Editorial - Oktober 2005
Von Roland S. Süssmann - Chefredakteur
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
«Et maintenant - que vais-je faire?» (Und jetzt, was werde ich tun?) sang Gilbert Bécaud. Dieser Vers aus einem der schönsten französischen Chansons beschreibt sehr gut die Lage, in der sich Israel heute befindet. Nach der Vertreibung der Juden aus Gaza und Samaria gibt es ebenso viele ungeklärte Fragen wie vor dieser Tragödie: der so genannte Friedensprozess ist keinen Millimeter vorangekommen und auf internationaler Ebene gilt der jüdische Staat weiterhin als «Paria», als die Besatzungsmacht, welche die grundlegenden Menschenrechte der armen Araber von Palästina mit Füssen tritt. Ariel Sharon hat zwar von der UNO Lob, Applaus und gar einige Handschläge von muslimischen Politikern eingeheimst. Aber nicht mehr!
Bevor wir die aktuelle politische Realität analysieren, drängt es sich auf, vor den Helden von Gusch Katif, die aus ihren Häusern vertrieben wurden, den Hut zu ziehen für ihr Verhalten. Jeder von uns sollte diesen Familien dankbar sein, denn sie haben während Jahren den echten Zionismus gelebt, indem sie unfruchtbares Land zum Blühen brachten und gleichzeitig den jüdischen Staat mit vollem Körpereinsatz verteidigten und fast täglich arabische Gewalt über sich ergehen liessen. Viele dieser Familien haben liebe Angehörige verloren oder beklagen bis an ihr Lebensende verstümmelte Kinder. Sie sind erhobenen Hauptes ausgezogen, ohne sich gewaltsam gegen ihre Evakuierung zu wehren, da sie sich der Konsequenzen eines Bürgerkriegs in Israel bewusst waren. «Israel mit vollem Körpereinsatz verteidigt?» Wirklich? Seit über 30 Jahren stellte die Präsenz israelischer Zivilisten in Gusch Katif zusammen mit der Armee eine Absicherung für alle Dörfer und Kibbuzim des Negev dar, die auf diese Weise seit 1967 unbehelligt florieren konnten. Ihr Schutz muss ab sofort von den israelischen Soldaten unter Einsatz ihres Lebens gewährleistet werden, denn es wäre illusorisch anzunehmen, dass die elektronischen Mittel der Armee ausreichen, um die jüdische Präsenz in Gusch Katif zu ersetzen. Weniger als eine Woche nach dem Rückzug von Tsahal erhielten alle Einwohner im Norden der Negev für einige Stunden Ausgehverbot, weil aus Gaza stammende arabische Terroristen in das Dorf Netiv Ha'assara in der Nähe des Kibbuz Yad Mordechai eingedrungen waren. Zur gleichen Zeit öffnete Ägypten sofort seine Grenzen zu Gaza und liess innerhalb von drei Tagen so viele Waffen und Sprengstoff einführen, dass dies die Menge an Waren übertraf, die im Jahr vor dem Rückzug von Tsahal über den Durchgang Philadelphi hereingeschmuggelt wurden. An dieser Stelle bezahlten in den vergangenen vier Jahren zahlreiche israelische Soldaten ihren Kampf gegen diesen Waffenschmuggel mit dem Leben.
Heute jubeln die Araber und die Linken. «Endlich hat Sharon etwas Vernünftiges getan... welch viel versprechender Anfang!». Sie betrachten das Verbrechen der Ausweisung von Tausenden von Juden aus ihren Häusern als einen ersten Schritt hin zur Verwirklichung ihres Traums - zwar nicht den Frieden oder eine Form der friedlichen Koexistenz zwischen beiden Bevölkerungsgruppen, sondern die einzige Endlösung, welche einen befriedeten Nahen Osten garantieren soll: die Schaffung eines islamischen Staates im Herzen Israels mit Jerusalem als Hauptstadt. Nicht Ostjerusalem, sondern Jerusalem. Doch man legt einen Mangel an Scharfsinn und politischer Weitsicht an den Tag, wenn man glaubt, dass es in der arabischen Welt eine so genannte «gemässigte» Tendenz gibt. Sobald der letzte israelische Soldat aus Gaza abgezogen war, erklärte der «gute» Abu Abbas - und zwar nicht auf Arabisch, sondern auf Englisch, damit es auch ja alle verstehen: «Wir feiern den ersten Sieg des grossen Dschihad. Der Kampf geht weiter». Die arabischen Ziele von 1948 wurden nicht aufgegeben. Fast 60 Jahre nach der Gründung Israels wird immer noch dasselbe Ziel verfolgt, das fünf bewaffnete Angriffe sowie den Terrorismus rechtfertigt hat: die Vernichtung des jüdischen Staates und seine Ersetzung durch einen weiteren arabischen Staat.
Die jüdische Geschichte vergisst nicht und sie verzeiht auch nicht. Ariel Sharon, seine Regierung und die 16. Knesset werden als die Legislaturperiode in die Annalen des jüdischen Volkes eingehen, die aufgrund ihrer Schwäche den arabischen Terror sowie die Ermordung und Verstümmelung von Tausenden von Juden belohnte.
Heute trägt Israel keine Verantwortung mehr für die Bevölkerung von Gaza. Doch morgen wird die Armee angesichts der immer zahlreicheren aus Gaza verübten Terroranschläge und angesichts der dort herrschenden Anarchie gezwungen sein, wieder die Kontrolle über diesen Landstrich zu übernehmen, wie sie auch in die Gebiete wird zurückkehren müssen, die seit 1993 an die PLO abgetreten wurden. Nur so wird sie in der Lage sein, ihre Pflicht zu erfüllen, nämlich den Schutz der Bürger Israels. Leider wird in der Zwischenzeit die gegenwärtige, in Israel nur sehr beschränkt spürbare Euphorie sehr rasch durch Kummer und Trauer ersetzt worden sein, wie dies bereits nach den Osloer Abkommen der Fall war.
Während seiner Rede in der UNO bot Ariel Sharon den Arabern den Frieden an, wie schon Ehud Barak am Gipfeltreffen von Camp David im Juli 2000. Letzterer war gescheitert, denn trotz den grosszügigen Konzessionen von Israel hatte es Arafat abgelehnt, den Konflikt zu beenden. Die damaligen Meinungsverschiedenheiten bestehen weiterhin: die Flüchtlinge, der Grenzverlauf, Jerusalem und die Sicherheitsvorkehrungen in der Westbank. Im Zusammenhang mit dem erstgenannten Punkt erschien vor kurzem ein Artikel in der arabischen Tageszeitung von London, Al-Hayat, in dem Abu Mazen schrieb: «Die Rückkehr der Flüchtlinge kann nur in Israel erfolgen und nicht in einem palästinensischen Staat. Wir waren geschockt durch die Worte von George Bush betreffend die Bewahrung Israels als jüdischen Staat, denn wir hatten gehofft, dieses Land mit Hunderttausenden von Flüchtlingen überschwemmen zu können und somit die Mehrheit vor den Juden zu bilden». Die Botschaft ist eindeutig. In Bezug auf den Grenzverlauf verlangt die PLO nicht nur die Wiederherstellung der Grenzen von 1967, d.h. die vollständige Aufhebung sämtlicher jüdischer Siedlungen in Judäa-Samaria, sondern auch einen Teil der Region von Latrun, zu der ein Teilstück der Autobahn zwischen Jerusalem und Tel Aviv gehört. Im Zusammenhang mit Jerusalem fordert Abu Mazen neben der Tatsache, sie zur Hauptstadt des zukünftigen palästinensischen Staates machen zu wollen, die Vernichtung der jüdischen Siedlungen in der Umgebung. Er erklärt: «Es mag eine Verbindung zwischen den Juden und der Klagemauer geben, doch dies ist kein Grund, sie unter israelischer Herrschaft zu behalten». Und was die Sicherheitsvorkehrungen angeht, so lehnt die PLO jede Form der israelischen Präsenz in der Westbank ab. 12 Jahre nach Oslo, da alle Welt infolge des Tods von Arafat und des Rückzugs aus Gaza von «neuen Chancen» spricht, scheint ein Abkommen, sogar ein symbolisches, das ein friedliches Zusammenleben ermöglicht und Israel wenigstens gut zu verteidigende Grenzen garantiert, in immer weitere Ferne zu rücken.
Was kann, was soll man unter diesen Umständen tun? Für uns, die Juden der Diaspora, kommt es trotz des Traumas der Evakuierungen nicht in Frage, Israel weniger nachdrücklich zu unterstützen. Wir sind dem jüdischen Staat und nicht einer Regierung verpflichtet. Israel hingegen weiss, welche Stunde es nun geschlagen hat: wenn es aus einer Position der Stärke heraus verhandeln möchte, muss es seine jüdische Identität intensivieren und die militärischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Errungenschaften vorantreiben. Vielleicht geben sich die Grossen dieser Welt morgen nicht mehr deswegen die Klinke bei einem Premierminister in die Hand, weil er kapituliert hat, sondern weil sie von allen Beiträgen Israels zugunsten der Menschheit profitieren möchten.
Das zu Ende gehende Jahr hinterlässt einen bitteren Beigeschmack. Beginnen wir das neue Jahr im Sinne eines Verses des Propheten Jeremia, den General Gerschon Hacohen, Verantwortlicher der Rückzugsoperation, ganz zuoberst auf den Tagesbefehl für seine Leute setzte, die unbewaffnet die Familien aus Gusch Katif vertreiben mussten: «Und gleichwie ich über sie gewacht habe, auszureissen und einzureissen, zu verderben und zu zerstören und zu plagen, so will ich über sie wachen, zu bauen und zu pflanzen, so spricht der Herr».
In diesem konstruktiven und zutiefst jüdischen Sinne wünscht Ihnen das gesamte Team von SHALOM ein wunderbares Jahr.
Roland S. Süssmann
Chefredakteur - Oktober 2005