Montparnasse Déporté | |
Von Roland S. Süssmann | |
Der Katalog der Ausstellung «Montparnasse Déporté» ist vom Format her zwar klein, in Bezug auf den Inhalt aber überwältigend; das erste Blatt ist leer und mit einem einzigen Satz in goldenen Lettern aus der Feder des berühmten Dichters Paul Éluard, mit vollständigem Namen Eugène Emile Paul Grindel (1895-1952), versehen: «Wenn das Echo ihrer Stimmen verklingt, sterben wir »! In diesem kurzen Zitat ist der gesamte Geist dieser Ausstellung enthalten, die zunächst vom 12. Mai bis zum 2. Oktober 2005 im Museum Montparnasse gezeigt wurde, bevor sie nach Yad Vaschem in Jerusalem reiste und dort seit dem 27. Januar 2006 zu sehen ist. Rund zwei Drittel der 170 ausgestellten Gemälde stammen aus der Pariser Schau, die anderen gehören der Kunstsammlung von Yad Vaschem und diversen öffentlichen oder privaten Sammlungen in Israel. Die Ausstellung wurde auf diese Weise durch authentische Dokumente, Fotografien und Biografien der verschiedenen Künstler ergänzt, die zur Information des Besuchers in kleinen Vitrinen liegen. Doch was bedeutet der Titel «Montparnasse Déporté»? Die Leser von Shalom erinnern sich bestimmt an die wunderbare Reihe von Artikeln, die aus der Feder von Oscar Ghez s.A. stammten, dem Präsidenten des Museums Petit Palais von Genf, und in denen über das Leben zahlreicher Künstler der Pariser Schule berichtet wurde; sie alle waren mit ihren Bildern in der grossartigen Sammlung des heute leider geschlossenen Museums vertreten. In jeder Ausgabe wurde ein anderer Maler vorgestellt. Einen seiner Artikel hatte Ghez ausserdem den Künstlern gewidmet, die während der Schoah ermordet worden waren (Shalom Vol.13). Erinnern wir an dieser Stelle daran, dass die «Gedenkstätte zu Ehren der Künstler, die dem Nationalsozialismus zum Opfer fielen» 1979 an der Universität von Haifa vom Ehepaar Oscar Ghez gegründet wurde und insbesondere Werke von Alex Fasini, Joachim Weingart, Henri Epstein, Nathalie Kraemer (der wir einen gesonderten Artikel in Shalom Nr.14 gewidmet hatten), Georges Kars, Max Jacob und zahlreichen anderen Malern umfasst, die z. T. ebenfalls mit Werken in der Ausstellung von Yad Vaschem vertreten sind. In Bezug auf diese herrliche Sammlung, einem Geschenk von Herrn und Frau Ghez an die Universität Haifa, und ihr Vorgehen bei deren Erstellung schrieb Oscar Ghez damals in Shalom: «. ich trug die Werke geduldig zusammen, um das zu bilden, was ich «die sentimentale Heimat» meiner Gemäldesammlung nannte und die mein jüdisches Herz im Innersten berührte». Die Ausstellung, die wir Ihnen heute präsentieren möchten, befasst sich mit eben diesem schmerzlichen Thema. Bevor wir uns aber dem eigentlichen Inhalt dieser Schau zuwenden, drängt sich ein kurzer historischer Abriss auf. Vom Beginn des 20. Jahrhunderts an bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs galt Paris als ein äusserst lebendiges Kulturzentrum, in dem Künstler aus ganz Europa zusammenströmten. Frankreich gewährte ihnen alle Bürgerrechte, was ihnen als Juden in ihren Herkunftsländern verweigert wurde. Die Maler liessen sich im Quartier von Montparnasse nieder, wo bereits andere Künstler wie Picasso, Chagall, Brancusi, Modigliani, Fujita und Diego Rivera arbeiteten. Die Pariser Schule bezeichnet viel mehr als nur eine Stilrichtung oder eine Bewegung, sie ist der Ausdruck der Begegnung von Künstlern unterschiedlichster Herkunft, die zum selben Zeitpunkt am selben Ort zusammenkamen und alle dasselbe wollten: Kunst schaffen. Nach der Besetzung Frankreichs 1940 durch die Deutschen setzte die brutale Verfolgung jüdischer Künstler ein. Einigen von ihnen gelang es, sich zu verstecken, andere konnten fliehen, doch die meisten wurden deportiert und in Auschwitz ermordet. Damit kam die Pariser Schule, dieses seltene und einmalige Phänomen in der Kunstgeschichte, zu einem gewaltsamen Ende. Dank der Ausstellung von Yad Vaschem können wir einen Blick auf das spannende und erregende Leben dieser jüdischen Künstler erhaschen, die bereits am Abgrund der Schoah standen. Die Ausstellung im Museum von Montparnasse in Paris stellt natürlich einen phantastischen Akt des Gedenkens dar, was Simone Veil in ihrer Eröffnungsrede hervorhob: «. Indem das Museum Montparnasse auch die Vorkriegsbilder der Maler zeigt, die in den Nazi-Lagern ums Leben kamen, zeugt es nicht nur von der Bedeutung der Pariser Schule und von Montparnasse, die eigentlich nicht mehr zu beweisen ist, sondern führt uns auch den künstlerischen Reichtum und die Vielfalt vor Augen, die uns wegen der nationalsozialistischen Machenschaften entgangen sind. Erst wenn man sieht, was tatsächlich erschaffen wurde, aber auch welches Werk hätte entstehen können, wird einem bewusst, welchen unwiderruflichen Verlust für die Menschheit die Ermordung all dieser Künstler darstellt». Die Ausstellung in Jerusalem besitzt eine etwas anders geartete Ausrichtung, denn neben den eigentlichen Gemälden werden auch die Biografie jedes einzelnen Künstlers und vor allem ihr jeweiliges Ende in den Vordergrund gestellt. Damit will die Schau unter anderem die Dichotomie zwischen dem durchaus normalen Leben eines Künstlers, seinem Streben nach Erfolg und weltweiter Anerkennung zeigen sowie seinem tragischen Tod. Die letzte Zeile in jeder Biografie wiederholt sich in der Ausstellung unablässig: «Verhaftet und nach Auschwitz deportiert, wo er (sie) ermordet wurde». Von den 60 ausgestellten Künstlerinnen und Künstlern kamen 95% in den Gaskammern ums Leben. In der Pariser Ausstellung wurde die Tatsache, dass sie während der Schoah den Tod fanden, zwar erwähnt, doch in Yad Vaschem wird dieser Aspekt ganz bewusst 162 Mal überhöht und betont. Sie sind in Auschwitz nicht gestorben, sie sind nicht verhungert - sie wurden kaltblütig ermordet. Doch ungeachtet des schrecklichen Todes eines jeden präsentierten Künstlers ist auch die Art und Weise interessant, wie die Biografien konzipiert wurden: sie sind knapp, doch vollständig und bewegend. Der Besucher erfährt auf diese Weise die Lebensgeschichte jedes Malers, seine Herkunft, wer seine Eltern waren, wie er in Paris lebte, wann, wo, durch wen und unter welchen Umständen er verhaftet wurde, mit welchem Transport (Nummer und Datum) er nach Auschwitz deportiert wurde und schliesslich den Tag seiner Ermordung, falls dieser bekannt ist. Neben der ergreifenden Schönheit der meisten ausgestellten Gemälde verschafft die Schau in Wirklichkeit einen historischen Überblick über ein spezielles Kapitel der Schoah, das auf intensive und individuelle Weise anhand von Leben und Sterben dieser Künstler erzählt wird. Auch wenn ihre Geschichte oft schon mehr oder weniger bekannt war, so wurde doch ein Aspekt dieser Welt der schönen Künste bisher kaum erwähnt: die Geschichte der Maler aus der Schule Bezalel von Jerusalem, die in Auschwitz den Tod fanden. Einige Maler aus verschiedenen Ländern, die sich in Palästina niedergelassen hatten, absolvierten ihre Ausbildung an der Schule Bezalel. Wegen ihres aussergewöhnlichen Talents und ihrer Begabung hatten ihre Lehrer alles getan, um ihnen die Reise nach Paris zu ermöglichen, damit sie dort malen könnten. Auf Madim Zardinsky (aus Novorossiysk), David Brainin (Kharkhov), Adolphe Feder (Odessa) und Yehudah Cohen (Saloniki) wartete also der Tod. Zardinsky und Cohen waren sich in Jerusalem begegnet und zusammen nach Paris gereist. Die Ironie der Geschichte oder der Zufall will es, dass nur zwei Werke dieser beiden Maler in der Ausstellung gezeigt werden können: ein Ölbild von Zardinsky und ein Porträt von Zardinsky, das Yehudah Cohen gemalt hat! Gewisse Gemälde sagen mehr aus als andere. Dies trifft insbesondere auf zwei Selbstporträts von Jacob Macznik zu. Das erste, das er zu Beginn seines Studiums in den 1930er Jahren malte, zeigt einen jungen, lebenslustigen Mann, wohlgenährt und mit zuversichtlichem Blick. Auf dem zweiten, das einige Zeit vor seiner Deportation entstand, sieht man einen abgemagerten Mann mit eingefallenem Gesicht und dem verstörten Blick eines Gejagten. Diese beiden Bilder sind sehr bedeutungsvoll, sie illustrieren das Leben aller anderen Künstler. Das nächste Gemälde ist ein Selbstporträt von Roman Kramsztyk. Er war polnischer Herkunft, doch gut in das Pariser Leben integriert und recht erfolgreich. Als 1939 seine Mutter erkrankte, reiste er zu ihr nach Warschau, wo er zusammen mit allen anderen Juden plötzlich im Ghetto gefangen sass und keine Möglichkeit mehr hatte, nach Paris zurückzukehren. In Yad Vaschem befindet sich ein wunderbares Porträt, das er von Dr. Adam Czerniakow malte, dem damaligen Präsidenten des Judenrats, der sich im Sommer 1942 schliesslich das Leben nahm. Interessant ist, dass Ladislav Spielmann, die Hauptfigur im Film Der Pianist, in seinen Memoiren erzählt, dass Kramsztyk eines Tages das Stucka-Café in Warschau aufsuchte, wo Spielmann am Klavier seinen Lebensunterhalt verdiente. Ganz deprimiert habe er da zu Spielmann gesagt: «Siehst du nicht, dass wir alle zum Tode verurteilt sind ?». Einige Tage später marschierten die Deutschen in das Gebäude ein, wo er mit seinen Eltern lebte, und befahlen allen auf der Strasse in mehrere Lastwagen zu steigen. Roman Kramsztyk weigerte sich und wurde von einem SS-Mann erschossen. Spielmann schliesst seinen Bericht mit folgenden Worten: «Kramsztyk starb, wie er es sich gewünscht hatte, umgeben von seinen Bildern». Im Verlauf der weiteren Ausstellung entdeckt der Besucher nacheinander in den 170 Gemälden das Leben der 60 Künstler aus Belarus, der Tschechoslowakei, Frankreich, Deutschland, Griechenland, Ungarn, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien, Russland und der Ukraine. Sie alle waren Juden, sie alle waren als mittellose Maler nach Paris gekommen und hatten dort die Unterstützung ihrer Künstlerfreunde genossen. Unter den Künstlern mit einer ebenfalls bewegten Geschichte ist Max Jacob zu erwähnen, der zum Christentum übergetreten war und einen seiner besten Freunde zum Paten hatte, Picasso. Doch als seine Eltern, seine Schwester und er selbst verhaftet wurden und deportiert werden sollten, gelang es keinem einzigen seiner «guten Freunde» im Pariser Künstlermilieu und auch keiner anderen einflussreichen Bezugsperson, sie zu retten. Er hatte insbesondere Sascha Gautier (und nicht Picasso), einen seiner engsten Freunde, aber auch Kollaborateur, gebeten, etwas zu unternehmen, doch er half ihm nicht. Max Jacob, der bereits schwer krank war, wurde nicht nach Auschwitz deportiert. Er starb am 5. März 1944 in Drancy. In dieser Ausstellung wird der Besucher von vielen Emotionen überwältigt, wenn ihm die Schönheit der Werke, das Leben des Malers oder nicht selten auch das Zusammenspiel von beidem zu Herzen geht. Die Liebhaber jiddischer Literatur lernt voller Neugier das Werk von Rachel Szalit-Marcus kennen, die sich bei der Malerei von den Texten jiddischer Autoren oder der zeitgenössischen hebräischen Literatur inspirieren liess. Sie hat den «Sohn des Chasans» von Scholom Aleichem illustriert sowie «Fiske der Krumme» von Mendele Mocher Sforim, «Der Schnorrerkönig» von Israel Zangwil und den «Rabbi Nachman von Braslaw » von Martin Buber. Sie wurde am 19. August 1942 verhaftet und mit dem Transport Nr. 21 nach Auschwitz gebracht, wo sie ermordet wurde. Nach einem speziell für uns veranstalteten Rundgang unter der Leitung von Yehudit Shendar, der Chefkuratorin der Kunstabteilung des Museums von Yad Vaschem, haben wir sie im Laufe einer lebhaften Diskussion gefragt, welcher Teil der Ausstellung sie am meisten berühre. Sie antwortete uns: «Es gibt zahlreiche sehr packende Augenblicke, doch ich glaube, mir geht es am meisten zu Herzen, wenn Familienangehörige eines der Maler die Ausstellung besuchen, ohne zu ahnen, dass ein Werk ihres verstorbenen Verwandten ausgestellt ist, und sie sich dann zu erkennen geben. Oder wenn ich Familienangehörigen der Maler begegne, die ermordet wurden. Da möchte ich als Beispiel eine Verwandte von Gela Sekszjztajn-Lichtenstztajn erwähnen, die ich in Israel wieder auffinden konnte, deren Mutter vor dem Krieg in Polen gelebt hatte. Ihre Schwägerin Gela hatte ihr ein Gemälde geschenkt mit den Worten: «Eine Erinnerung an Gela für Eretz Israel». Es handelt sich dabei um das einzige Ölgemälde von Gela, das den Krieg überlebt hat». Bei einer Reise nach Israel in naher Zukunft drängt sich selbst für jene, die ihre Ferien nicht in Jerusalem verbringen, unbedingt ein Besuch der Ausstellung «Montparnasse Déporté» auf, denn es ist ein bewegendes und dadurch unvergessliches Erlebnis. |