Polnische Realität | |
Von Roland S. Süssmann | |
In Polen ist eine Renaissance des jüdischen Lebens zu beobachten - In Polen gibt es mehrere Gemeinden, insbesondere in Krakau, Lodz, Breslau, Poznan, Lublin und Danzig - In Polen existieren einige Institutionen mit didaktischem Ziel, die Kurse für Hebräisch, Judentum und jüdische Kultur für Kinder und Erwachsene anbieten, an denen regelmässig immer mehr Personen teilnehmen - In Polen führen einige Universitäten jüdische Fächer im Studienprogramm, für die 160 Studierende immatrikuliert sind - In Polen lassen katholische Schulen bestimmte Klassen am Marsch der Lebenden teilnehmen - In Polen gilt die Verleugnung der Schoah (im Gegensatz zur Schweiz) als ein Verbrechen, für das man von Staates wegen verfolgt wird. In Polen wurden ausserdem die berühmten jüdischen Schriftsteller, wie Elie Wiesel und Isaac Bashevis Singer, ins Polnische übersetzt und sehr erfolgreich verkauft. Und schliesslich wird in Polen das Festival für jüdische Musik von Krakau jährlich von über 20'000 polnischen Zuhörern besucht. All diese Elemente und noch viele mehr, darunter auch die Existenz von Dutzenden von jüdischen Gesellschaften aller Arten und Ausrichtungen, lassen die Vermutung zu, dass in Polen eine Renaissance des jüdischen Lebens stattfindet, dass ein wiedererwachtes Interesse für die Juden und das Judentum vorhanden ist und dass die jüdisch-polnischen Beziehungen sich allmählich verbessern. Sieht die Realität wirklich so aus? Ist es in einer Region, in der 3,5 Millionen Juden umgebracht wurden, in der eine 800-jährige jüdische Präsenz und der Beitrag der Juden zum Aufschwung des Landes innerhalb kürzester Zeit ausgelöscht wurden, wirklich möglich, dass wieder echtes jüdisches Leben der Asche entsteigt? Ist es nicht nur ein kleines Blümchen, das da irrtümlicherweise oder aus einer Notwendigkeit heraus auf einem Haufen Asche und Knochen spriesst – bis es gepflückt wird? Wir wollten die Realität des jüdischen Lebens in Polen ein wenig besser verstehen und haben aus diesem Grund MICHAEL SCHUDRICH interviewt, den Oberrabbiner von Polen. Wie beurteilen Sie das jüdische Leben im heutigen Polen? Die meisten Juden, aus denen sich die Gemeinschaft gegenwärtig zusammensetzt, wurden nach dem Zweiten Weltkrieg geboren. Es gibt folglich zwei Kategorien von Juden: diejenigen, die nicht ahnten, dass sie jüdisch sind, und diejenigen, die es wussten. Letztere haben nie eine jüdische Erziehung genossen, da dies zwischen 1939 und 1989 in Polen nicht möglich war. Es gab wohl geheime Chedarim im Warschauer Ghetto, doch man kann ohne Übertreibung behaupten, dass nicht alle Menschen, die nach 1935 geboren sind, eine fundierte jüdische Erziehung erhalten haben. In Lodz gab es eine Schule mit dem Namen «J.L. Peretz». Dabei handelte es sich um eine kommunistische Schule, in der die jiddische Kultur und Sprache sehr präsent waren und in der den Schülern die rudimentären Begriffe des Judentums, jedoch keine jüdische Erziehung vermittelt wurden. Sie schloss übrigens 1968 ihre Tore, und die meisten der damaligen Schüler, ja sogar der ehemaligen Schüler, liessen sich darauf in Schweden nieder. Nach dem Krieg wanderten die Juden, die nach ihrem Glauben leben wollten, einfach aus Polen aus. Diejenigen, die zurückblieben, taten dies aus freiem Willen und verschwiegen in vielen Fällen bewusst, dass sie Juden waren. Man darf nicht vergessen, dass es mit Ausnahme einer kurzen Zeitspanne in den 1950er Jahren durchaus möglich war, aus Polen auszureisen, weil die Vorschriften hier nicht so streng waren wie in Sowjetrussland. Als der Kommunismus zusammenbrach, hatten die beiden besagten Gruppen von Juden keine Ahnung, was eine jüdische Erziehung ist. Es gab folglich keine «normalen Juden», d.h. Juden mit einem Mindestmass an Kontakt mit ihrer Identität, einem Mindestmass an Wissen, die in geringem Ausmass fromm oder eben – ganz bewusst – nicht fromm waren. Der Untergang des Kommunismus 1989 hat das jüdische Leben demnach direkt beeinflusst. Kann man sagen, dass die Juden, die sich damals zu ihrem Glauben bekannten, Polen verlassen haben? Einige von ihnen sind nach Israel, in die USA oder nach Grossbritannien emigriert. Im Allgemeinen handelte es sich um Menschen, die auf religiöser Ebene frommer geworden waren und die Ansicht vertraten, sie könnten ihren Kindern in Polen nicht die gewünschte jüdische Erziehung geben. Die Motive jener, die blieben, können kaum analysiert werden, in den meisten Fällen waren es persönliche Gründe: Arbeit, Familie usw. Sie sind heute die Mitglieder unserer Gemeinde. Die meisten von ihnen sind Personen, die erst vor kurzem entdeckt haben, das sie jüdisch sind, und die nun anfangen, sich für ihre Identität zu interessieren. Dies gilt auch für diejenigen, die zwar Bescheid wussten, aber nie etwas in dieser Hinsicht unternehmen konnten oder wollten. Was sie angeht, behaupte ich ohne zu zögern, dass ihre jüdische Seele nun erwacht und sie dazu drängt, eine spirituelle Suche in Angriff zu nehmen, in deren Verlauf sie mit ihrer wahren Identität eins werden können. Wir kennen aber auch Menschen, die sich uns einfach nur deswegen anschliessen, weil sie das letzte jüdische Glied in ihrer Familie sind, da die anderen Mitglieder konvertiert haben oder während der Schoah ermordet wurden. Es gibt bei uns auch eine kleine Gruppe von älteren Menschen, die aber bei weitem nicht den grössten Teil unserer aktiven Mitglieder ausmacht. In den vergangenen zwei Jahren hat sich unser Mitgliederbestand verdoppelt, der Altersdurchschnitt sank von 70 auf 45 Jahre. Die Personen, die heute Ihrer Gemeinde angehören, haben zumeist eine bewusste Entscheidung getroffen. Würden sie auch ohne zu zögern eine gemischte Ehe eingehen? Darf ich etwas ironisch darauf antworten? Bis 1989 betrug der Prozentsatz von gemischten Ehen 99,5%. Zum Glück ist er heute auf nur 95% gesunken! Man muss sich klar machen, dass die Menschen, die ihre jüdische Identität verbergen wollten, gute Gründe für eine Heirat mit einem Christen hatten. Heute suchen die meisten unserer aktiven Gemeindemitglieder einen jüdischen Partner bzw. eine jüdische Partnerin. Doch da stehen wir vor zwei Problemen: da ist einerseits die geringe Grösse unserer Gemeinde sowie andererseits die Tatsache, dass unsere aktiven Mitglieder eine sehr tief greifende, intensive und persönliche Erfahrung gemeinsam durchlebt haben, als sie ihre jüdische Identität entdeckten und in derselben Gruppe daran zu arbeiten begannen. Dies hat dazu geführt, dass jeder jeden kennt und eine sehr familiäre Atmosphäre zwischen diesen Menschen entstanden ist, so dass ihnen eine Eheschliessung fast wie Inzest vorkäme. Ich persönlich sage ihnen immer wieder, dass sie nicht miteinander verwandt sind, was sie nicht vergessen sollten. Eine meiner Herausforderungen besteht demnach aus dem Herbeiführen von Begegnungsmöglichkeiten, damit die jungen Juden mit Gleichaltrigen zusammenkommen und sich auch untereinander verheiraten. Sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene findet also ein Wandel statt. Wie kommt dies im Gemeindeleben konkret zum Ausdruck? Wir werden effektiv mit einem Problem konfrontiert, wie es nach 1989 in dieser Art für das polnische Judentum neu ist. Während Jahren wurde unsere Tätigkeit von zwei Themen geprägt: der Schoah und der Nachkriegszeit sowie dem Kommunismus. Heute kämpfen wir mit denselben Schwierigkeiten wie jede herkömmliche kleine Gemeinde in Westeuropa, mit Meinungsverschiedenheiten jeder Art. So finden einige, meine Kaschruth-Aufsicht sei nicht streng genug, andere sind der gegenteiligen Ansicht. Die Liberalen möchten eine Gemeinde gründen und Chabad hat sein Zentrum eröffnet. Es handelt sich um positive Probleme, die in gewisser Weise von unserer Normalität zeugen, auch wenn ich die Schaffung einer reformierten Gemeinde nicht unterstütze. Man muss aber auch begreifen, dass Polen nie als normaler Ort für Juden gelten und immer etwas Besonderes bleiben wird: es wird immer das Land sein, in dem während der Schoah und unter der Besatzung von Nazideutschland 3,5 Millionen Juden ermordet wurden. Obwohl diese riesige historische Verantwortung und die Pflicht zur Erinnerung auf unseren Schultern lastet, kämpfen wir letztendlich – und zum Glück, finde ich – auch mit den üblichen Problemen einer Gemeinschaft, was in unserem Fall eine bedeutende Entwicklung darstellt. Sie sprechen von Ihrer Verantwortung angesichts der Geschichte und angesichts der Erinnerung. Wie drückt sich dies konkret aus? Neben der Pflege der Friedhöfe, dem Unterhalt der Konzentrations- und Vernichtungslager sowie der Gaskammern besteht meiner Ansicht nach der wichtigste Aspekt unserer Erinnerungspflicht gegenüber den Toten darin, die Massengräber aufzufinden und zu betreuen. Wir werden regelmässig von Juden, die ihre Identität versteckt hielten, oder aber von Polen kontaktiert, die uns beim Älterwerden sagen: «Vor meinem Tod möchte ich Ihnen anvertrauen, was ich gesehen habe und wo das war». Wir begeben uns an den angegebenen Ort und versuchen, das Grab in seinen Dimensionen zu definieren, diese zu markieren usw. In diesem Zusammenhang haben wir in Litauen (siehe Shalom Nr.36) herausgefunden, dass diese Massengräber im Allgemeinen dazu dienten, Juden zu beerdigen, die von ihren christlichen Nachbarn ermordet worden waren. Ist dies auch in Polen der Fall? Keineswegs, auch wenn ähnliche Fälle in Jedwaben und Radzilow bekannt sind. In Litauen und anderen besetzten Ländern vertrauten die Deutschen der lokalen Bevölkerung viel mehr als in Polen; sie liessen ihnen bei der Ermordung ihrer jüdischen Mitbürger völlig freie Hand. Im Grossen und Ganzen wurde der Besuch von Papst Benedikt XVI. in Birkenau von der jüdischen Welt sehr negativ aufgenommen. Er vermittelte den Eindruck, die Schoah, den Ort und die Erinnerung, christianisieren zu wollen. Wie haben Sie in Ihrer Eigenschaft als Oberrabbiner von Polen diesen Besuch erlebt? Das Verhalten des Papstes in Birkenau und seine Rede sind ein typisches Beispiel für ein schlimmes Missverständnis, sowohl in Bezug auf sein Verhalten als auch in Bezug auf seine Rede. Dazu muss man wissen, dass der Papst in Birkenau wirklich eine authentisch jüdische Zeremonie gewünscht hatte. Er sprach nicht vom christlichen Glauben, erwähnte Jesus mit keinem Wort, was für einen Papst doch eher erstaunlich ist, und ausserdem hat er sich geweigert, in Birkenau eine Messe zu lesen. Dies alles war kein Fauxpas, sondern eine bewusste Entscheidung. Die wesentliche Aussage seiner Rede lautete: «Was den Juden zugestossen ist, hatte riesige Auswirkungen auf unseren Glauben». Mit anderen Worten: die Schoah hat für die Christenheit direkt zu einer tiefen Glaubenskrise geführt. Darüber hinaus war an diesem Tag nur ein Kruzifix zu sehen, es hing an einer Kette um den Hals des Papstes. Normalerweise betet oder spricht der Papst vor einem riesigen Kreuz, was hier nicht der Fall war. Man muss sich schon vor Augen führen, wie viel Symbolkraft dieser Besuch für die Entwicklung besass, die innerhalb der römisch-katholischen Kirche seit Johannes XXIII. stattgefunden hat. Noch vor 50 Jahren konnte ein Papst im Brustton der Überzeugung behaupten: «der Herr hat die Juden für die Ermordung von Jesus bestraft, deshalb hat die Schoah stattgefunden», was damals problemlos als akzeptable theologische Antwort der Christen zur Erklärung der Schoah gegolten hätte. Doch heute wäre eine derartige Auslegung völlig unmöglich. Ich denke, dass Papst Benedikt XVI. im Kontext der Kirche und angesichts des Schweigens von Pius XII. nichts unternommen hat, um die Schoah zu christianisieren, ganz im Gegenteil: er hat eine gute Rede gehalten… keine herausragende. In Birkenau hätte er sagen sollen, dass der Antisemitismus eine Sünde ist. Er hat es später in Rom getan, doch die Wirkung war natürlich nicht dieselbe. Wie sehen Ihre Beziehungen zur polnischen Kirche aus? Es gibt Priester und Bischöfe, zu denen ich ausgezeichnete Kontakte pflege, zu anderen habe ich gar keine. Was aber die Juden und das Judentum betrifft, schliessen sich über die Hälfte der Kirchenlehrer den Aussagen von Johannes XXIII. und von Johannes-Paul II. an. Gibt es Ihrer Meinung nach eine Zukunft für die Juden in Polen? Es besteht überhaupt kein Zweifel daran, dass es eine jüdische Zukunft für die Juden gibt, die heute hier leben. Wenn es nun darum geht, mit Bestimmtheit zu sagen, ob diese jüdische Zukunft in Polen oder woanders stattfinden wird, muss jeder selbst entscheiden. In allen kleinen jüdischen Gemeinden der Diaspora besteht die Aufgabe des Rabbiners darin, sich zu vergewissern, dass die Juden jüdisch bleiben. Mein Ziel ist es, die Juden auf individueller Ebene und nicht auf Gemeindeebene neu zu erschaffen und zu rehabilitieren. Die Gemeinde als solche ist ein Hilfsmittel, dank dem ich den jüdischen Glauben, die jüdische Frömmigkeit und die jüdische Identität verstärken kann. Jedes Jahr reisen Tausende von jüdischen Besuchern aus aller Welt nach Polen. Welche Botschaft würden Sie ihnen mitgeben? Wenn sie hierher reisen, möchte ich, dass sie sich bemühen, die jüdischen Gemeinschaften zu besuchen und vor allem auf die polnischen Juden zuzugehen. Oft kommen Besucher nach Polen, um das Haus oder die Strasse wieder zu finden, wo ihre Urgrossmutter lebte, um den Ort zu sehen, wo ihr Grossvater in einem Lager oder im Ghetto ermordet wurde. Wenn sie einem in Polen lebenden Juden begegnen, gehört dieser einfach nicht in das Bild, das sie sich vor ihrer Abreise von diesem grossen Friedhof gemacht hatten. Dieser Jude ist in gewissem Sinne eine Art «Gespenst», eine Sehenswürdigkeit. Für Menschen, die ihre Lebensweise, oft auch ihre Kirche, ihre Art die Dinge zu sehen und wahrzunehmen geändert haben, um den Glauben und die Identität ihrer Vorfahren wieder anzunehmen, stellt aber die Tatsache, plötzlich völliges Unverständnis zu empfinden, eine schwere Beleidigung dar. Sie bemühen sich nach Kräften, Juden zu sein, und wenn sie einem Glaubensbruder aus einem anderen Land begegnen, sieht sie dieser nicht als ebenbürtig an. Wir sind schon soweit, dass wir das Fotografieren in der Synagoge während der Gottesdienste unter der Woche verboten haben. Zahlreiche Touristen kamen und fotografierten die Sehenswürdigkeit «polnischer Jude, in einer Synagoge betend». Glauben Sie mir, jedes Mal, wenn ich mit derartigem Verhalten konfrontiert werde, betrübt, ja schockiert mich das zutiefst. Meine Botschaft an die jüdischen Besucher aus aller Welt, die natürlich herzlich bei uns willkommen sind, ist simpel: geht auf die heute in Polen lebenden Juden mit einer gewissen Offenheit und mit dem Wunsch zu, sie zu verstehen: ohne vorgefasste Meinung, ohne Kritik und ohne vorschnelles Urteil. Rabbi Schudrich steht vor grossen Herausforderungen. Zahlreiche Diskussionen erschüttern die jüdische Gesellschaft Polens: die Auswirkungen der Schoah auf das jüdische Leben der Gegenwart, der Antisemitismus, die jüdische Frage in Polen, die eigentliche Rolle der kommunistischen Juden, die Kontakte zur Kirche, oder auch einfach die polnisch-jüdischen Beziehungen. Er setzt sich ohne Illusionen mit diesen grundlegenden Problemen auseinander und zeigt sowohl Sinn für Pragmatik als auch Fingerspitzengefühl, diplomatisches Geschick und Effizienz… ganz zu schweigen von den üblichen Problemen, mit denen alle Rabbiner der Diaspora zu kämpfen haben und ebenfalls zu seinem täglichen Brot gehören. Die Synagoge von Warschau Die Synagoge Nozyk wurde 1902 errichtet und trägt den Namen ihrer Gründer, Zalman und Rywka Nozyk. Sie kann 600 Männer und 200 Frauen auf der für sie bestimmten Empore aufnehmen. Während der deutschen Besatzung wurde die Synagoge in einen Pferdestall und in ein Nahrungsmittellager umfunktioniert. Nach dem Krieg wurde sie vollständig renoviert, die Einweihung fand am 18. April 1983 statt, genau einen Tag vor dem 40. Jahrestag des Aufstands im Warschauer Ghetto. Heute werden täglich morgens und abends sowie natürlich am Schabbat und an den Feiertagen traditionelle Gottesdienste abgehalten. Verband der jüdischen Studenten Seit rund zehn Jahren gibt es einen Nationalen Verband der jüdischen Studenten in Polen mit zwei Mitgliederkategorien: den polnischen Studenten und den ausländischen Studenten, die im Allgemeinen Israelis, Amerikaner oder Engländer sind. Ziel dieser Vereinigung ist es, den jungen Juden die Möglichkeit zu Begegnungen zu geben, damit sie ihre Wurzeln entdecken und ihre jüdische Identität festigen können. Dazu veranstaltet der Verband regelmässig Ferienlager und Vorträge. Interessanterweise besteht eine der Aktivitäten in diesen Sommerferienlagern aus der Restaurierung von verlassenen Friedhöfen. Die Auswahl erfolgt in Zusammenarbeit mit der Stiftung für die Wahrung des jüdischen Erbes in Polen. Diese Arbeit wird das ganze Jahr über in der Umgebung der verschiedenen polnischen Städte fortgesetzt. Es werden eintägige Ausflüge organisiert und grundlegende Restaurationsarbeiten durchgeführt. Manchmal bekommen diese Ferienlager auch einen internationalen Touch, weil Studierende aus Israel, den USA, Grossbritannien, der Slowakei oder aus Ungarn daran teilnehmen. Obwohl der Studentenverband sich ausdrücklich als nicht politische Organisation sieht, setzt er sich stark im Kampf gegen den Antisemitismus ein. So lancierte er im vergangenen Winter eine Aktion, bei der die wichtigsten Bushaltestellen in Warschau mit Aufklebern bedeckt wurden, die zur Bekämpfung der Judenfeindlichkeit aufriefen. Im Verlauf unseres Gesprächs mit Józefina Jezowska, der Generalsekretärin des Verbands der jüdischen Studenten in Polen, meinte sie: «Man muss zugeben, dass wir innerhalb der polnischen Intelligenzija heute keinen offenen Antisemitismus verspüren. Wir bleiben jedoch auf der Hut und haben aus diesem Grund in den Gymnasien eine Informationskampagne zu den Juden und zum Judentum durchgeführt: einmal pro Woche spricht in diesen Schulen einer unserer Mitglieder zu den Schülern. Insgesamt werden wir von den Schulen und den Lehrpersonen gut aufgenommen. Ich bin daher recht optimistisch, was die Zukunft des jüdischen Lebens in Polen angeht». Gestern – Heute - Morgen ABRAM PRAJS, genannt «Awrumele», wurde am 30. September 1916 in der kleinen polnischen Ortschaft Ger geboren. Zwei Jahre nach seiner Geburt wurde sein Vater durch Ganoven umgebracht. Er wuchs mit seiner Mutter, seiner Schwester und seinem kleinen Bruder auf, der erst nach dem Mord an seinem Vater zur Welt kam. Als junger Mann trat er in die Armee ein, wo er sich zu einer Laufbahn als Berufsmilitär entschloss. Während der Schoah kam seine gesamte Familie - 36 Menschen - infolge der Deportation ums Lebens, während er glücklicherweise von einer polnischen Familie versteckt werden konnte, deren Tochter nach Kriegsende seine Frau wurde und zum Judentum übertrat. Heute ist Abram verwitwet, seine einzige Tochter lebt ebenfalls in Warschau. Er war nie Kommunist und hat nicht die Absicht, sein Heimatland Polen zu verlassen. Auf die Frage, weshalb er trotz der Schoah, trotz des Kommunismus, trotz der Judenfeindlichkeit von Gomulka 1968 und schliesslich trotz des heute wiedererwachenden Antisemitismus in diesem Land geblieben ist, erwiderte er: «Ich bin aus persönlichen Gründen hier geblieben, weil ich meine Frau liebte, die nicht auswandern wollte. Darüber hinaus bin ich der Ansicht, dass Polen nicht judenrein werden darf. Hier haben die berühmtesten Rabbiner unserer Geschichte gelebt, hier bestand das weltweit grösste intellektuelle und kulturelle Zentrum der Juden vor der Auferstehung des Staates Israel. Natürlich sind wir heute nur eine winzige Gemeinde, die aber viel Kraft besitzt, aktiv wird und sogar ein Mindestmass an traditionellem jüdischem Leben gewährleistet. Dies garantiert den Juden leider noch keine Zukunft in der Diaspora… Was die Antisemiten angeht, hat es sie immer gegeben und wird es sie immer und überall geben, ausser in Israel, warum soll man sich also Sorgen machen?». Was hingegen Abram beschäftigt, ist die Tatsache, dass wir in einer Zeit leben, in der mit zunehmender Entwicklung der Technik die Emotionen, das Wohlwollen, die Nachsicht und die Güte, kurz die Menschlichkeit, mehr und mehr verschwinden.» Der 90-Jährige ist topfit, nur das Gehen bereitet ihm manchmal Mühe. Er hofft, dass der Herr ihm verzeiht, dass er am Schabbat mit dem Auto in die Synagoge fährt. |