Letzte Chance in Warschau ?
Von Professor Efraim Zuroff *
Die SHALOM Leserinnen und Leser sind bereits mit der “Operation: Letzte Chance” vertraut, die vom Simon Wiesenthal Center und der Targum Shlishi Foundation gestartet wurde: mit vereinten Kräften sollen Nazi-Kriegsverbrecher vor Gericht gebracht werden, indem eine finanzielle Belohnung für Informationen geboten wird, dank denen die strafrechtliche Verfolgung und Bestrafung ermöglicht wird.
Da wir nur über beschränkte Zeit und Mittel verfügten, war es von Anfang an klar, dass sich das Projekt ausschliesslich auf die Länder konzentrieren würde, in denen die lokale Bevölkerung aktiv an der Ermordung von Juden beteiligt war, d.h. auf Mittel- und Osteuropa im Gegensatz zu Westeuropa, wo die Einheimischen zwar beim Auffinden und beim Transport der Juden in die Todeslager mitmachten, sie jedoch nicht eigenhändig umbrachten.
Daher wurde die “Operation: Letzte Chance” im Juli 2002 in Estland, Lettland und Litauen schliesslich offiziell gestartet, da man davon ausging, dass in diesen Ländern die Aussicht auf Erfolg in ganz Europa wahrscheinlich am höchsten lag. Nach der erfolgreichen Lancierung des Projekts im Baltikum planten wir seine Ausweitung und diskutierten die Möglichkeit, auch Polen mit einzubeziehen. Einerseits erschien Polen als offensichtlicher Kandidat für eine derartige Ausdehnung, da die überwiegende Mehrheit der während des Holocausts getöteten Juden in diesem Land ermordet wurde, alle sechs Todeslager der Nazis (Auschwitz-Birkenau, Treblinka, Belzec, Majdanek, Chelmno und Sobibor) hier angesiedelt waren und ein extrem hoher Prozentsatz von polnischen Juden ums Leben gebracht wurde, in vielen Fällen mit der tatkräftigen Unterstützung von Polen. Andererseits hatten die Polen im Gegensatz zu den baltischen Staaten nie die Gelegenheit erhalten, aktiv an der systematischen Vernichtung des europäischen Judentums mitzuwirken. Die Nazis schufen keine polnische Sicherheitspolizei, die in den Apparat des Völkermords integriert war, sie beriefen keine polnischen Männer in die Waffen-SS und schufen auch keine lokale SS-Einheit wie beispielsweise in Lettland. Darüber hinaus wurden Polen nicht als Wärter in den Todes- und Konzentrationslagern auf polnischem Boden (oder anderswo) eingesetzt.
Und doch weisen zahlreiche historische Beweisstücke – Dokumente und Zeugenaussagen - auf nicht wenige Fälle hin, in denen einzelne Polen Juden ermordeten, das Versteck von Juden verrieten, Juden gegen eine Belohnung bei der Gestapo denunzierten, Juden daran hinderten, sich Partisanentruppen anzuschliessen und/oder sich zu verstecken. Dies alles ergibt ein eindeutiges Bild von der Komplizenschaft einzelner Polen bei der Ermordung ihrer jüdischen Nachbarn, so dass wir letztlich beschlossen, die “Operation: Letzte Chance” in Polen zu starten. Auch die Hartnäckigkeit meines Partners Aryeh Rubin, dessen Vater in den ersten Kriegswochen aus Polen fliehen konnte, trug als wichtiger Faktor zu dieser Entscheidung bei.
Wir hatten vor, nach demselben Modus operandi vorzugehen, den wir in den baltischen Staaten entwickelt hatten. Zunächst sollte eine Pressekonferenz in Warschau anberaumt werden, um das Projekt und die ausgesetzte Belohnung anzukündigen, danach sollten Anzeigen in der nationalen und lokalen Presse geschaltet werden. Dank der Unterstützung von Oberrabbiner Michael Schudrich kam eine Zusammenarbeit mit der jüdischen Gemeinschaft zustande, und wir hielten die Pressekonferenz am Nachmittag des 10. Septembers 2003 in der Nozyk-Synagoge ab. Im Gegensatz zu unseren Erfahrungen im Baltikum erwies sich jedoch unsere erste Pressekonferenz in Polen als kläglicher Reinfall, da ausser einem einzigen lokalen Journalisten kein Mensch erschien.
Der Grund für den geringen Erfolg und das völlige Desinteresse der Medien lag darin, dass die Polen sich im Allgemeinen nicht zu den Schuldigen im Holocaust zählen. Wenn überhaupt, sah sich die polnische Gesellschaft vielmehr selbst als Opfer der Nazis während des Zweiten Weltkriegs. Diese Haltung wurde neun Monate später, im Juni 2004, durch bekannte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens noch unterstrichen, als wir bekannt gaben, wir hätten eine kostenlose “Hotline” eingerichtet, um die Weiterleitung von Informationen betreffend polnische Verdächtige in Bezug auf die Ermordung von Juden zu erleichtern. Ironischerweise löste diese Ankündigung, und nicht die ursprüngliche Lancierung der “Operation: Letzte Chance”, eine heftige Debatte darüber aus, ob unser Projekt in Polen überhaupt gerechtfertigt sei. Zu den Diskussionsteilnehmern gehörten auch einige Juden oder Polen jüdischer Abstammung in führenden Positionen, deren Einmischung nicht zufällig erfolgte. Unter denjenigen, die Ostatnia Szansa erbittert kritisierten, war z.B. auch Prof. Bronislaw Geremek, ein ehemaliger Aussenminister, der vor kurzem als Abgeordneter ins Europäische Parlament gewählt worden ist und dessen Grossvater, ein Rabbi, in Auschwitz ums Leben kam. In einem Radiointerview gab er seinen “grössten Abscheu” für dieses Projekt zum Ausdruck, das ihn angeblich “mit Ekel und Angst” erfüllte. Geremek zog es vor, “die ganze Welt über die vielen guten Taten der Polen [zur Rettung von Juden] zu informieren”, und war daher “sehr überrascht” von unserer Initiative.
Auf Geremeks Interview bei Radio Zet folgte am 16. Juni 2004 ein Artikel auf der Titelseite der Gazeta Wyborcza, Polens grösster und wichtigster Tageszeitung, der parallel zu einem Gegenkommentar des Herausgebers Adam Michnik, Pole jüdischer Herkunft, erschien. Unter dem Titel “Irrglaube” griff der Artikel O:LC an, weil sie die Holocaust-Opfer herausgreife und ihnen im Gegensatz zu anderen Opfern einen Sonderstatus zugestehe, oder, wie er sagte: “Ich verstehe die Logik, die das ausschliessliche Töten von Juden zulässt, genauso wenig wie die Logik, welche die ausschliessliche Verfolgung ihrer Mörder verlangt”. Ausserdem zeigte sich Michnik besorgt darüber, dass die angekündigten Belohnungen der “Hölle der Rache, falschen Beschuldigungen und demagogischen Verallgemeinerungen” Tür und Tor öffnen würden; noch stärker befürchtete er, dass die Strafverfolgung älterer Verdächtiger mehr Schaden anrichten als Probleme lösen würde. Trotz seines grossen Respekts für Simon Wiesenthal war Michnik fest davon überzeugt, das Center mache einen schlimmen Fehler.
Die Ironie des Schicksals wollte es, dass diese scharfe Kritik auf einen empfindlichen Nerv traf (über 650 Reaktionen auf die Titelgeschichte in der Gazeta Wyborcza) und dem Projekt letztendlich die dringend benötigte Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit verschaffte, die in Polen bisher ausgeblieben war. Die Story landete in den elektronischen Medien auf dem ersten Platz, und es trafen zahlreiche Anfragen betreffend die Hotline und das Projekt ein. Vielleicht ebenso wichtig war die Tatsache, dass man sich dank der Kontroverse intensiv mit dem Thema der Komplizenschaft Polens bei Verbrechen gegen Juden und der Rolle auseinanderzusetzen begann, welche einige Polen im Schicksal des polnischen Judentums während des Holocausts gespielt hatten. Aus diesem Grund konnte ich einen längeren Meinungsartikel in der Gazeta Wyborcza veröffentlichen, in dem ich die Beweggründe und die Motive für die Lancierung der O:LC in Polen erklärte und die Kritik zu widerlegen versuchte, die von Geremek, Michnik sowie dem rechtschaffenen Nichtjuden und ehemaligen Aussenminister Polens, Wladyslaw Bartoszewski, ausgesprochen worden war. Letzterer vertrat die Auffassung, das Projekt sei “sinnlos” und würde dem Ruf von Simon Wiesenthal, der sich so sehr für Toleranz und Koexistenz eingesetzt habe, schweren Schaden zufügen. Mein Artikel enthielt folgende Hauptaussage: “Auch wenn Polen auf die Tätigkeit von Zegota, einer polnischen Organisation, die speziell zur Rettung von Juden gegründet worden war, und auch auf den Heldenmut anderer polnischer Gerechter unter den Völkern sehr stolz sein kann, lautet doch die traurige Wahrheit, dass viele Polen an der Ermordung ihrer jüdischen Nachbarn beteiligt waren, während andere die Nazis dabei unterstützten; dieser Realität muss man ehrlich ins Auge sehen. Natürlich wäre es den polnischen Politikern lieber, ihr Land würde ausschliesslich als Opfer der Nazis angesehen werden, doch dies ist nicht die vollständige Wahrheit, und es ist extrem wichtig, dass das gesamte historische Bild klar und für jeden sichtbar gezeigt wird. Ich bin der aufrichtigen Überzeugung, dass ein Weg daraus besteht, die Schuldigen in Polen vor Gericht zu bringen, und in diesem Sinne hoffen wir, dass die O:LC nicht nur erfolgreich sein wird, sondern dass ihre jetzigen Kritiker hinterher ihre Bedeutung und ihren Wert für das Land auch einsehen”.
Die Polemik, die durch die Lancierung der O:LC ausgelöst wurde, zeigte die gewünschte Wirkung, weil sie eine intensive öffentliche Debatte zum Thema der polnisch-jüdischen Beziehungen während des Holocausts in Gang brachte, aber auch dazu diente, den Zustrom von Informationen bei unserer Hotline drastisch zu erhöhen. Wie erwartet handelte es sich bei allen Verdächtigen um Einzelpersonen, die Juden ermordet hatten, in einigen Fällen sogar Menschen, die sie zunächst versteckt hatten, später aber aus offensichtlicher Geldgier töteten.
Kurze Zeit nachdem die Polemik um das Projekt in den Medien Schlagzeilen gemacht hatte, wurden wir mit einem ernsthaften Problem in Form einer staatlichen Untersuchung der O:LC konfrontiert. Laut einem Brief von Elzbieta Ostrowska vom Büro des Generalinspektors für Datenschutz war eine Beschwerde gegen das Projekt eingegangen, in deren Folge die offizielle Untersuchung begann. Uns wurde vorgeworfen, durch die Verbreitung von Informationen über polnische Staatsbürger in Übersee ohne deren Zustimmung gegen die polnischen Datenschutzgesetze zu verstossen, und die Behörden wollten Namen und Adresse der zuständigen Person wissen. Dem Brief war nicht zu entnehmen, wer genau die Klage eingereicht hatte, doch es musste sich um politische Gegner des Projekts handeln; wir hatten keinesfalls die Absicht, dem Begehren nachzukommen oder unsere einheimischen Mitarbeiter in irgendeiner Art zu gefährden.
In der Zwischenzeit war ein weiteres Problem aufgetreten, als Fakt, eine beliebte Boulevardzeitung, sich grundsätzlich weigerte, unsere Anzeigen zur Ankündigung der O:LC zu veröffentlichen. Die Zeitung behauptete, sie habe das Recht, jede Anzeige abzulehnen, die dem Charakter ihrer Publikation widerspreche oder “gegen das Gesetz oder gesellschaftliche Normen” verstosse. Damit reagierte Fakt zweifellos auf die durchwegs negativen Antworten in Polen auf die “Operation: Letzte Chance”.
In beiden Angelegenheiten verschlechterte sich die Situation im Herbst, als der Generalinspektor für Datenschutz ein direktes Gespräch über das Problem ablehnte und stattdessen mit juristischen Massnahmen drohte, während wir gleichzeitig bei unseren Bemühungen, die Anzeigen zu veröffentlichen, immer wieder durch technische Schwierigkeiten behindert wurden. Letzteres stellte ein ziemliches Hindernis für unsere Anstrengungen dar, obwohl bis im Frühjahr 2005 bereits über 50 Telefonanrufe mit der Angabe von 20 Verdächtigen auf unserer Hotline eingegangen waren. Im Juni kam uns allerdings wieder die Justiz in die Quere, als die Person, die unsere Hotline betreute, zu einer Einvernahme ins Büro des Generalinspektors für Datenschutz geladen wurde. Bei dieser Gelegenheit erfuhren wir, dass die ursprüngliche Klage vom polnischen Senator Adam Biela von der “Liga polnischer Familien”, einer rechtsextremen nationalistischen Partei, eingereicht worden war. Eine Woche später wurde auch Rabbi Schudrich, in dessen Büro sich die Hotline befand, zu einem Verhör vorgeladen, in dessen Verlauf die polnischen Behörden endlich beschlossen, das Verfahren einzustellen.
Im Juli 2006 waren uns die Namen von 23 Verdächtigen angegeben worden, die fast alle dem Profil entsprachen, mit dem wir für die Mörder von Juden, die sie zunächst verstecken wollten oder schon früher kannten, gerechnet hatten. Wir hatten unterdessen aber auch erfahren, dass einige der interessantesten Verdächtigen nicht mehr lebten, und es hat sich als extrem schwierig erwiesen, die Anschuldigungen gegen die übrigen zu bestätigen. Letztendlich konnten wir bisher dem Polnischen Institut für Nationale Erinnerung nur einen Namen mit dem Antrag um Strafverfolgung einreichen, nämlich denjenigen von Erna Pfannstiel Wallisch, einer heute in Österreich lebenden Deutschen, die als Wärterin in Majdanek arbeitete.
In Bezug auf die Komplizenschaft bei Holocaust-Verbrechen ist Polen eindeutig nicht mit Litauen oder Lettland gleichzusetzen, doch die “Operation: Letzte Chance” hat zu Tage gebracht, wie weit verbreitet in der polnischen Gesellschaft noch heute die Verleugnung der Rolle ist, die Einzelpersonen in Polen bei der Ermordung von Juden während der Schoah gespielt haben. Falls irgendwann ein polnischer Holocaust-Täter dank der O:LC vor Gericht gestellt wird, würde dies natürlich als grosser Erfolg gelten, aber die Tatsache, dass die polnische Gesellschaft sich nun mit der Mittäterschaft einzelner Bürger bei den Verbrechen auseinandersetzen muss, die zur Vernichtung einer der grössten und wichtigsten jüdischen Gemeinschaften Europas beitrugen, war die Anstrengung auf jeden Fall wert.

*Dr. Efraïm Zuroff ist Nazi-Jäger, Historiker, Schoah-Spezialist und Leiter des Jerusalemer Büros des Simon Wiesenthal Centers in Los Angeles. Man kann mit ihm Kontakt aufnehmen unter: swcjerus@netvision.net.il, oder seine Website besuchen: www.operationlastchance.org.