«Ch’hob gezeïn a Barg» | |
Von Roland S. Süssmann | |
Zeitungsredaktionen werden jeweils überschwemmt mit CD's, Büchern und Mitteilungen aller Art. Ein kurzer Blick genügt meist um zu ermitteln, ob etwas Interessantes dabei ist, doch die Wegwerfquote liegt bei rund 95%. Als ich die CD «Rejsele - Lin Jaldati und Ensemble» - Music of Easten European Jews - erhielt, erregte der Titel meine Aufmerksamkeit, da er das eigentliche Thema der Platte, nämlich jiddische Lieder, Gedichte und Musik verschiedener Arten, nicht wirklich definierte. Doch bevor ich über den bewegenden Inhalt der CD berichte, drängt sich ein wenig Information zum Ensemble auf. Lin Jaldati stammt aus dem jüdischen Quartier von Amsterdam, Jodenhoek, wo ihre Familie seit mehreren Generationen wohnhaft war und wo zahlreiche Einwanderer aus Osteuropa lebten. 1938 gab Lin als Tänzerin und Sängerin zusammen mit dem Pianisten Eberhard Rebling in Amsterdam und Den Haag ihre ersten Konzerte mit jiddischen Liedern. Nach der deutschen Besetzung schloss sie sich sofort der Widerstandsbewegung an. Eberhard wiederum weigerte sich, der Wehrmacht beizutreten, und beide gaben zusammen viele illegale Konzerte. Dann wurde Lin verhaftet und in die Lager Westerbork, Auschwitz und Bergen-Belsen gebracht. Nach der Befreiung nahm sie mit Eberhard Rebling die Tourneen durch ganz Europa wieder auf. Merkwürdigerweise führte der Traum von einem Deutschland, in dem nie wieder Krieg herrscht, 1952 zu ihrer Niederlassung in der DDR. Unter dem kommunistischen Joch gab es jüdische Gemeinschaften und ein jüdisches Kulturleben. In diesem Rahmen gaben nun Lin und ihr Ensemble, d.h. ihr Ehemann Eberhard am Klavier und ihre Töchter Kathinka als Geigerin und Jalda als Sängerin zahlreiche Konzerte, um das Aussterben der jiddischen Kultur zu verhindern. Im Rahmen ihrer Hundertjahrfeier veranstaltete die jüdische Gemeinde von Zürich 1984 ein Festival jiddischer Lieder. Das Ensemble Lin Jaldati wurde dazu eingeladen und die Aufführung des «einzigen jiddischen Theaters der DDR» ist allen, die das Privileg hatten im Publikum zu sitzen, noch in lebhafter Erinnerung. Die grosse Lokalpresse berichtete damals unter dem Titel «Eine Sternstunde» über das Konzert. Die CD umfasst wesentliche Ausschnitte dieses bemerkenswerten Konzerts. Fröhliche oder nostalgische Lieder, die den Alltag im Stetl widerspiegeln, wie z.B. «Die Mame iz gegangen», die Geschichte einer Familienmutter, die auf den Markt geht und von dort einen potenziellen Verlobten für die Tochter mitbringt; Lieder, aus denen die Tiefe der jüdischen Seele spricht, wie «Das Pintele», in dem ein Chassid in einem Brief an seinen Rabbi von seinen existenziellen Problemen berichtet; Gedichte wie das Werk, das Mordechai Guebirtig 1938 unter dem Titel «Es brennt» schreibt, eine Warnung vor den Gefahren, die den Juden in Europa auflauern; ermutigende Lieder wie «Rejzele», in dem die Geschichte eines jungen Mädchens erzählt wird, deren Haus zu leben anfängt, wenn ihre süsse Stimme erklingt, noch vor der Schoah geschrieben von Mordechai Guebirtig und von Lin am Konzert vorgestellt mit den Worten: «Dieses Lied, das ich sehr liebe, habe ich oft meinen Mitgefangenen in allen Lagern vorgesungen, in denen ich interniert war. Ich konnte ihnen auf diese Weise etwas Mut machen». Doch das Herzstück der CD heisst einfach nur Nr.12. Es ist ein 1945 von Mosche Schulstein in Paris verfasstes Gedicht, das Lin auf bewegende und berührende Art vorträgt: «A Barg Chich», ein Berg jüdischer Schuhe, wie er ihn in Majdanek gesehen hat. «Schuhe, aufgehäuft zu einem Berg, höher als der Mont Blanc, heiliger als der Berg Sinai. Kleine und grosse Schuhe, von Rabbinern, Ehefrauen, Ehemännern und kleinen Kindern aus allen Regionen Europas. Schuhe, mit denen die Menschen in Parks spazieren waren, an Hochzeiten getanzt haben und auf Beerdigungen gingen ? bis zu dem Tag, an dem sie sie zu ihrer eigenen Beerdigung trugen! Schuhe, die verschont wurden, weil sie aus Leder und Stoff waren und nicht aus Fleisch und Blut. Diese Schuhe werden bis in alle Ewigkeit gehen, als Warnung für kommende Generationen». Diese Platte anzuhören wird zu einem wunderbaren Moment, auch für jene, die kein Jiddisch verstehen, denn dieser Ausdruck des Leids, des Widerstands und der Lebensfreude, die sich miteinander vermählen, machen den Zuhörer nachdenklich. Hören wir zum Schluss, wie Lin Jaldati ihr Leben zusammenfasst: «Ich habe die Hölle nicht wegen eines einzigen Wunders überlebt, sondern wegen einer ganzen Reihe von Wundern, und ich habe mein Dasein dem Überleben der gefährdeten jiddischen Kultur geweiht, insbesondere dem jiddischen Lied, das ich wahnsinnig liebe». Lin hat es geschafft, denn heute gehören die jiddischen Lieder und die Literatur fest zum kulturellen jüdischen und internationalen Erbe. Die CD kann über das Internet direkt bei Quantaphon AG www.swisspan.ch bestellt werden. |