Verband der Jüdischen Kultusgemeinden in Polen
Von Roland S. Süssmann
Im Verlauf unserer Reise durch die jüdischen Gemeinden in aller Welt haben wir uns dieses Mal zu einem Halt in Warschau entschlossen, um eine Momentaufnahme des jüdischen Lebens im Polen der Gegenwart zu erstellen. Zu diesem Zweck haben wir mit ANDRZEJ ZOZULA gesprochen, dem Direktor des Verbands jüdischer Kultusgemeinden in Polen. Diese Dachorganisation der heute in Polen bestehenden jüdischen Gemeinden ist die einzige offizielle Vertretung des polnischen Judentums gegenüber den Behörden.
Dem Verband gehören acht jüdische Gemeinden an: Warschau, Wroclaw, Krakau, Lodz, Szczein, Katowice, Bielsko-Biala und Legnica. Es gibt natürlich kleine parajüdische Gruppen und kulturelle Vereinigungen mit religiösem Charakter, wie die reformierte Bewegung Beit Warszawa, die nichts authentisch Jüdisches besitzt.
Der Verband hingegen bemüht sich nach Kräften, das traditionelle jüdische Leben aufrecht zu erhalten und zu bewahren und führt daher täglich echte Gottesdienste durch, bietet den Juden in Polen aber auch alle herkömmlichen Dienstleistungen einer Gemeinde an, wie z.B. Friedhof, rituelles Bad, koschere Kantine, und finanziert vor allem ein Mindestmass an jüdischem Leben in kleinen Gemeinden sowie eine äusserst aktive Sozialhilfe. Zur Erinnerung: Vor der Schoah zählte Warschau 300'000 Juden, heute verzeichnet die Gemeinde 400 offiziell registrierte Mitglieder, von denen rund 200 allein stehende ältere Menschen sind.

Können Sie uns das heutige jüdische Leben in Polen beschreiben?

Die jüdische Gemeinschaft von Polen befindet sich in gewisser Weise im Stadium der Wiederauferstehung. Man kann sie natürlich keinesfalls mit derjenigen vergleichen, die vor dem Krieg bestand, und so wird sie auch niemals wieder werden. Die Gemeinschaft wächst aber stetig, wir beobachten eine Art Erwachen der Jugend. Regelmässig klopfen junge Juden bei uns an, denen ihre jüdische Identität bis heute ziemlich gleichgültig war. Diese Menschen wissen, dass es einen Ort gibt, an den sie kommen können, wo sie einen Gesprächspartner finden, an einem Gottesdienst teilnehmen oder auch einfach ihre Wurzeln erforschen können, und an den sie, falls sie sich bei uns wohl fühlen, so oft zurückkehren können, wie sie es wünschen. Diese selbstverständliche Präsenz, die gewissermassen den Hauptzweck unserer Existenz darstellt, geht weit über die traditionellen Programme hinaus, die von den Kultusgemeinden in aller Welt angeboten werden.
Immer wieder fragt man mich, wie viele Juden denn heute in Polen leben. Dies weiss effektiv niemand genau, die Schätzungen reichen von 10'000 bis 30'000 Juden. Man muss sich klar machen, dass die Ängste, die das kommunistische Regime fest in die Köpfe eingepflanzt hatte, 17 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer noch immer latent vorhanden sind. Uns sind Fälle bekannt, wo Eltern ihren Kindern auf dem Sterbebett mitteilen, dass sie in Wirklichkeit nicht ihre eigenen Kinder sondern Juden sind, die sie während des Kriegs versteckt und gerettet haben, weil ihre biologischen Eltern deportiert wurden. Die betreffenden «Kinder» sind heute rund 60 Jahre alt, sind verheiratet und haben ihre Kinder zu guten Katholiken erzogen. Was sollen sie nun tun? Sollen sie ihre Kinder über diese Enthüllungen informieren und ihnen sagen, sie seien eigentlich Juden? Sollen sie die Augen davor verschliessen und schweigen? Andere hingegen haben immer gewusst, dass sie jüdisch sind, hatten aber nie den Mut oder den Willen, ihre Familien über ihre Identität aufzuklären. Gewisse andere, ehemalige Kommunisten oder Angehörige der polnischen Berufsarmee, hinterlassen einen Brief, in dem es heisst, sie würden gern als Juden beerdigt werden. Wieder andere haben gewartet, dass ihr Ehepartner stirbt, oder werden direkt von ihren Grosseltern über diese Tatsache informiert und beschliessen zu ihrer jüdischen Identität zu stehen. Es handelt sich also um einen dramatischen, aber auch komplexen Problemkreis, und wir mussten einen psychologischen Beratungsdienst für die Personen schaffen, die vor einem derartigen Dilemma stehen. Ein korrekter Schätzwert der in Polen lebenden Juden ist daher unmöglich. Vor kurzem fand ein Kolloquium von katholischen Priestern statt, die alle wussten, dass sie Judenkinder sind und von der Kirche versteckt worden waren. Im Laufe dieser Konferenz sprachen sie davon, wie oft sie während der Beichte die Worte hörten: «Gegenüber meinem Mann und meinen Kindern lebe ich mit einer Lüge und folglich in Sünde, denn in Wirklichkeit bin ich Jüdin, habe es aber nie ausgesprochen». Es zeigte sich, dass jeder dieser Priester Dutzende von ähnlichen Fällen kannte und dass die kumulierte Zahl fast 50'000 Menschen umfasste. Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, was diese Schätzung wert ist, aber sie ist dennoch sehr aufschlussreich. Ich glaube nicht, dass das Entwicklungspotenzial der Gemeinde ebenso hohe Zahlen erreicht, doch betreiben ja, wie schon erwähnt, eine Politik der offenen Tür; noch können wir nicht voraussagen, in welche Richtung sich die Situation entwickeln wird. Gegenwärtig zählen wir in sämtlichen jüdischen Organisationen, Gemeinden und Kulturvereinigungen ca. 5'000 offiziell registrierte Juden.

Weshalb sind die Juden nach der Schoah, nach dem Kommunismus und schliesslich nach dem Fall der Berliner Mauer eigentlich in Polen geblieben?

Es sind in Wahrheit nur ganz wenige hier geblieben. Im Allgemeinen wurden sie von zwei Gründen zurückgehalten: entweder weil sie aufrichtig an die guten Seiten des Kommunismus und an die Hoffnung glauben, den er angeblich vermittelte; oder weil sie sich hier eine Familie und/oder eine berufliche Existenz aufgebaut hatten und ihre persönlichen Bindungen stärker waren als alles andere.

Wie sehen Sie die Zukunft Ihrer Gemeinde?

Ich bin überzeugt, dass es für die Juden in Polen eine Zukunft gibt. Wie schon oben ausgeführt, glaube ich nicht, dass wir je eine grosse Gemeinschaft sein werden, wir werden eine kleine Minderheit bleiben, deren Mitglieder zum Teil in den Registern der Gemeinde eingetragen sind, zum Teil auch nicht, die aber offen zu ihrer jüdischen Identität stehen werden. Meiner Ansicht nach wird das jüdische Leben eher auf kulturelle Aktivitäten ausgerichtet sein, in deren Rahmen die Menschen mit einer gemeinsamen Vergangenheit und Zukunft sowie einem gemeinsamen Schicksal Zeit miteinander verbringen möchten. Ich denke nicht, dass der Wunsch nach einer verstärkten religiösen Praxis eine entscheidende Rolle spielen wird, obwohl zahlreiche Personen an den Gottesdiensten teilnehmen. Wir stehen trotz allem vor einem recht spannenden neuen Phänomen. Immer mehr Menschen interessieren sich für die konkrete Ausübung der Religion, und wir haben eine erhöhte Nachfrage in Bezug auf Konversionen festgestellt, und zwar bei Personen, bei denen nur der Vater Jude war. Dazu muss man wissen, dass es zur Aufnahme als Gemeindemitglied bei uns nicht erforderlich ist, Jude gemäss der Halachah zu sein, obwohl dies unabdingbar ist, um aktiv am Gottesdienst teilzunehmen, zur Torah gerufen zu werden, zu heiraten usw. Wie ich bereits sagte, habe ich allen Grund optimistisch zu sein, weil in den vergangenen zwei Jahren die Zahl unserer Mitglieder deutlich gestiegen ist und wir öfter Eheschliessungen als Beerdigungen begehen konnten!

Offiziell vertreten Sie die jüdische Gemeinschaft Polens, in der insgesamt ca. 5'000 Juden in allen jüdischen Organismen zusammen eingetragen sind. Gleichzeitig teilen Sie uns mit, dass mehrere zehntausend Juden (bis zu 30'000) in Polen leben und noch nicht erfasst wurden. Können Sie unter diesen Umständen wirklich behaupten, dass Sie die Juden aus dem heutigen Polen repräsentieren? Wie schwer fällen Sie als Vertretung bei den polnischen Behörden ins Gewicht?

Wenn Sie mich fragen, ob wir nun den Auftrag besitzen, die mehreren zehntausend in Polen lebenden Juden zu repräsentieren, lautet meine Antwort nein. Wir vertreten aber unsere Mitglieder und verteidigen eine Position, von der wir annehmen, dass damit die Rechte der Juden gewahrt werden. Gegenüber den Behörden besitzen Ziffern keine grosse Bedeutung. Was zählt, ist unsere juristische Stellung. Von diesem Standpunkt aus gehören wir zu den ethnischen Minderheiten, von denen es in Polen viele gibt; es existiert übrigens ein Rat der ethnischen Minderheiten, dem wir ebenfalls angehören. In dieser Eigenschaft besitzen wir dieselben Pflichten, Rechte und Privilegien wie alle anderen Mitglieder des Rats. Als religiöse Gemeinschaft sind wir in der Gruppe der zehn religiösen Institutionen (römisch-katholische Kirche, russisch-orthodoxe Kirche, protestantische Kirche usw.), deren bevorzugter Status durch besondere Gesetze geregelt wird. In Polen herrscht natürlich umfassende Glaubensfreiheit, doch die Tatsache, dieser Zehnergruppe zugerechnet zu werden, verleiht einen verstärkten juristischen Status.

Wie steht es um die Zurückerstattung des jüdischen Eigentums, das von den Deutschen und den polnischen Kommunisten gestohlen wurde?

Ein Teil der geraubten Gegenstände betrifft auch andere Religionen, wie z.B. die katholische Kirche. Im Zusammenhang mit der Rückerstattung des jüdischen Gemeindebesitzes trägt das Verfahren den Namen «Regelung der Vermögenswerte», was bedeutet, dass wir nicht jedes Grundstück zurückverlangen können, das vor dem Krieg einer Gemeinde gehörte. Im Grossen und Ganzen handelt es sich um eine recht komplexe Gesetzgebung und Aufteilung, die auch Überraschungen bereithält. So besassen die Gemeinden in Warschau, wo fast 300'000 Juden lebten, vor dem Krieg nur wenige Synagogen, die anderen waren Privateigentum. Die Dinge liegen zwar ziemlich einfach in Bezug auf die Friedhöfe und die Synagogen, erweisen sich aber als viel komplizierter bei Immobilien. So muss ein Gemeindezentrum, das vor dem Krieg existierte, an dem Tag noch bestehen, an dem das Rückerstattungsgesetz zur Anwendung kommt, was in Warschau nur selten zutrifft. Wir haben in jedem einzelnen Fall zu beweisen, dass das Gebäude der Gemeinde gehörte, dass es sich wirklich um dasselbe Haus handelt und dass es damals zu allen möglichen Gemeindezwecken verwendet wurde. Unter diesen Umständen kann man eigentlich kaum von Rückerstattung sprechen, da wir juristisch gesehen nur einen Drittel der früheren Vermögenswerte zurückverlangen dürfen. Ausserdem ist das ganze Verfahren extrem langsam, so dass es uns bis heute mit viel Mühe gelungen ist, erst rund hundert Fälle pro Jahr zu regeln. Das ist aber nicht nur ein jüdisches Problem, denn die katholische Kirche fordert seit 1989 ebenfalls einen Teil seines früheren Besitzes zurück. Dabei möchte ich die Macht dieser Kirche keinesfalls mit unserm Einfluss vergleichen…

Was kann man zu den Diebstählen in Bezug auf individuelles jüdisches Eigentum sagen?

Hier muss man sich mit der Frage der Privatisierung auseinandersetzen, es gibt keine besonderen Regelungen bei jüdischen Vermögenswerten. Keine der polnischen Regierungen war bisher bereit, sich mit diesem Problem zu befassen.

Heute gibt es in Polen einen offen antisemitischen Bildungsminister und die Regierung hat zwei antisemitische Parteien in ihre Koalition aufgenommen. Was halten Sie von dieser Entwicklung und wie bekämpfen Sie sie?

Wir beobachten diese Vorfälle mit grossem Misstrauen, wie Sie sich denken können. Auf politischer Ebene möchten einige Parteien die antisemitische Tradition fortführen, die vor dem Krieg bestand. Wie im übrigen Europa, das ja ein antisemitischer Kontinent ist, gibt es auch in Polen Menschen mit antisemitischen Gefühlen. Ich glaube aber nicht, dass Polen heute judenfeindlicher eingestellt ist als andere europäische Länder. Meiner Ansicht nach können in einem demokratischen Land in der Politik politische Allianzen nicht verhindert werden, selbst wenn sie uns gegen den Strich gehen. Wir haben die Behörden über unseren Unmut informiert und setzen unsere Kontakte auf allen Ebenen dazu ein, um den Schaden zu begrenzen. Doch der Erfolg ist dabei nicht gewährleistet.