jüdische Volk heute krankt: der Assimilierung. In unseren Jugendzentren tun wir alles, um die jungen Leute für unsere Werte und unser religiöses Erbe zu interessieren, doch der Hauptzweck dieser Zentren besteht darin, unserer Jugend Begegnungsmöglichkeiten zu bieten, damit sie sich kennen lernen und vielleicht untereinander heiraten. Ein jüdischer Mann, der eine Frau einer anderen Religion ehelicht, verlässt allerdings deswegen nicht seine Synagoge. Er bewegt sich weiterhin in unseren Kreisen. Auch wenn dies zunächst positiv scheint, beinhaltet diese Situation letztendlich doch ein sehr schädliches Element: das Vorleben eines schlechten Beispiels. Es zeigt, dass eine gemischte Ehe mit nichtjüdischen Kindern nicht davon abhält, die Synagoge zu besuchen. In unserem Kampf gegen die gemischten Ehen haben wir eine Art Club für jüdische Singles im Alter von 25 Jahren und mehr eröffnet, in dem alle möglichen kulturellen Aktivitäten und Ausflüge angeboten werden. Dank diesen Veranstaltungen haben sich schon mehrere Ehepaare gefunden. Diese Lösung wird nicht alle Probleme aus der Welt schaffen, doch wir versuchen doch nach Kräften, den Schaden zu begrenzen. In diesem Sinne drücke ich in mancher Hinsicht ein Auge zu. So weiss ich beispielsweise genau, dass viele unserer Glaubensbrüder an Schabbat mit dem Auto in die Synagoge fahren. Ich habe da zwei Optionen: entweder ich mache ihnen Vorwürfe und verbiete ihnen, unter diesen Umständen zu kommen; oder ich schliesse die Augen und denke, dass sie mit ihrem Besuch der Synagoge wenigstens ihren Kindern als Vorbild vorangehen. Die Teilnahme am Gottesdienst entwickelt das Gefühl der Zusammengehörigkeit in unserer Gemeinde und die jüdische Identität. In der Türkei beruht die Erziehung auf drei Pfeilern: auf der religiösen Ausbildung und der Vermittlung der Grundlagen und der Gebräuche des Judentums; auf der Tätigkeit zugunsten der Jugend, die sowohl auf kultureller als auch auf sportlicher Ebene stattfindet; und schliesslich auf der Bewahrung der Erinnerung und des Andenkens mit Hilfe der ladinischen Sprache. Ich bin überzeugt, dass wir durch die Vermittlung der wesentlichen Grundlagen des Judentums an unsere Jugend von Kindsbeinen an die gemischten Ehen und die Assimilierung mittel- und langfristig erfolgreich bekämpfen können. Eine Person, die eine dieser Bezeichnung würdige jüdische Erziehung genossen hat, wird ganz bestimmt zögern, eine Verbindung mit einem andersgläubigen Menschen einzugehen, weil sie dann nicht mehr gemäss den Grundprinzipien ihrer religiösen Identität leben und diese auch nicht an ihre Kinder weitergeben kann.

Sie erwähnen zu Recht die Bedeutung der jüdischen Erziehung. Welcher Anteil des Lehrplans an der jüdischen Schule ist dem Studium des Judentums einschliesslich der hebräischen Sprache gewidmet? Sind die jüdischen Fächer fester Bestandteil des Programms und der Maturitätsprüfungen?

Die Lektionenzahl für die jüdischen Fächer ist leider sehr beschränkt: fünf Wochenstunden in den Primarschulklassen und vier Stunden am Gymnasium. Grund dafür ist die Tatsache, dass die Schule staatlich anerkannt ist und den Lehrplan des Erziehungsministeriums einhalten muss. Ein grosser Teil des Unterricht wird übrigens in englischer Sprache erteilt, der zweiten obligatorischen Sprache, und nicht auf Hebräisch. Die Antwort auf Ihre zweite Frage fällt leider negativ aus. Für die Erlangung des Abschlussdiploms müssen die Schüler aber alle Kurse in Judaistik und Hebräisch besucht haben. Ich möchte einen weiteren wichtigen Punkt erwähnen: Die Erfolgsquote bei der Maturität beträgt 100%.

Laut gewissen Berichten vergeht kein Freitag, an dem nicht beim Verlassen der Moschee eine israelische Flagge verbrannt wird. Wie sehen unter diesen Umständen Ihre Beziehungen zur muslimischen Geistlichkeit aus?

Sie sind wirklich ausgezeichnet, ich unterrichte übrigens an der muslimischen Fakultät für Theologie. Wir führen einen offenen und beständigen Dialog. Vor einigen Jahren begleitete ich überdies 18 Dozierende der muslimischen Fakultät für Theologie nach Israel, wo sie von der Universität von Bar Ilan eingeladen worden waren. Zu den von Ihnen erwähnten Vorfällen kann ich nur sagen, dass es hier, wie überall, islamische Extremisten gibt, doch dass unsere Beziehungen zu den Muslimen im Allgemeinen erfreulich sind, insbesondere auf Regierungsebene. Die Grundlagen der modernen Türkei sind immerhin weltlicher Art.

Wie schätzen Sie also den Antisemitismus in der Türkei ein?

Im Grossen und Ganzen werden wir gut akzeptiert und leben in bestem Einvernehmen mit der muslimischen Bevölkerung der Türkei, mit der wir zahlreiche Gemeinsamkeiten und ähnliche Interessen aufweisen. Dennoch ist natürlich auch hier Antisemitismus zu beobachten, doch dazu muss man wissen, dass er direkt von der arabischen Welt angestiftet und beeinflusst wird. Dies ist damit zu erklären, dass der arabisch-israelische Konflikt in der gesamten muslimischen Welt als jüdisch-islamischer Konflikt dargestellt wird. Natürlich vergiftet dies in gewisser Weise unsere Beziehungen, doch wie bereits erwähnt, sind meine Kontakte zu den Muslimen ausgezeichnet und gehen Hand in Hand mit einem offenen und intelligenten Austausch.

Wie sehen Sie die Zukunft Ihrer Gemeinde?

Wir sind, wie gesagt, die Erben einer grossen Gemeinschaft, so dass wir langjährige Erfahrungen mit dem Leben in der Diaspora haben. Solange sich die Lage nicht verschlechtert, wird unsere Gemeinschaft meiner Ansicht nach weiter bestehen. Wir sind äusserst wachsam, und wenn wir angegriffen werden, insbesondere von der Presse, verteidigen wir uns, wie es uns als türkischen Staatsbürgern in einem laizistischen Land zusteht.

Am 1. Dezember 2006 wurden Sie in der Villa Roncalli von Papst Benedikt XVI. empfangen. Worum ging es bei Ihrem Gespräch wirklich?

Der Papst ist, wie Sie wissen, nicht nur der geistliche Führer der Kirche, sondern auch Staatspräsident des Vatikans. In der Türkei betreiben die Juden keine Politik und haben sich da auch nie eingemischt. Ich habe den Papst vor diesem Hintergrund getroffen und habe dabei auch nicht vergessen, dass er als Privatsekretär von Johannes Paul II. diesen dazu anregte, die Synagoge in Rom aufzusuchen und nach Israel zu reisen. Unser Austausch fand daher auf rein religiöser Ebene statt, und ich hoffe, dass sein Wirken uns allen, Juden und Nichtjuden, zugute kommen wird.

Können Sie uns abschliessend sagen, welche Hauptaufgabe Sie in Ihrer Funktion zu erfüllen haben?

Unsere grösste Sorge ist die fortschreitende Assimilierung. Doch gleichzeitig setze ich mich nach Kräften dafür ein, dass sich die Juden der Türkei in die Gesellschaft eingliedern können und dabei ihre jüdische Identität bewahren. Die Kunst besteht darin, dieses heikle Gleichgewicht beizubehalten, nämlich ein zugleich authentisches als auch weltoffenes Judentum zu vermitteln? Dieser Aufgabe widme ich fast meine ganze Zeit, vor allem mit dem Ziel, die Generation heranzubilden, welche die zukünftige jüdische Gemeinschaft der Türkei darstellen wird.