Vertrauen und Vorsicht | |
Von Roland S. Süssmann | |
In der Regel interviewen wir anlässlich unserer Reportagen in den jüdischen Gemeinschaften rund um die Welt immer auch den Präsidenten der Hauptstadtgemeinde. In Belgien stellte sich dies als etwas schwierig heraus, da es in Brüssel sechs verschiedene Gemeinden gibt. Daher haben wir beschlossen, uns auf ein Gespräch mit dem Präsidenten des Zentralen Israelitischen Konsistoriums von Belgien zu beschränken: Professor JULIEN KLENER hat für uns die gegenwärtige Situation der jüdischen Gesellschaft in Belgien scharfsichtig und illusionslos analysiert. Doch bevor wir ihm das Wort erteilen, erscheint uns ein kurzer geschichtlicher Abriss dieser Dachorganisation unerlässlich. Die jüdische Gemeinde von Belgien entstand in ihrer heutigen Form im Jahr 1832, als auf Anregung einiger junger Juden deutscher Abstammung das Zentrale Israelitische Konsistorium von Belgien offiziell ins Leben gerufen wurde. Damit wurde eigentlich eine Organisation fortgeführt, die bereits seit 1808 unter den Bezeichnungen «Konsistorium im Reich» (1808-1815) und später «Zentrale Synagoge» (1815-1830) die jüdischen Gemeinden vereinigte. Obwohl diese Organismen verschiedene Gemeinden umfassten, verkörperten sie keine offizielle Organisation, die das belgische Judentum wirklich vertrat. Die neuen Verantwortlichen der Gemeinden drückten ihre Absicht in einer Petition aus, die sie im Januar 1831 an den Nationalkongress richteten. Sie erklärten sich zu «belgischen Staatsbürgern israelitischen Glaubens» und verlangten, dass die Gleichberechtigung aller Belgier vor dem Gesetz, die Unterrichtsfreiheit und vor allem die Glaubensfreiheit in der Verfassung verankert würden. Da der belgische Staat erst im Entstehen begriffen war, lag den Juden sehr viel daran, dass ihre Gemeinschaft ihren Platz im Staatswesen fand und vor allem in den Genuss aller Vorteile kam, von denen die anderen anerkannten Religionen profitierten. Das Konsistorium wurde auf diese Weise zum offiziellen und rechtmässigen Ansprechpartner der Behörden und erhielt den Auftrag, die Interessen des jüdischen Glaubens zu vertreten und zu verteidigen, einschliesslich der Wahl der Geistlichen usw. Die offizielle Anerkennung durch den belgischen Staat erfolgte ziemlich rasch, nämlich am 21. Mai 1832. Heute sind dem Zentralen Konsistorium sechzehn Gemeinden angeschlossen: 3 in Antwerpen, 1 in Arlon, 6 in Brüssel, 1 in Charleroi, 1 in Gent, 1 in Knock, 1 in Lüttich, 1 in Oostende und 1 in Waterloo. Die Aufgaben des Konsistoriums sind viel umfassender, als seine Gründer zunächst vorgesehen hatten. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs beinhalten seine Tätigkeiten kulturelle und erzieherische Aspekte sowie die Information der Medien. Es setzt sich ebenfalls für den Schutz des jüdischen Kulturguts ein, für die geschichtliche Erforschung des belgischen Judentums, für die Bewahrung der Erinnerung an die Schoah, die Durchführung von Radio- und Fernsehsendungen zu jüdischen Themen und die Verteidigung Israels. Auf der rein organisatorischen Seite kümmern sich neben der Konsistorialversammlung der Vorstand, ein Sekretariat sowie eine Reihe von Kommissionen um die verschiedenen Angelegenheiten und Bereiche des Konsistoriums. Was macht in Ihren Augen die Besonderheit der jüdischen Gemeinschaft von Belgien im Vergleich zu anderen Gemeinschaften in Europa aus? Wir weisen zwei Hauptgemeinden auf, die zwar nur 50 km auseinander liegen, aber eine völlig unterschiedliche Atmosphäre aufweisen. Die jüdische Gemeinde von Antwerpen ist viel frommer und orthodoxer als diejenige von Brüssel. Es ist so, dass in Antwerpen alle chassidischen Dynastien (von den Lubawitsch bis zu den Satmar) und Ausrichtungen des orthodoxen Judentums zu finden sind, während das so genannte liberale Judentum dort als Struktur nicht vertreten ist. Brüssel ist eine jüdische Gemeinde, wo auch fromme Juden leben, wo aber vor allem das traditionalistische oder typisch lokal geprägte Judentum vorherrscht und das Gemeindeleben prägt. In Brüssel definieren einige Menschen ihr Judentum über eine Art «Nicht-Gläubigkeit», wie ich es nennen würde, d.h. als rein kulturelle Tatsache. In Antwerpen ist in einigen Bereichen eine höhere Konzentration bestimmter Berufe zu beobachten, während die jüdische Gemeinschaft in Brüssel in ihrer beruflichen Ausrichtung vielfältiger ist. Insgesamt machen die Juden ungeachtet ihrer Tendenzen und Einstellungen eine Bevölkerung von rund 35'000 bis 42'000 Personen aus. Diese Gemeinschaft sah vor dem Zweiten Weltkrieg noch anders aus. Es heisst immer wieder, es seien verhältnismässig viele belgische Juden gerettet worden, was auch zutrifft, doch es bedeutet gleichzeitig, dass fast 27'000 Menschen ermordet wurden. Da ich 1939 geboren wurde, gehörte auch ich zu den versteckten Kindern. Wir lebten in Oostende, und bei der ersten Zusammentreibung mussten meine Eltern nach Brüssel reisen, wo wir uns versteckt haben - ich an einem Ort, sie an einem anderen. Wie sehen die Beziehungen der Juden zur belgischen Gesellschaft aus? Wir werden heute in Belgien, wie überall in Europa, mit dem erneuten Aufkommen von Antisemitismus, Antizionismus oder Judenfeindlichkeit konfrontiert. Während einigen Jahren nach der Schoah ziemte es sich nicht mehr, Ausdrücke wie «Tod den Juden» zu verwenden, als Juden erkennbare Menschen anzugreifen oder judenfeindliche Sprüche zu klopfen. Seit einiger Zeit ist dies alles wieder an der Tagesordnung. Die offiziellen Stellen sahen dies zunächst nur als Begleiterscheinung an, doch nach und nach wurde ihnen aufgrund der Wiederholung dieser Taten und Vorkommnisse klar, dass wir einer sich wandelnden Gesellschaft gegenüberstehen. Vergessen wir nicht, dass es zu einer ganzen Serie von Angriffen mit Molotowcocktails gegen Synagogen gekommen ist, dass Juden mehr oder weniger heftig geschlagen oder beleidigt wurden und dass unser Oberrabbiner in der U-Bahn tätlich attackiert wurde. Die Behörden haben begonnen, immer öfter Massnahmen zu ergreifen, wie z.B. die Schaffung des Zentrums für Chancengleichheit, das alle judenfeindlichen Vorfälle registriert. In gewissen Fällen reicht diese Institution auch Klage ein, gegenwärtig sind mehrere Fälle hängig. Ich werde nicht näher auf die Schutzmassnahmen eingehen, denn schon in den 1970er Jahren befanden sich bei hohen Festtagen Polizisten inner- und ausserhalb der Synagogen. Damals fanden das alle normal, was es natürlich überhaupt nicht war. In Bezug auf die antisemitischen Taten in Belgien hat uns der Justizminister zu verstehen gegeben, dass die Grenze nun erreicht worden sei und man endlich etwas unternehmen müsse. Es wurde auch eine Krisenzelle gegründet, die bei schweren Vorfällen sofort eingreifen kann. Bis heute ist sie allerdings noch nie angerufen worden und ich hoffe, dies wird nie der Fall sein. Die verschiedenen Gemeinden haben eine spezielle Telefonnummer eingerichtet, über welche die betroffenen Instanzen bei judenfeindlichen Vorkommnissen sofort informiert werden können. Diese Nummer verkörpert viel mehr als eine Zentrale zur Beobachtung oder Auflistung antisemitischer Angriffe, sie ist auch Ausgangspunkt aller Gegenmassnahmen. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass diese Situation für die Gemeinde sehr unangenehm ist. Einige werfen mir vor, ich sei besorgter als andere, weil ich aus der Vorkriegsgeneration stamme und folglich irgendwo in meinem Unterbewusstsein existenzielle Ängste hege, nur weil ich Jude bin. Man sagt, ich würde überreagieren aus Angst, meine Kindheitserfahrungen noch einmal durchzumachen. Fest steht, dass eine Veränderung stattgefunden hat, die auf einen Wandel der Strukturen in den europäischen Gesellschaften zurückzuführen ist. Ich glaube, ganz ohne zu verallgemeinern, dass ein Grund dafür die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Probleme sind, mit denen die maghrebinischen Einwanderer konfrontiert sind. In den letzten Jahren hat sich das Klima innerhalb der jüdischen Gesellschaft in Bezug auf die Aussenwelt verändert, es steigen Ängste an die Oberfläche und man fragt sich, was die Zukunft wohl bringt, in welche Richtung sich die Gesellschaft entwickelt und was man nun tun soll. Schon allein die Tatsache, dass diese Fragen plötzlich auftauchen, verändert die Atmosphäre von Grund auf. Als Jude - und anders kann man gar nicht leben - muss man eine Art messianischen Optimismus besitzen, der besagt: «Es kommt schon alles gut». Haben Sie den Eindruck, dass Ihre Gemeinde sich letztendlich immer mehr abkapselt? Ich habe keine allgemeine Tendenz dieser Art festgestellt. Unsere internen Kämpfe gehen unverändert und aktiv weiter, als ob alles noch beim Alten wäre. Was allerdings wirklich spürbar wird, ist diese Atmosphäre der Hinterfragung betreffend die Zukunft dieser jüdischen Gemeinschaft sowie die Art und Weise, wie sich die westlichen Demokratien entwickeln werden. Es ist klar, dass die Gesellschaft dann, wenn es zu gesellschaftlichen Brüchen kommt und man hier Parolen hört, die für ein fundamentalistisches Regime typisch wären, reagieren muss. Es stellt sich nun die Frage, bis zu welchem Punkt wir Widerstand leisten können, ohne die Demokratie zu verletzen. Als Jude frage ich mich, ob ich in einer Gesellschaft leben kann, die nicht oder nicht mehr demokratisch ist. Wir wissen aus Erfahrung, dass totalitäre Systeme für Minderheiten, insbesondere für die Juden, nie gut waren. Doch mich stört noch etwas anderes. Ich fühle mich plötzlich «vergemeindet». Dies bedeutet im Klartext, dass man sich wegen Problemen mit einer Minderheit und aus «Sorge um das Gleichgewicht» in der gleichen Art auch an die jüdische Gemeinde wenden wird. Ich bin sehr glücklich darüber, Jude zu sein und mein Judentum auf meine Weise zu leben, aber ich möchte nicht, dass mich jemand anderes ständig an mein Judentum erinnert. Meiner Ansicht nach beraubt man mich irgendwie ein wenig meiner Entscheidungsfreiheit, indem man an meiner Stelle beschliesst, wann und wo ich mit meiner Etikette als Jude zu erscheinen habe. Ich wünsche nicht, wie dies kürzlich geschehen ist, dass man mich noch einmal nach meiner doppelten Treuepflicht fragt. Ich dachte, diese Frage sei durch den napoleonischen Sanhedrin und die umfangreiche Literatur zu diesem Thema im 19. Jahrhundert geregelt worden. Plötzlich stehen wir erneut vor dieser Frage, und die Tatsache allein, dass sie sich wieder stellt, erfüllt mich und uns alle mit unangenehmer Besorgnis. Denken Sie, dass die Juden in voraussehbarer Zukunft Belgien allmählich verlassen werden? Ich weiss es nicht. Ich stelle jedoch fest, dass die Fragen, die wir uns bezüglich Zukunft und Ausrichtung unserer gegenwärtigen Gesellschaft stellen, auch in nichtjüdischen Kreisen zu denken geben. Es hat nichts mit Selbstlob zu tun, aber in meinen Augen besitzen die Juden historische Antennen, dank denen sie gewisse Hinweise im Hinblick auf gesellschaftliche Veränderungen wahrnehmen können. Darüber hinaus ist es nicht ausgeschlossen, dass sie diese aufgrund ihrer Sensibilisierung und ihres Erinnerungsvermögens ein wenig früher wahrnehmen als andere. Dieses Bewusstsein bezüglich bevorstehender Veränderungen setzte mit der ersten Intifada ein, ging mit der zweiten Intifada weiter und erlebte mit den Ereignissen des 11. Septembers 2001 eine zusätzliche Intensivierung. Wie nehmen Sie diese Infragestellung bei der Jugend wahr? Es ist eine immer wiederkehrende Frage, die auf allen Ebenen der jüdischen und nichtjüdischen Gesellschaft auftaucht. Sehr oft vernehme ich bei meinen nichtjüdischen Schülern die Ankündigung: «Ich bleibe nicht in diesem Land». Die Geschichte wiederholt sich nicht, aber manchmal plagiiert sie sich selbst. In unserer Gesellschaft werden sich wohl viele sehr schnell sagen: «Das ist alles nichts mehr für uns», und werden gehen. Andere werden bis zum bitteren Ende oder darüber hinaus bleiben. Mir liegt ein berühmter Satz auf der Zunge, obwohl ich hoffe, dass er auf diese Situation nicht zutreffen wird: «Vor dem Krieg gab es in Berlin Optimisten und Pessimisten. Die Pessimisten sind in die USA emigriert,? die Optimisten kamen nach Auschwitz!». Ich möchte abschliessend auf meine eigene Erfahrung zurückgreifen. Ich habe meinen Eltern immer vorgeworfen, nicht das letzte Schiff von Oostende nach London genommen zu haben, als die Zeit noch gereicht hätte. Sie antworteten mir: «Wir waren doch belgische Juden, wir dachten nicht, dass?». Ich denke also, dass wir Vertrauen haben müssen, aber auch vorsichtig, aufmerksam und vor allem in der Lage sein sollten, im richtigen Moment die richtige Entscheidung zu treffen! |