«Échevin» und Jiddische Mama! | |
Von Roland S. Süssmann | |
Der Begriff «Échevin», wie der stellvertretende Bürgermeister in Belgien genannt wird, stammt laut Wörterbuch noch aus dem Ancien Régime. Nun stellt sich also die Frage, wie sich eine gute jüdische Mutter und Grossmutter in einer solchen Funktion zurechtfindet! Eine hat es geschafft, es ist MONIQUE LANGBORD, geborene Faynsztein, deren Berufsbezeichnung auf der Visitenkarte eindeutig lautet: «Stellvertretende Bürgermeisterin für das Standes- und Einwohneramt» der Gemeinde Forest in Brüssel. Doch bevor wir etwas über die gegenwärtige Tätigkeit von Monique Langbord erfahren, interessiert uns die Geschichte, wie sie als Kind vor der Deportation gerettet wurde und wie sie die Zeit der deutschen Besatzung überlebt hat. Zu Beginn des Kriegs wurden die jüdischen Staatsbürger Belgiens noch geschützt. Ihre Mutter, eine aus Charleroi stammende belgische Jüdin, hatte die kleine Monique in Brüssel in der Obhut der Grosseltern väterlicherseits gelassen, die polnische Emigranten waren. Infolge einer Denunziation drang die Gestapo bei ihnen ein und nahm die gesamte Familie mit, darunter auch die damals etwas über zweijährige Monique. An diesem Tag besuchte Moniques Mutter ihren staatenlosen Ehemann, der sich versteckt hatte. Bei ihrer Rückkehr erhielt sie von den Nachbarn den Rat, sich bloss nicht dem Gebäude zu nähern, in dem ihre Schwiegereltern wohnten, die Gestapo sei gerade dabei sie zu verhaften. So sah sie also zu, wie sie und ihr kleines Mädchen weggebracht wurden. Dank einer Kontaktperson in der Widerstandsbewegung erfuhr sie, dass sich ihre Tochter in Mahlines (Mechelen) im Durchgangslager befand, von wo Tausende von belgischen Juden nach Auschwitz deportiert wurden. Die junge Irène Faynsztein, 22 Jahre alt, setzte Himmel und Erde in Bewegung, um ihre Tochter zu retten. Schliesslich wurde sie von einem deutschen General namens Frank empfangen, dem sie erklärte, dass ihre ganze Familie verhaftet worden sei und dass ihr nur noch ihr Töchterchen bleibe, die sie zurückholen wolle. Der General vergewisserte sich, dass seine Besucherin kein Deutsch verstand (sie sprach jedoch Jiddisch), und rief den Lagerkommandanten an: «Ich habe eine gute Nachricht für dich: meine Frau hat vor kurzem eine Tochter geboren, und als Geschenk für sie möchte ich dich bitten, dieses eine Kind zu befreien». Daraufhin stellte er einen Passierschein aus. Als Irène mit ihrem gelben Stern auf den Kleidern in Mechelen im Durchgangslager eintraf, fragten sie alle, denen sie begegnete: «Was ist los? Wir wurden mit Gewalt hierher geschleppt, und du kommst freiwillig?». Sie sprach mit dem Lagerkommandanten, der nach ihrer Tochter Monique schickte. Diese wollte aber bei ihrem Grossvater bleiben und weigerte sich mitzukommen. Da liess er den Grossvater holen, der das kleine Mädchen mitbrachte und das Kind über zwei Gewehrläufe hinweg der Mutter in die Arme legte. Am nächsten Tag fuhr der Konvoi ab, der die Schwiegereltern nach Auschwitz brachte? Die kleine Monique wurde in den letzten Kriegsjahren von verschiedenen katholischen Familien versteckt, vor allem in Charleroi. Am Ende des Krieges kehrte sie zu ihren Eltern zurück, doch die ganze übrige Familie war deportiert worden, mit Ausnahme der Schwester ihrer Mutter, die sich der Résistance angeschlossen hatte und sich sofort nach dem Krieg in Palästina niederliess. «Eigentlich ist mein Leben ein Geschenk, ich bin ein Geschenk und das vergesse ich nie.» Mit diesen knappen, aber eindrücklichen Worten definiert sich Monique Langbord. In ihrem jungen Leben waren ihr noch weitere Überraschungen beschieden. 1957 begleitete sie ihre Mutter zu einer Hochzeitsfeier der Familie nach Israel. Auf dem Schiff verliebte sich die damals 16-jährige Monique in einen schönen israelischen Seemann? den sie drei Jahre später heiratete! Monique war fern von aller jüdischen Tradition erzogen worden und hatte sich daher bis zu ihrer Reise nach Israel eigentlich kaum um ihr Judentum gekümmert, von dem sie in Wirklichkeit nur zwei Aspekte kannte: «Keine Ehe mit einem Nichtjuden und die Geschichte der Schoa». Nun beschloss sie aber, an die Abteilung für Bildung und Erziehung der Jewish Agency in Israel zu schreiben, um Informationen über das Judentum zu erhalten und Hebräisch zu lernen. Während zwei Jahren bildete sie sich also autodidaktisch weiter. Als sie heiratete, wurde Hebräisch zur Familiensprache, da ihr Mann nur Hebräisch und kaum Englisch sprach. Das junge Paar lebte zwei Jahre lang in Israel, wo es Monique sehr gut gefiel. Schliesslich überzeugte aber ihr Vater ihren Ehemann, sich in Belgien niederzulassen, um sein Geschäftspartner zu werden. Monique zog ihrerseits ein Dekorationsunternehmen auf, das 25 Jahre sehr erfolgreich war? und doch trauerte sie die ganze Zeit bitterlich dem Leben in Israel nach. Wie sind Sie zur Politik gekommen? Rein zufällig. Wir gehörten einer liberalen Gegenseitigkeitsgesellschaft an, deren Direktor Petit stellvertretender Bürgermeister war. 1988 nahm er Kontakt mit meinem Mann auf, um ihn bei den Wahlen auf seine Liste zu setzen. Mein Mann, der Israeli ist und nicht besonders gut Französisch spricht, lehnte aber ab. Er fragte ihn, ob nicht ich vielleicht Interesse hätte. Zu jener Zeit interessierte ich mich absolut nicht für belgische Politik, ich befasste mich ausschliesslich mit dem israelischen Geschehen und wir hatten nur israelische Freunde. Als Herr Petit mir diesen Vorschlag machte, wies er ebenfalls darauf hin, dass ich dafür überhaupt nichts tun müsse, ausser fotografiert zu werden und angesichts der bevorstehenden Wahlen auf einem Plakat zu erscheinen. Ich sagte zu und wurde zu meiner grossen Überraschung nicht nur gewählt, sondern auch zur Stellvertreterin ernannt, was im Klartext bedeutet, dass ich keine Aufgaben hatte, solange niemand zurücktrat. Doch sechs Monate später geschah genau dies, ein Rücktritt! Ich wurde ins staatliche Sozialhilfezentrum (Centre public d'Aide sociale C.P.A.S.) berufen, wo ich zwei Mal monatlich an einer Sitzung teilzunehmen hatte. Und das, was dort stattfand, fand ich recht interessant. In diesem Zusammenhang wurde ich zum Vormund eines kleinen mongoloiden Mädchens ernannt, was mich sehr berührte. Ein Jahr später erfolgte ein zweiter Rücktritt, diesmal im Gemeinderat. Da ich bereits Beraterin im C.P.A.S. war, wollte ich nicht zwei Funktionen gleichzeitig ausüben. Es wurde jedoch ein Sondergesetz verabschiedet, damit ich beiden Tätigkeiten parallel nachgehen konnte. Mit der Zeit begann ich Spass an meinen Aufgaben zu haben, und bei den nächsten Wahlen wurde ich in den Stadtrat gewählt? dank meinem Hund! Ich besass nämlich eine graue dänische Dogge, die gross und sehr Furcht einflössend war und die jeder im Quartier kannte. Für die Plakate der Wahlkampagne habe ich mich mit ihr fotografieren lassen, so dass hinterher alle sagten, eigentlich sei ja der Hund gewählt worden. Nach einiger Zeit gab ich meine berufliche Tätigkeit auf, löste mein Unternehmen auf und fuhr nach Israel, um mich dort bei einer Freundin auszuruhen. Zu diesem Zeitpunkt fanden nationale Wahlen statt, und Corinne de Parmentier, stellvertretende Bürgermeisterin für Kultur und Standesamt in Forest, wurde zur Ministerin ernannt. Nach drei Tagen in Israel erhielt ich folgende Nachricht: «Corinne ist Ministerin geworden, sie möchte dich als ihre Nachfolgerin». Ich fuhr also sofort nach Hause zurück, und obwohl sich auch ein anderer Kandidat, ein Rechtsanwalt, um den Posten bewarb, wurde ich gewählt. Dies ist nun rund fünf Jahre her. Ich lernte also, was ein stellvertretender Bürgermeister zu tun hat, entdeckte nach und nach die Pflichten und Verantwortungen, die mit dieser Wahl einhergingen. Nach einem Jahr fanden erneut Wahlen statt, und zu meiner grossen Verblüffung wurde ich wiedergewählt. Ich bin also die erste jüdische «Échevin» in der Geschichte, erst vor kurzem wurde eine andere Glaubensschwester in eine andere Gemeinde berufen. Welche Aufgaben gehören zu Ihrer Funktion? Bevor ich Ihre Frage beantworte, möchte ich noch sagen, dass ich mein «Chaj» immer schön sichtbar um den Hals trage. Nun, ich fungiere also als Stellvertreterin des Bürgermeisters. Es gibt einen Bürgermeister, dessen Aufgaben in fünf Bereiche unterteilt sind, denen jeweils ein Stellvertreter vorsteht. Ich kümmere mich um die Geburten, Eheschliessungen, Todesfälle, die Ausstellung von Identitätskarten und Pässen und führe alle rein administrativen Angelegenheiten aus. Drei Mal wöchentlich zelebriere ich standesamtliche Hochzeiten, was oft ganz amüsant ist, wenn es sich um jüdische Paare handelt und sie mein «Chaj» entdecken. In diesem Zusammenhang stehe ich vor dem schwer wiegenden Problem der Scheinehen. In der nordafrikanischen Gemeinschaft heiraten viele Marokkaner und Marokkanerinnen belgische Staatsbürger nur, um eine Niederlassungsbewilligung zu bekommen. Die Personen, welche eine Ehe eingehen möchten, schreiben sich im Standesamt ein, und auf die Frage nach ihrer Niederlassung antworten sie «ohne Eintragung», was bedeutet, dass sie hier keine Papiere besitzen. Ich führe also ein Gespräch mit ihnen und stelle ihnen einige ganz präzise Fragen. Ich vermerke alle Widersprüche und reiche das Dossier an den Staatsanwalt weiter. Dieser gibt mir seine Meinung, doch die endgültige Entscheidung liegt bei mir. Interessanterweise ist es in der Regel ein Marokkaner, der eine Belgierin heiraten möchte, nicht umgekehrt. Wird die Eheschliessung abgelehnt, legen die Betroffenen oft Berufung ein, die Rechtsanwälte mischen sich ein, und es ist auch schon vorgekommen, dass ich verurteilt werde, weil ich eine Eheschliessung verweigert habe. In diesem Fall verteidigt mich aber die Gemeinde. Sehr oft kommen «frisch getraute Ehefrauen» eine Woche nach der Hochzeit zu uns und sagen, ihr Mann sei verschwunden, sobald er die Papiere gehabt habe, sie würden nun die Annullierung der Ehe verlangen. Dieses Verfahren ist langwierig und sehr kompliziert. In den meisten Fällen lassen sich belgische Frauen auf eine derartige Verbindung ein, weil sie dafür bezahlt werden; der Tarif liegt zurzeit bei rund 10'000.- Euro. Wenn ich eine Eheschliessung ablehne, werde ich auch oft beschimpft und bedroht, doch dadurch lasse ich mich nie umstimmen. Ist Forest ein jüdisches Viertel? Forest besteht aus zwei Teilen, einem oberen und einem unteren. Viele Juden leben im oberen Teil des Quartiers, während der untere vor allem von Maghrebinern besiedelt ist. Es gibt nur eine Synagoge und es werden viele Aggressionen gegen Rabbiner und Kippah tragende Männer verübt. Dazu muss man wissen, dass immer mehr Juden in die flämischen Gemeinden ziehen, da dort die Regeln betreffend Ausländer viel strenger sind, was im sehr permissiven Brüssel nicht der Fall ist. Die Brüsseler Behörden glauben, dass sie Attentate vermeiden, wenn sie sehr nachsichtig mit Muslims umgehen. Ich denke aber, dass die gewalttätigen Ausschreitungen, seien es nun Angriffe gegen Juden oder gegen andere Einwohner, eine grosse Gefahr für die gesamte Gesellschaft darstellen. In den letzten Jahren hat die maghrebinische Gemeinschaft einen Wandel durchgemacht. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die neuen Immigranten aus einfacheren und ärmeren Kreisen in Marokko stammen; es sind oft Analphabeten und die jungen Leute sind sehr aggressiv. Diese Situation bewirkt zahlreiche negative Entwicklungen und Gefahren, wie z.B. die Tatsache, dass die schlechten marokkanischen Schüler in einer Art schulischer «Ghettos» zusammenfinden, die in Wirklichkeit den Ursprung, um nicht zu sagen eigentliche Brandherde für Gewalttätigkeiten darstellen. Meiner Ansicht nach hat man es nicht speziell auf die jüdische Gemeinde abgesehen, doch es ist nicht von der Hand zu weisen, dass es in gewissen Quartieren täglich zu Vorfällen kommt. Es gibt fünf oder sechs Gemeinden, in denen viele Nordafrikaner leben, und es handelt sich dabei um problematische Quartiere. Forest gehört auch dazu. Wie sehen Sie die Zukunft? Ich bin nicht sehr optimistisch, denn die maghrebinische Gemeinschaft wächst sehr schnell. In einigen Jahren werden wir wohl viele stellvertretende Bürgermeister maghrebinischer Herkunft haben. Viele Maghrebiner sind bereits im Parlament vertreten und kontrollieren mehrere Ministerien. Heute kann man diese Entwicklung nicht mehr umkehren. Ausserdem konvertieren zahlreiche junge belgische Frauen zum Islam. Es sind in der Regel Mädchen aus der Provinz, die sich zu Hause unglücklich fühlen, oft nicht sehr hübsch und ziemlich ungebildet sind und sich freuen, einen marokkanischen Ehemann zu finden, der oft etwas darstellt. Darüber hinaus sind marokkanische Familien sehr gastfreundlich, so dass diese Frauen ein Umfeld vorfinden, das netter mit ihnen umgeht als die eigene Familie. Wir leben in einer recht paradoxen Zeit. Einerseits steigen die Präsenz und die Aggressivität der in Belgien lebenden nordafrikanischen Bevölkerung, andererseits wird der Rassismus immer besser akzeptiert, verbreitet sich und erweist sich als äusserst heftig. Wurden Sie im Rahmen Ihrer Tätigkeit mit antisemitischen Handlungen konfrontiert? Noch nie, ganz im Gegenteil. Einige meiner Kollegen stammen aus dem Maghreb und versäumen keine Gelegenheit mir zu sagen, ich könne sie dadurch, dass ich eine Jüdin sei, viel besser verstehen. Ich habe übrigens kürzlich eine belgische Angestellte entlassen, die eine belgische Kollegin maghrebinischer Herkunft beleidigt hatte, indem sie sie «Kameltreiberin» nannte. Als Jüdin konnte ich ein derartiges Verhalten nicht durchgehen lassen, mir ging diese Beleidigung viel näher als jemand anderem, gerade wegen meiner Abstammung. Zur Bar Mitzwah meines Enkels hatte ich meine zwei maghrebinischen Berater eingeladen? die aber nicht kommen konnten, weil das Fest mitten in den Monat Ramadan fiel! Sie haben mir versprochen, bei der nächsten Bar Mitzwah auf jeden Fall dabei zu sein. |