Koschere Paella! | |
Von Roland S. Süssmann | |
Vor kurzem berichtete mir ein Freund aus Amerika, er habe damals, als er zu Beginn der 90er Jahre zum ersten Mal nach Madrid gekommen sei, grosse Schwierigkeiten gehabt, eine jüdische Kontaktperson oder gar irgendeine Form von jüdischem Leben zu finden. Zu jener Zeit existierte zwar eine jüdische Gemeinschaft, doch sie war bei weitem nicht so bedeutend wie heute. Gegenwärtig leben rund 7000 Juden in Madrid und die spanische Hauptstadt zählt 5 Synagogen. Um ein vollständigeres Bild vom religiösen Leben der Juden zu erhalten, wie es sich heute präsentiert, haben wir Oberrabbiner MOSCHE BENDAHAN, den Rabbi von Madrid und der Vereinigung der jüdischen Kultusgemeinden Spaniens - der Titel eines Oberrabbiners von Spanien existiert nämlich nicht -, um eine Audienz gebeten. Wir würden gern mehr über das Leben Ihrer Gemeinde erfahren. Könnten Sie uns zuvor noch verraten, seit wann Sie Ihr Amt in Madrid bekleiden? Meine Familie stammt aus Tétouan im spanischen Marokko. Sie liess sich 1966 hier nieder. Ich beschloss recht früh, mein Leben dem Rabbinat zu widmen, und habe 9 Jahre lang in Jerusalem studiert. Danach kam ich zurück und war rund 10 Jahre lang als Stellvertreter des Rabbiners tätig. Ich übernahm seine Nachfolge, als er vor 9 Jahren in den Ruhestand trat. Während meiner Zeit als Stellvertreter befasste ich mich hauptsächlich mit dem Bildungswesen. Wir haben alle möglichen pädagogischen Aktivitäten ins Leben gerufen, den Talmud Torah, Kurse für Judaistik an der Schule, für die Jugend, für junge Eltern, Schabbat-Essen, Ferienlager usw. Wie viele Mitglieder umfasst Ihre Gemeinde heute? Es sind 820 Familien, die alle gemäss der Halachah jüdisch sind. Wir sind eine orthodoxe Gemeinde und neue Mitglieder werden nach den Vorschriften der jüdischen Gesetzgebung aufgenommen. Neuankömmlinge müssen uns Bescheinigungen ihres Judentums vorlegen, die von ihren Herkunftsgemeinden ausgestellt und von etablierten Rabbinern unterschrieben wurden. Personen, die in konservativen, liberalen oder reformierten Gemeinden konvertiert haben, sind keine Juden. Die meisten unserer Mitglieder stammen aus derselben Region wie meine Familie, doch seit einigen Jahren stossen auch Juden zu uns, die aus Südamerika, insbesondere aus Venezuela und Argentinien, kommen. Sie haben Ihre pädagogische Tätigkeit erwähnt. Wie ist sie organisiert? In Madrid gibt es nur eine einzige jüdische Schule, die von ca. 320 Schülern aller Ausrichtungen, von frommen und nicht religiösen, besucht wird. Die Schule wird vom Erziehungsministerium anerkannt und der Lehrplan ist natürlich in erster Linie weltlich ausgerichtet. Wir bemühen uns speziell um den Englischunterricht, da viele Eltern den Wunsch hegen, ihre Kinder später in englische oder amerikanische Schulen zu schicken. Daher werden nur wenige Lektionen den jüdischen Fächern gewidmet, es sind fünf Stunden wöchentlich, einschliesslich des Hebräischunterrichts: 2 Stunden Bibelkunde, 2 Stunden Hebräisch und 1 Stunde jüdische Geschichte. Dies ist recht unzureichend, und so bieten wir am Sonntag zusätzliche Judaistikkurse an, in denen die Schüler während zweier Stunden ihre Kenntnisse vertiefen können. Diese Lektionen finden in den Räumlichkeiten der Schule statt, sind aber nicht obligatorisch. Darüber hinaus bereiten wir in gewissen Klassen auf die Bar- und die Bat-Mizwah vor. Es gibt aber auch nichtschulischen Unterricht, den wir täglich in der Gemeinde anbieten und der allen Jugendlichen, jungen Erwachsenen, Frauen usw. offen steht. Ferner existiert ein Kollel für Studierende und Erwerbstätige, die sich in jüdischen Fächern weiterbilden möchten. Die innerhalb des Gemeindezentrums liegende Synagoge bietet ihrerseits täglich morgens und abends Gottesdienste an. Sie ist in diesem Viertel des Stadtzentrums errichtet worden, weil hier gegen Ende der 60er Jahre der grösste Teil der jüdischen Bevölkerung lebte. Heute verlagert sich die Wohngegend immer mehr in den Norden der Stadt, wo auch die jüdische Schule liegt. Wir planen, aus dieser Synagoge ein Gebetshaus für das Quartier zu machen und eine neue grosse Synagoge in der Gegend zu bauen, die sich heute rasant entwickelt. Gegenwärtig benützt die Bevölkerung dieses Quartiers die Synagoge der jüdischen Schule für die Gottesdienste an Schabbat und an den Feiertagen. Auf der intellektuellen Ebene scheint das jüdische Leben heute also recht intensiv zu sein. Wie bereiten Sie die Zukunft vor? Das jüdische Leben ist nicht nur in intellektueller Hinsicht aktiv, auch die praktische Seite wird nicht vernachlässigt. Wir verfügen über zwei hervorragende koschere Restaurants (wobei das eine auch koschere Paella auf der Speisekarte führt), die sehr erfolgreich sind, sowie über ein drittes Lokal im Gemeindezentrum, das aber nicht so gut läuft. Wir besitzen auch Sportvereine und Klubs für andere Aktivitäten, in denen sich unsere Mitglieder treffen. In Bezug auf die Kaschruth haben wir Abkommen mit den drei grössten Hotels von Madrid abgeschlossen, damit an jüdischen Familienfeiern streng koschere Mahlzeiten serviert werden können. Man muss sich klar machen, dass dies ein wichtiger Aspekt ist, da heute in Madrid praktisch keine Hochzeiten oder andere jüdische Feste stattfinden, die nicht streng koscher sind. Was die Zukunft angeht, haben wir beschlossen, im kommenden Mai in Madrid ein Rabbinerseminar zu eröffnen. Heute kommen nämlich alle Rabbiner, Schochatim und Mohalim, die sich in Spanien niederlassen, ausnahmslos aus Israel. Unserer Ansicht nach ist die Zeit gekommen, geistliche Führer zu haben, die fliessend Spanisch sprechen und mit der hiesigen Mentalität vertraut sind. Es haben sich bereits Schüler aus der Stadt Melia und aus Gibraltar eingeschrieben. Die Lehrpersonen hingegen stammen aus Mexiko. Es wird das erste Rabbinerseminar sein, das seit über 500 Jahren in Spanien eröffnet wird. Unsere Schüler erhalten eine komplette Ausbildung als Rabbiner, Schochet, Mohel und Sofer (Schriftgelehrte). Sie absolvieren ihre ersten Studienjahre hier und vertiefen ihr Wissen dann in Israel. Für die Zukunft der Gemeinde ist es sehr wichtig, dass die religiösen Leader keine Beamten sind, die nur für eine beschränkte Zeit hierher kommen, sondern dass es sich Menschen handelt, die eine langfristige Beziehung zu den Familien aufbauen können, die sie durch Freud und Leid begleiten werden. Wie steht es um die Jugend? Es gibt, wie gesagt, alle möglichen Aktivitäten, wo die jungen Leute zusammenkommen, die jedoch jeglichen jüdischen Geist vermissen lassen. Daher hat die Gemeinde beschlossen, einen Rabbiner für die Jugend einzustellen, der den Jugendlichen nahe steht und ihnen attraktive und interessante Aktivitäten mit intellektuell anspruchsvollem jüdischem Inhalt anbieten kann. Führen Sie auch Konvertierungen durch? Nein. Wenn jemand konvertieren möchte, bereiten wir die Person darauf vor und nutzen dann eine Vereinbarung mit dem Oberrabbinat von Israel, das ihre Ausbildung vervollständigt und die Konvertierung durchführt. Das Oberrabbinat hat in Efrat ein besonderes Ausbildungszentrum eingerichtet, das zwei Abteilungen umfasst. Die eine bietet einen einjährigen Intensivkurs an (auch auf Spanisch), nach dessen Abschluss die Konvertierung stattfinden kann. Die andere steht so genannten «ausländischen» Kandidaten offen, die nicht für ein Jahr nach Israel reisen können. Sie bereiten sich also während rund anderthalb Jahren in ihrem jeweiligen Land vor. Nach dieser Zeit begeben sie sich nach Efrat, wo sie zwei Wochen lang einen Intensivkurs besuchen und danach konvertieren können. In dieser Hinsicht ist es interessant festzustellen, dass die sephardischen Juden recht konservativ eingestellt sind und in der Regel ihren zukünftigen Ehepartner, der einer anderen Religion angehört, um den Übertritt zum Judentum bitten. Doch wie überall gibt es auch bei uns eine Reihe von gemischten Paaren. Gemäss einigen Statistiken ernähren sich in Spanien viele Juden koscher, nämlich 65%. Erfolgt die Schechitah in Madrid? Ich bin selbst auch Schochet und führe die rituelle Schlachtung von Rindern und Schafen durch. Das Geflügel importieren wir aus Strassburg, da es technisch nicht mehr möglich ist, das Schächten von Geflügel hier durchzuführen. Früher schon, aber heute existieren in Madrid Fliessbänder für das Schlachten, an denen 5000 Hühner pro Stunde abgebrüht und durch Elektroschock getötet werden. Mit unserer manuellen Methode konnten wir dort nicht mithalten. Gibt es Ihrer Ansicht nach eine Zukunft für die Juden in Spanien? Es ist ein recht interessantes Phänomen zu beobachten: zahlreiche junge Paare werden religiös und fromm und lassen sich in Israel nieder. Sie sind der Meinung, das Niveau der jüdischen Erziehung für ihre Kinder sei hier unzureichend. Ich selbst habe auch fünf Kinder, von denen vier im Ausland leben: drei studieren in Jerusalem, eins in Mexiko. Die jüdische Erziehung erfolgt also in erster Linie in der jüdischen Schule, deren Ausbildungsniveau in jüdischen Fächern für viele Menschen eindeutig zu tief ist. Da es extrem schwer ist, eine zweite Schule ins Leben zu rufen, verlassen die Juden das Land. Es ist daher für mich fast unmöglich, Zukunftsprognosen zu erstellen, weil viele unserer aktiven Mitglieder ausreisen. Dessen ungeachtet besuchen in Madrid ca. 65% der Schulkinder die jüdische Schule. Wir beginnen die Jugend nach ihrer Bar-Mizwah zu verlieren, auch wenn sie danach weiterhin an einigen der von uns angebotenen Aktivitäten teilnimmt. Wenn ich die Zahlen betrachte, stelle ich fest, dass die Zahl der Jugendlichen oder Studierenden, die an den Gemeindeaktivitäten teilnehmen, kaum 15% bis 20% der bei uns registrierten Personen betragen. Ich denke, die Führungsspitze der Gemeinde von morgen wird aus traditionalistischen oder frommen Kreisen stammen, denn die jungen Leute aus diesen Familien behalten nach der Bar-Mitzwah den Kontakt zur Gemeinschaft. Und was Ihre Frage angeht, ob ich für die Juden eine Zukunft in Spanien sehe, kann ich Ihnen nur eine approximative Antwort geben. Ich glaube, dass die kleinen Gemeinden, von denen einige noch 30 Familien umfassen, sich mit der Zeit auflösen und dass sich ihre Mitglieder nach und nach in den grossen Städten niederlassen werden. Dieser Gedanke widerspricht allerdings der Entwicklung in der Gemeinschaft von Toremolinos, die sich heute aus 40 Familien zusammensetzt und über eine Synagoge, ein koscheres Restaurant, zwei Bäckereien, einen Talmud Torah und eine Mikveh (rituelles Bad) verfügt! Es sind demnach alle Hoffnungen erlaubt, aber ich glaube schon, dass die Zukunft des spanischen Judentums sich mit der Zeit immer mehr auf Madrid und Barcelona konzentrieren wird. |