Häme und Honig
Von Emmanuel Halperin,
unserem Korrespondenten in Jerusalem

Eine in ihr Verderben schlitternde Gesellschaft, unglaubwürdige und korrupte Führungspersönlichkeiten, nur auf ihr Image bedachte Politiker, skrupellose Geschäftsleute, eine Armee voller Selbstzweifel, und darum herum erbitterter Hass gegenüber diesem Land, gegenüber dem, was es darstellt, ein Hass, der Zerstörung will und nur auf die erste günstige Gelegenheit wartet. Dieses Bild entsteht vor dem inneren Auge, wenn man die in den Medien beschriebenen Ereignisse der letzten Monate zur Kenntnis nimmt. Dieser Eindruck wird ausserdem von einigen Israelis, die von prophetischem Wahn gepackt werden und zu Jammertiraden neigen, überall dort verbreitet, wo sich eine Plattform dafür bietet.
Doch so geht das nicht. Auch wenn man damit gegen den Strom schwimmt, nicht dem aktuellen Trend gehorcht, muss man doch einen klaren Kopf bewahren. In diesem Land war noch nie irgendetwas einfach und manchmal wird hier alles sehr kompliziert, doch das oben ausgemalte apokalyptische Bild widerspiegelt in erster Linie die gequälten Seelen seiner Urheber und kaum die Realität.
Und doch entspricht es ein wenig den Tatsachen, denn es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Ära der Gründerväter und ihrer Nachfolger zu Ende gegangen ist, dass das durchschnittliche Niveau der politischen Führungskräfte zu wünschen übrig lässt, dass sogar an der Staatsspitze oft unqualifizierte und manchmal lächerliche Leute stehen. Wie in den USA, in Italien, in Frankreich? Mag sein, aber es handelt sich um den Staat des jüdischen Volkes, und diese einzigartige Nation darf sich einfach nicht gehen lassen, sie braucht neue Persönlichkeiten, zumindest Männer, die Persönlichkeit zu haben scheinen, die sich gegen ihre Mitstreiter, aber auch gegen ihre Feinde durchsetzen. Dies ist gegenwärtig nicht der Fall, und die Israelis können nur auf die Rückkehr eines Netanjahu, eines Barak hoffen, mit anderen Worten dieselben Spielfiguren nehmen und wieder bei Null anfangen, wie zur wenig glorreichen Zeit der dritten Republik in Frankreich. Beide Männer besitzen unbestrittene Qualitäten aber auch gefährliche Schwächen und sind in der Vergangenheit gescheitert. Sie behaupten, sie hätten sich verändert, hätten sich Gedanken gemacht, seien gereift. Dies klingt nicht sehr glaubwürdig, aber so sehr man auch Ausschau hält und den suchenden Blick schweifen lässt? wer käme sonst in Frage? Ja, wer, ausser ihnen?
Doch schauen wir einmal genauer hin. Ja, in den letzten Jahren, Monaten haben mehrere Korruptionsgeschichten für Aufsehen gesorgt. Doch egal, wie man darüber denken mag - und Analogien sind verführerisch und so schnell zur Hand -, dieser Umstand hat nichts gemein mit der Korruption im grossen Massstab, wie sie in den meisten Gesellschaften dieser Welt vorkommt. Hat der Premierminister einigen seiner politischen Freunde interessante Positionen in der Regierung verschafft? Hat er womöglich beim Kauf eines Hauses von Sonderkonditionen profitiert? Hat er vielleicht erfolglos versucht, das Ergebnis bei der Ausschreibung für die Übernahme einer Bank zu beeinflussen? Sollen andere Spitzenpolitiker gar wiederholt einflussreiche Mitglieder ihrer Partei bestochen haben, um ihre Wiederwahl zu sichern? Dieser Art sind die Vorfälle, die von der Polizei, der Justiz, der staatlichen Kontrollinstanz sowie den Medien ungehindert untersucht werden. Dies alles ist natürlich nicht ganz harmlos, entspricht aber auch nicht dem abgrundtiefen Sündenpfuhl, den einige auszuheben gedenken. Und auch wenn einiges faul sein sollte in der Classe politique - was mehr als wahrscheinlich ist -, dann wird der entstandene Gestank durch die laufenden Aufräum- und Reinigungsarbeiten freigesetzt. Denn die Gesellschaft verteidigt sich und erweist sich dabei als äusserst effizient. Und zwar so sehr, dass immer häufiger das Gegenteil zu hören ist: Ihr übertreibt, heisst es plötzlich, ihr geht zu weit, all diese Untersuchungen lähmen nur das politische Geschehen und wirken abschreckend auf begabte Leute, die sich vielleicht zur Politik berufen fühlen.
Da sind überdies die Sittlichkeitsdelikte. Jene Geschichte, in die der Staatspräsident verwickelt ist, scheint natürlich sehr schwerwiegend zu sein, wäre aber nie ans Tageslicht gekommen, wenn die jungen Frauen nicht den Mut gehabt hätten, Klage zu erheben, weil sie genau wussten, dass man ihnen Gehör schenken würde, dass es in Jerusalem Richter gibt und dass niemand durch seine Stellung, seine Funktion, seine Position geschützt ist. Auch die Affäre um den Justizminister, der wegen einer obszönen Handlung verurteilt wurde, wäre bestimmt im Sand verlaufen, wenn er sich sofort für diesen ungestümen Kuss entschuldigt hätte und nicht so dumm gewesen wäre, alles abzustreiten.
Schlimmer sind die Zweifel betreffend die Funktionsweise und die Fähigkeiten der israelischen Armee. Auch hier muss man sehr genau hinsehen. Der zweite Libanonkrieg hat bestimmt gezeigt, dass sich die Armee - oder vielmehr bestimmte Sektoren der Armee - auf ihren Lorbeeren ausruhte, nachlässig geworden war, die Prekarität des Hinterlandes nicht mehr ausreichend in die Überlegungen einbezog, obwohl die Berichte der staatlichen Prüfungsstelle seit Jahren auf die Schwachstellen und Fehler hingewiesen hatten. Die verschiedenen abgeschlossenen oder noch laufenden Untersuchungen sollen nicht nur zur Bestrafung der Verantwortlichen führen, sondern vor allem eine echte Reform bewirken. Noch ist es nicht soweit und es gibt viel zu tun, doch zumindest weiss man jetzt, was Sache ist. Und es ist effektiv inakzeptabel, dass staatliche Einrichtungen während eines einmonatigen Kriegs so dramatisch versagt haben und es oft Freiwilligen und privaten Vereinigungen überliessen, die unter Raketenbeschuss leidende Bevölkerung im Norden des Landes zu schützen. Dabei darf man aber nicht vergessen, welche unbestrittenen Erfolge die Armee und die Sicherheitsdienste im Kampf gegen den Terrorismus erzielt haben; man erinnere sich doch einfach an die Situation vor 4 oder 5 Jahren. Und vor allem sollte man auch nicht die Tatsache ausser Acht lassen, dass es die Hauptaufgabe der israelischen Armee ist, die Existenz des Staates angesichts der allgemein bekannten strategischen Bedrohung zu gewährleisten. In diesem Zusammenhang deutet absolut nichts darauf hin, dass ihre Schlagkraft und ihr Wille anzuzweifeln wären. Fragen Sie die Befehlshaber der anderen Armeen weltweit zu ihrer Meinung dazu.
Und weshalb sollen andere positive Aspekte unterschlagen oder als belanglos abgetan werden? Israel erfreut sich 2007, ein Jahr vor seinem 60. Jahrestag, einer blühenden Wirtschaft (5% Wachstumsrate pro Jahr zum dritten Mal in Folge), zieht jüdische und nicht jüdische Investoren an, verfügt über Rücklagen von über 30 Millionen Dollar. Das kulturelle Leben, Literatur und Kunst erleben eine Blütezeit und geniessen weltweite Aufmerksamkeit. Die Israelis haben eine ähnlich hohe Lebenserwartung wie die Skandinavier, d.h. sie verfügen über medizinische Dienstleistungen, die zu den besten der Welt gehören, auch wenn die unzureichende Ausstattung der Krankenhäuser nicht ganz zu Unrecht kritisiert wird. Die Geburtenrate liegt sehr hoch und verzeichnete nach dem Libanonkrieg einen Babyboom mit einer Zunahme der Schwangerschaften von 35%. Dies alles weist weder auf den völligen Zerfall des Landes noch auf einen Vertrauensverlust hin.
Falls dennoch, vor allem bei den Eliten, ein gewisser Pessimismus zu spüren ist, so ist dies darauf zurückzuführen, dass die Hoffnung auf eine baldige Akzeptanz Israels durch seine Nachbarn grausam enttäuscht worden ist. Die Verfechter der Politik einseitiger Zugeständnisse, unter ihnen der Premierminister persönlich, mussten sich der Realität stellen und erkennen, dass derjenige, der in diesem simplistisch strukturierten Orient ohne Einforderung einer Gegenleistung nachgibt, als schwach und anfällig gilt. Selbst die recht beliebte Aussenministerin Livni, die sich für den Rückzug aus Gaza ausgesprochen hatte, musste zugestehen, dass sie sich geirrt hatte. Das Gefühl, in einer festgefahrenen Situation zu stecken, wird aber hie und da auch widerlegt. Wer hätte sich noch vor einigen Jahren träumen lassen, dass Saudi-Arabien sein Friedensangebot wiederholen, dass Syrien so nachdrücklich mit dem Zaunpfahl winken würde? Wer hätte angesichts der erstarkenden und immer ehrgeizigeren Gruppe der Schiiten und selbstmörderischen Islamisten an eine heute überaus wahrscheinlich scheinende objektive Allianz zwischen Israel und den gemässigten arabischen Regimes (alle sunnitisch) geglaubt?
Israel hat mehr als einen Trumpf im Ärmel, mehr als eine Chance, um seinen Fortbestand zu sichern, seine friedliche Existenz zu verankern, seinen guten Willen in einer Region voller Wirren zu beweisen, in der Rivalitäten und Kräfte aufeinanderprallen, die nur wenig mit seiner Präsenz zu tun haben. Zweifellos werden wir noch für einige Zeit unseren Traum von der Normalität begraben müssen, was vor allem jenen schwer fällt, die wirklich daran glaubten. Doch schon bald wird mindestens jeder zweite Jude auf dieser Welt Staatsbürger von Israel sein. Wenn man sich vor Augen hält, wo wir noch vor einiger Zeit standen, wie viel Wegstrecke wir bereits zurückgelegt haben, kann man kaum noch an der Fähigkeit dieser dynamischen Gesellschaft zweifeln, ihre Ängste und Unzulänglichkeiten zu überwinden. Weitsicht und Willenskraft besitzt sie nämlich im Überfluss.