Alter Wein in neuen Schläuchen | |
Von Professor Robert S. Wistrich* | |
Seit dem Anbruch des neuen Jahrtausends geht ein altes Gespenst - der Antisemitismus - erneut in Europa um. Der Judenhass, einst eine Spezialität reaktionärer Geistlicher, konservativer Nationalisten, bigotter Faschisten und ultraradikaler Linker, hat in den letzten Jahren eine grundlegende Verwandlung durchgemacht. Seit dem Ausbruch der zweiten palästinensischen Intifada im September 2000, später verstärkt durch die Anschläge vom 11. September 2001 und den Krieg gegen Irak, ist der Antisemitismus zum zentralen Bestandteil des gewaltbereiten islamischen Dschihadismus geworden, der sich vom Nahen Osten aus in bestimmte Regionen der muslimischen Diaspora in Europa ausgedehnt hat. Der neue Antisemitismus wurde auch von weiten Teilen der Antiglobalisierungsbewegung begeistert adoptiert, welche, wie die Islamisten, durch und durch von der Existenz einer amerikanisch-zionistischen Verschwörung zwecks Beherrschung der Welt überzeugt sind. Diese neue "rot-grüne Allianz" wettert gegen Israel und das "von Juden kontrollierte" Amerika, so wie sie auch den Einsatz westlicher Militärmacht im Ausland und den Export westlicher demokratischer Ideale in andere Länder ablehnt. Die Globalisierungsgegner sind voller Selbstverachtung in Bezug auf die zentralen Werte des Westens, als deren Aussenposten Israel angesehen wird; sie gelten als Deckmäntelchen für die "rassistische" und "imperialistische" Besetzung anderer Länder. Auch die Schuldgefühle und die Selbstkritik Europas wegen seiner kolonialistischen Vergangenheit dienten als wichtige Faktoren beim Rückfall in die alten Gewohnheiten des Antisemitismus. Als zentraler Beweggrund für dieses Wiederaufleben des Antisemitismus kann eindeutig ein israelfeindliches Gefühl angesehen werden. Doch es gibt auch eine weiter reichende strategische Dimension. Israel ist im europäischen Machtkampf mit den USA um den Einfluss im Nahen Osten und in der Welt allgemein zu einem wichtigen Strohmann geworden. Es ist kein Zufall, dass in den vergangenen Jahren in allen Regierungen des Alten Europas antisemitische Anspielungen zu undefinierbaren jüdischen "Neokonservativen" in den Vereinigten Staaten herumgereicht wurden. In dieser verschlüsselten Sprache um Erdöl, Imperialismus und "neokonservative" Verschwörungen tritt eine Obsession in Bezug auf die allmächtige jüdische Lobby in Washington zutage. In Frankreich hat sich die Theorie von einer intellektuellen "Judenclique", die in der amerikanischen Politik tonangebend ist, noch stärker durchgesetzt als im restlichen Europa. Das Aussenministerium am Quai d'Orsay strebt weiterhin danach, ein vereinigtes Europa als Gegengewicht zu Amerika anzuführen. Der Wunsch, eine zahlenmässig bedeutende muslimische Bevölkerung in Frankreich zu besänftigen, hat ebenfalls ein soziales Klima begünstigt, welches das Wiederaufleben des Antisemitismus fördert. Es stimmt, dass nach den Wahlen im Mai 2002 eine neue Regierung unter der Führung des wieder gewählten Präsidenten Jacques Chirac entschiedener vorzugehen begann und aufhörte, die Existenz des Antisemitismus in Frankreich zu leugnen. Es wurden einige erfreuliche Resultate erzielt, zumindest auf gesetzlicher Ebene, doch das Gefühl der beständigen Unsicherheit gehört für die Juden sozusagen zum Alltag. Es kommt nicht von ungefähr, dass der Oberrabbiner von Frankreich seinen Glaubensbrüdern im Herbst 2003 riet, in der Öffentlichkeit lieber Schirmmützen zu tragen als die Kippah. Die Entschlossenheit und die Bemühungen der französischen Behörden, eine "Nulltoleranz" gegenüber dem Antisemitismus an den Tag zu legen, konnten nicht verhindern, dass die Zahl der registrierten antisemitischen Vorfälle seit Anfang 2004 drastisch in die Höhe schnellte. Heute leben 20 Millionen Muslime innerhalb der EU-Grenzen. Viele von ihnen sind brave Staatsbürger, einige haben selbst unter rassistischen Vorurteilen gelitten. Ganz anders steht es allerdings um die Islamisten unter ihnen. Sie vertreten gefährliche Verschwörungstheorien, schüren fanatischen religiösen Eifer, setzen sich aktiv für die Verbreitung der Dschihad-Ideologie ein und manipulieren den emotional geprägten Symbolismus der palästinensischen Sache, um den Juden aktiv zu drohen. Es ist dem totalitären Islam gelungen, eine wachsende Zahl von unzufriedenen, arbeitslosen jungen Leuten davon zu überzeugen, dass sie in Dar al-Kufr leben, dem Land der Ungläubigen. Diese Einstellung hat schliesslich zu den Bombenanschlägen vom 7. Juli in London geführt. Die Judenfeindlichkeit unterscheidet sich stark vom herkömmlichen christlichen Vorurteil oder dem rassistischen Antisemitismus, wie er vor sechzig Jahren bestand und der in den Nationalstaaten der europäischen Bourgeoisie im späten 19. Jahrhundert wurzelte. Zeitgenössische Vertreter des Judenhasses in Europa sind mit grosser Wahrscheinlichkeit keine gläubigen Christen mehr - es sei denn, die gehören den so genannten progressiven Flügeln ihrer Kirche an, die sich völlig unkritisch für die palästinensische Sache einsetzen. Das gegenwärtige Aufflammen des Antisemitismus in den EU-Ländern ist auch auf unterschiedliche Gründe zurückzuführen. Ganz anders als in den 1930er Jahren hat er nichts mit Massenarbeitslosigkeit, mangelnder wirtschaftlicher Stabilität oder einer Krise des politischen Systems zu tun. Er ist auch nicht das Ergebnis von Finanzskandalen, sozialer Anomie oder Desillusion gegenüber den etablierten politischen Parteien und der parlamentarischen Demokratie. In Westeuropa ist der heutige Judenhass eher postnational denn im engeren Sinne nationalistisch, eher antiamerikanisch denn antikommunistisch, eher "liberal" und linkslastig denn unliberal oder antidemokratisch. Als wichtigste Ausnahmen von dieser Regel gelten Deutschland und ebenfalls - in einem noch grösseren Ausmass angesichts der Wahlerfolge radikaler populistischer Parteien - Österreich und die Schweiz. Der "neue" Antisemitismus ist ausserdem davon besessen, Israel zu stigmatisieren. Er träumt davon, den verhassten "zionistischen Staat" aufzulösen und die Welt im Namen der Menschenrechte judenstaatrein zu machen. Der Antizionismus des radikalen linksextremen Lagers hat sich nun auf die liberale Linke des Mainstreams ausgedehnt, deren Diskurs die moralische und historische Legitimität des jüdischen Staates hartnäckig zu untergraben versucht. Liberale Linke beschreiben Israel als einen Staat, der aus der "Erbsünde" der Vertreibung, Enteignung oder Ausweisung einer "einheimischen" Bevölkerung entstanden ist. Sie schreiben den Juden und dem Staat Israel Grausamkeit, Brutalität, Blutrünstigkeit, Falschheit, Gier und unmoralisches Handeln zu und stützen sich dabei wieder auf den Fundus des klassischen Antisemitismus. Diese Polemik geht über die Frage des doppelten Massstabs hinaus. Sie reicht sehr viel weiter als die lange in den Medien verbreitete Gewohnheit, Israel durch harsche Kritik auszuzeichnen, wie man sie einem anderen Staat nie zumuten würde. Die Mediendebatte über den Antisemitismus und die "Kritik an Israel", die in den letzten vier Jahren in Europa wütete, war geprägt von einem aussergewöhnlich hohen Grad an Heuchelei, Falschheit und durchsichtigen politischen Vorurteilen. In Frankreich z.B. brüstete sich Pascal Boniface, Experte für internationale Beziehungen und dem linken Flügel angehörend, zynisch damit, ein Opfer und die Zielscheibe einer organisierten (jüdischen) Einschüchterungskampagne und des zionistischen "intellektuellen Terrors" zu sein, nur weil er die Regierung Sharon "kritisiert" hatte. In Grossbritannien bemerkte der diplomatische Herausgeber des Observer, Peter Beaumont, ironisch: "Kritisiere Israel und du giltst ebenso sicher als Antisemit, als ob du in Paris einen Farbkübel gegen eine Synagoge geworfen hättest." Die Fakten sagen etwas ganz anderes. Im Oktober 2002 wurden jüdische Friedensaktivisten, die in den Strassen Londons gegen den Krieg in Irak demonstrierten, von hasserfüllten Parolen und Plakaten umzingelt. Die Kundgebung, die von der Koalition "Stoppt den Krieg" zusammen mit der Muslimischen Vereinigung Grossbritanniens organisiert worden war, umfasste auch zahlreiche Teilnehmer, die üppig mit Stirnbändern im Stil der Hamas-Märtyrer ausgestattet waren, sowie Kinder mit Spielzeug-Kalaschnikows und Bombengürteln à la Selbstmordattentäter, gruseligen Transparenten und Wimpeln, auf denen der Davidstern mit dem Hakenkreuz vereint wurde. Zu ähnlichen Szenen - unter anderem auch mit "Tod den Juden"-Rufen - kam es während den letzten vier Jahren auch in den Strassen von Paris, Rom, Berlin und anderen europäischen Hauptstädten. Der Judenhass verkörpert oft die symbolische Kehrseite der "palästinophilen" Münze. Es fällt auf, wie oft sogar links stehende weltliche Publikationen sich auf archaische, christliche theologische Bilder stützen, um antizionistische Anliegen zu untermauern. Die "Kreuzigungen" von Jesus und Jasser Arafat durch israelische bzw. jüdische "Gottesmörder" fliessen in ein bizarres, zeitloses, verschwommenes Bild des Leidens ein. Arme, geknechtete Palästinenser verwandeln sich in gefolterte Opferlämmer, die vom alten Volk der Christusmörder abgeschlachtet werden. Ein völlig entjudaisierter Jesus wird in den ersten palästinensischen Märtyrer umgedeutet und lässt dadurch die Ersatztheologie wieder aufleben, die von den christlichen Kirchen des Abendlandes erst vor kurzem abgelehnt wurde. In den französischen Medien wurde die 39-tägige Belagerung der Geburtskirche in Bethlehem durch die israelische Armee (April 2002) rasch zu einer metaphorischen Wiederholung der Passion Christi. Ihre Symbolik spielte auf die "Ermordung der Kinder" durch König Herodes an, wie sie im Neuen Testament und in der abendländischen Kunst dargestellt wird. Die endlosen Berichte von der Belagerung in Bethlehem zeigten nicht das Sakrileg des gewaltsamen Eindringens bewaffneter Palästinenser in ein bedeutendes Heiligtum der Christenheit, sondern das Bild eines einzigen aufdringlichen israelischen Panzers, der den Eingang zum Manger-Platz bewachte. Der Vatikan steuerte seinen Teil bei, indem er Israel mit unbegründetem Tadel bedachte, der an einige dunklere Seiten der Kirchengeschichte gemahnte. Und um die Macht der subliminalen Wahrnehmung von Israel und den Juden als "Christusmörder" in den europäischen Medien noch zu betonen, erschien in der (angeblich "nicht antisemitischen") liberalen italienischen Tageszeitung La Stampa am 3. April 2002 eine Karikatur vom Jesuskind in Bethlehem. Auf dieser hinterhältigen Zeichnung richtet ein israelischer Panzer seine Waffe auf das Christuskind, das schreit: "Wollen die mich schon wieder umbringen?". Vier Monate zuvor wurde in der französischen linken Tageszeitung Libération (am 26.12.2001) eine ähnlich beleidigende Karikatur veröffentlicht, und zwar unter dem Titel "Keine Weihnachten für Arafat." Jasser Arafat wird von Israel daran gehindert, die Weihnachtsmesse in Bethlehem aufzusuchen. Auf dem Cartoon wird Ariel Sharon gezeigt, wie er mit Hilfe von Hammer und Nägeln ein Kreuz für Arafat zimmert. Ein israelischer Panzer steht daneben. Der darunter stehende Text lässt sarkastisch verlauten, Arafat sei "an Ostern willkommen." Die in Europa herrschende Feindseligkeit gegenüber Israel kann nicht getrennt von den Dämonen ihrer eigenen düsteren Vergangenheit, dem schweren Erbe des Holocausts betrachtet werden. In den letzten Jahren haben Antizionisten den Holocaust immer öfter als Propagandawerkzeug gegen den jüdischen Staat eingesetzt, um zu beweisen, dass die Juden genauso schlecht seien wie ihre früheren Häscher. Ein klassisches Beispiel dafür ist in einer Karikatur in Ethnos (am 7. April 2002) zu sehen, einer bedeutenden regierungsfreundlichen griechischen Zeitung des linken Zentrums, auf der zwei israelische Soldaten in den umstrittenen Territorien abgebildet sind. Der eine sagt zum anderen: "Fühle dich nicht schuldig, Bruder! Wir waren nicht in Auschwitz und Dachau um zu leiden, sondern um zu lernen." Die naziähnlichen Soldaten mit dem Davidstern auf dem Helm werden beim kaltblütigen Abschlachten von Palästinensern gezeigt. Die europäische Elite hat erstaunlich lange gebraucht, um zu begreifen, wie sehr die Methoden, Diffamierungstechniken und das Vokabular der israelfeindlichen Kritiker heute einem klassischen antisemitischen Muster folgen. Sie verurteilen die Mythen von den Juden als "Kriegstreiber", von den "jüdischen Verschwörungen" oder der angeblichen jüdischen Kontrolle der USA nicht als reinen Antisemitismus. Viele von ihnen haben immer noch nicht verstanden, dass das diffamierende Bild des Staates Israel als ein unterdrückendes, kriminelles Land im Grunde eine moderne Verleumdung darstellt und als legitime Kritik vertuscht wird. Man hat sich effektiv mit heftigem Widerwillen dagegen gesträubt anzuerkennen, dass die radikale Verleugnung Israels einen immer heftigeren antisemitischen Diskurs ermöglicht hat, der die Ursache für alle Probleme dieser Welt den Schultern des jüdischen Staates aufbürdet - und ihn dadurch "nazifiziert", während gleichzeitig die Schoah verharmlost wird. Ehemalige europäische Imperialisten - sei es in Grossbritannien, Frankreich, Spanien, Portugal, Holland, Belgien, Deutschland, Österreich oder Italien - ziehen es vor, den israelischen "Kolonialismus" anzuprangern als sich mit ihrer eigenen düsteren Geschichte der Kollaboration während des Holocausts oder ihrem Versagen auseinanderzusetzen, auf die Tragödien nach dem 2. Weltkrieg zu reagieren, wie beispielsweise auf dem Balkan, in Ruanda, im Sudan, in Tibet und Tschechien. Einmal mehr, so scheint es, dienen die Juden dazu, ihre bewährte Funktion als Projektionsfläche für die unterdrückten Schuldgefühle Europas zu erfüllen. * Robert S. Wistrich ist Professor für moderne europäische und jüdische Geschichte an der Hebrew University in Jerusalem. Er leitet das "Vidal Sassoon International Center for the Study of Antisemitism". Zu seinen zahlreichen Werken gehören u.a. Antisemitism: The Longest Hatred (Pantheon, 1991), Nietzsche, Godfather of Facism? (Princeton, 2002), und Hitler und der Holocaust (Berlin, 2003). |