Höchstes Niveau und Auszeichnung
Von Roland S. Süssmann
Als am 10. Dezember 2004 Professor AVRAM HERSHKO in Stockholm das Wort ergriff, um im Namen der drei Preisträger - zwei Israelis, er und Professor Aaron Ciechanover, sowie der amerikanische Jude Irwin Rose - eine Dankesrede für die Überreichung des Nobelpreises für Chemie 2004 zu halten, schlugen einen kurzen Moment lang die Herzen aller israelischen Bürger und sämtlicher Juden auf der ganzen Welt etwas höher. Es war in der Tat ein aussergewöhnliches Ereignis, denn zum ersten Mal überhaupt erhielten zwei Israeli den Nobelpreis für eine wissenschaftliche Entdeckung. An diesem Tag erfüllte uns wieder dieses Gefühl des Stolzes, das jedes Mal entsteht, wenn der jüdische Staat den Rest der Welt verblüfft. In der Regel handelt es sich dabei eher um hervorragende Leistungen auf militärischem Gebiet, wie beispielsweise die Bombardierung des Atomreaktors von Saddam Hussein oder die Geiselbefreiung in Entebbe.
Die Geschichte des Nobelpreises und diejenige des jüdischen Volkes sind eng miteinander verknüpft, denn im Verlauf der ersten hundert Jahre seit der Einführung dieser Auszeichnung - d.h. seit der allerersten Überreichung dieses prestigeträchtigen Preises im Jahr 1902 durch Albert Nobel an Wilhelm Röntgen für die Entdeckung der nach ihm benannten Strahlen und bis zur Preisverleihung 2002 - waren fast 20% der Preisträger Juden: Auf der Liste der insgesamt knapp 700 Empfänger stehen 127 jüdische Namen. Dies ist umso aussergewöhnlicher, als die Juden nur einen Vierundzwanzigstel von einem Prozent der Weltbevölkerung ausmachen und diese Leistung in einem Jahrhundert stattfand, in dem es zu zahlreichen Verfolgungen und zur Schoah kam. Die muslimische Welt hat bisher wohlgemerkt nur sechs Nobelpreisträger gestellt.
Die Liste der jüdischen Laureaten ist nicht nur lang, sondern auch sehr eindrücklich: 37 Preise für Physik, 24 für Chemie, 39 für Physiologie und Medizin, 10 für Literatur, 13 für Wirtschaft und 7 Friedensnobelpreise. Man kann allerdings nicht vom Nobelpreis reden, ohne die Schande zu erwähnen, die dieser Institution bis in alle Ewigkeit anhaften wird, weil sie den Friedensnobelpreis einst auch dem Terroristen Jasser Arafat überreichte und ihn auf diese Weise ermutigte, weiterhin Juden zu ermorden und in Israel Blut zu vergiessen.
Die unverhältnismässig hohe Zahl von Juden unter den Preisträgern lässt sich tatsächlich kaum erklären, kann aber vielleicht darauf zurückgeführt werden, dass sich das jüdische Volk, angetrieben durch den Kampf um das Überleben, durch ein unaufhörliches Streben nach höchster Leistung auszeichnet.
Die beiden israelischen Gewinner des Nobelpreises für Chemie 2004 arbeiten am Technion von Haifa, genauer gesagt im «Rappaport Family Institute for Research in the Medical Sciences», einer unabhängigen Institution, die dem Technion angeschlossen ist und sich auf die Forschung im Bereich der Biomedizin spezialisiert hat. Der dritte Preisträger, Professor Irwin Rose, 1927 in New York geboren, erwarb sein Diplom als Mediziner 1952 in Chicago und ist heute im Departement für Physiologie und Biophysik der University of California in Irvine tätig.
Doch wer genau steckt hinter den beiden israelischen Wissenschaftlern?
Professor Avram Hershko wurde 1937 in Karcag in Ungarn geboren und schloss 1969 an der Hebräischen Universität von Jerusalem in Medizin ab. Anschliessend befasste er sich mit Forschungsarbeiten in der Biochemie. Professor Aaron Ciechanover kam 1947 in Haifa zur Welt, erwarb seinen medizinischen Abschluss 1982 am Technion in Haifa und beschloss ebenfalls, sich ganz der Forschung im Bereich Biochemie zuzuwenden. Es gibt zahlreiche Gründe, die dazu führten, dass ausgerechnet diese drei Forscher den Nobelpreis erhielten, und ihre sehr weit reichenden wissenschaftlichen Arbeiten können in diesem kurzen Artikel nur oberflächlich angedeutet werden. Die Quintessenz ihrer Tätigkeit zusammenfassend kann man sagen, dass sie entdeckt haben, wie die Aufspaltung der Proteine innerhalb einer lebenden Zelle abläuft. Dieser Vorgang erfolgt mit Hilfe eines kleinen Proteins namens Ubiquitin - aus dem Lateinischen ubique, was überall bedeutet -, die im ganzen Körper vorhanden ist. Bei der Preisverleihung erklärte Professor Lars Thelander insbesondere: «Dank Ihrer Entdeckung des Systems der kontrollierten Aufspaltung der Proteine in einer lebenden Zelle können wir heute verstehen, wie die Zelle auf molekularer Ebene eine Reihe von biochemischen Prozessen kontrolliert. Sie haben die Denkweise in Bezug auf die Proteindissoziation radikal verändert.» Es gibt zahlreiche Beispiele für die verschiedenen, durch das Ubiquitin beeinflussten Prozesse. Findet diese Aufspaltung nicht korrekt statt, wird der betroffene Mensch krank und kann unter anderem Gebärmutterkrebs bekommen oder Fibrome aufweisen, um nur zwei kleine Beispiele von vielen anzuführen. Die Entdeckung der drei Nobelpreisträger für Chemie 2004 wird zur Entwicklung zahlreicher Medikamente beitragen.
Wir sind also nach Haifa gereist, wo wir sehr herzlich von Professor Avram Hershko empfangen wurden. Das Gespräch fand in seinem winzigen Büro statt, das sich in seinem Labor im sechsten Stock des Rappaport Medical Sciences Building befindet.

Glauben Sie, dass die Verleihung des Nobelpreises an zwei israelische Wissenschaftler im gegenwärtigen Kontext, in dem Israel öfter verschrien als gelobt wird, etwas ganz Besonderes bedeutet?

Ich möchte dazu den Sprecher der Abendnachrichten zitieren, der gleich nach der Ankündigung unserer Auszeichnung meldete: «Für einmal steht in der Zeitung auch etwas sehr Positives». Ich bin überzeugt, es war nicht nur für uns und für die israelische Öffentlichkeit eine gute Nachricht, sondern auch für die jüdische Welt im Allgemeinen. Meines Erachtens gibt es in Israel sehr viele ausgezeichnete Wissenschaftler, und ich hoffe, dass wir nur den Anfang einer langen Serie gemacht haben. Wenn ich darüber hinaus sehe, wie man uns in Schweden zu einem Zeitpunkt empfangen hat, da in Europa nicht unbedingt eine Welle der Sympathie uns gegenüber zu beobachten ist, denke ich, dass dieser Preis dazu beigetragen hat, uns besser bekannt zu machen. Ich weiss nicht, ob dies politische Auswirkungen haben wird, doch es ist ein kleiner Schritt hin zu einer Veränderung von unserem Image. Das hoffe ich zumindest.

Die Verleihung des Nobelpreises an zwei israelische Wissenschaftler geht über die Bedeutung der Auszeichnung an sich hinaus. Sie krönt ebenfalls das hervorragende Niveau der wissenschaftlichen Ausbildung in Israel. Parallel dazu geht man davon aus, dass der jüdische Staat in zahlreichen wissenschaftlichen Forschungsgebieten eine Spitzenposition einnimmt. Wie sehen Sie die Zukunft der Hochschulausbildung in Israel?

Die Zukunft der höheren Ausbildung in Israel macht mir grosse Sorgen. Wie Sie sich bestimmt denken können, wurden wir nach der Ankündigung unserer Ehrung mit dem Nobelpreis nacheinander vom Premierminister, dem Erziehungsminister und dem Staatspräsidenten empfangen. Mit jedem von ihnen sprach ich über meine Besorgnis, die in erster Linie auf den bedeutenden Budgetkürzungen beruht, die in Bezug auf die Akademien und Forschungsinstitute kürzlich beschlossen wurden. Im Verlauf der vergangenen zwei Jahre wurden die Budgets um 30% gekürzt, und noch viel schlimmer ist es, dass jeder zweite Professor, der in Rente geht, nicht ersetzt wird. Dazu muss man wissen, dass ein Medizinstudent pro Jahr rund US$.25 - 30'000.- kostet. Die Studierenden tragen etwa 10% dieser Kosten selbst, der Rest stammt aus den Subventionen des Staates und aus Spenden. Es gibt in den USA und in Europa die «Freunde des Technions» (auch in der Schweiz). Die Pharmaindustrie unterstützt die Universitäten nicht. Immerhin haben die meisten israelischen Ingenieure am Technion studiert, und die erfolgreichen Absolventen lassen uns auch ihre finanzielle Unterstützung zukommen. Solange das Studium subventioniert werden muss, ist es meiner Ansicht nach die Pflicht der Regierung, die notwendigen Mittel zur Verfügung zu stellen. Ich möchte an dieser Stelle daran erinnern, dass Ben Gurion die Bedeutung der Hochschulbildung für die Zukunft Israels und seinen Platz in der Welt der Wissenschaft und der Technologie begriffen hatte, obwohl die wirtschaftliche Situation damals bestimmt nicht rosiger war als heute.

Glauben Sie, dass wir mit der Zeit eine Abwanderung der klügsten Köpfe erleben werden?

Das Problem des Braindrains hat schon immer existiert. Wir können mit einer einzigen Waffe dagegen ankämpfen, mit dem Zionismus. Sobald unsere Studierenden ihre Dissertation verfasst haben, absolvieren sie ein Postdoc im Ausland. Wenn wir ihnen keine Stellen anbieten können, die ihren Fähigkeiten entsprechen und mit einem Gehalt einhergehen, mit dem sie ein angenehmes Leben führen können, kommen sie nicht zurück. Daher bin ich überzeugt, dass unsere wissenschaftliche Zukunft stark gefährdet ist. Nehmen wir beispielsweise meinen Sohn, der Chirurg ist. Nach zwei Jahren im Ausland ist er nach Israel zurückgekehrt, obwohl sein Lohn hier deutlich niedriger ausfällt und er nicht über die technischen Arbeitsmittel verfügt, die man ihm im Ausland bot. In Israel besitzen wir eine Basis-Infrastruktur, die uns unsere Arbeit ermöglicht, auch wenn sie nicht so modern ist wie diejenigen, die mir in den USA begegnet sind. Wir können mit Forschungszentren überall auf der Welt zusammenarbeiten, doch dazu brauchen wir unbedingt sehr fähige Leute.

Sie erwähnen Ihre Besorgnis in Bezug auf die Zukunft, vor allem wegen den gegenwärtigen materiellen Problemen. Glauben Sie aber auch über diese Frage hinaus, dass das Niveau der wissenschaftlichen Studien, die Motivation und die Zahl der jungen Leute, die sich für diese Art von Studium entscheiden, heute in Israel zufrieden stellend sind?

Von diesem Standpunkt aus sieht die Lage recht viel versprechend aus. Man muss sich aber klar machen, dass die drastischen Kürzungen von heute sich erst in der Zukunft, in zehn oder zwanzig Jahren werden bemerkbar machen, falls dies nicht schon in fünf Jahren passiert. Ich persönlich bin noch geprägt von der Ausbildung, die man vor 35 Jahren erhielt. Mein Kollege, Professor Aaron Ciechanover, der zusammen mit mir den Nobelpreis erhalten hat, studierte vor 25 Jahren, er war mein Student und führte seine Forschungsarbeiten unter meiner Anleitung durch, auch wenn er heute ganz unabhängig ist. Meine Besorgnis wird durch einen Trend ausgelöst, den ich in den vergangenen vier Jahren nach den bedeutenden Budgetkürzungen beobachtet habe.

Was kann man tun, um diese negative Entwicklung ins Gegenteil zu kehren?

Es gibt zwei Dinge: eine Kehrtwende in der Politik unserer Regierung, wobei das Weltjudentum auf dieser Ebene nicht viel unternehmen kann, sowie die Erhöhung der Spendenbeträge - und hier können die Juden aus aller Welt uns tatkräftig unterstützen. Sehen Sie, ich habe mein Leben in meinem Labor verbracht, wo ich täglich neue Versuche durchführe. Heute fühle ich mich jedoch verpflichtet, einen Teil meiner Zeit darauf zu verwenden, das durch den Nobelpreis erlangte Prestige zu nutzen, um mit den Freunden des Technions in den USA zu sprechen, damit sie ihre Beiträge an uns erhöhen. Letztere dienen in erster Linie als Stipendien für diplomierte Studierende: US$ 20'000, -- pro Student, es sind insgesamt 4'000! Dazu muss man wissen, dass die Studierenden in Israel älter sind als anderswo, da sie alle zuerst drei Jahre Militärdienst leisten müssen und viele von ihnen Offiziere werden. Sie machen ihr Lizenziat in einem Alter, in dem sie bereits verheiratet sind und Kinder haben. Es geht folglich darum, ihnen eine Art Gehalt zu zahlen, damit sie ein üblicherweise vierjähriges Forschungsprogramm in Angriff nehmen und gleichzeitig ein normales Leben führen können. Ich betone die Tatsache, dass es nicht um die Finanzierung der Forschung als solcher geht, für die uns auch andere Finanzierungsquellen zur Verfügung stehen. Heute besteht unsere Hauptsorge darin, die Zukunft vorzubereiten, indem wir junge Leute finanzieren, die morgen an den Universitäten leitende Funktionen wahrnehmen werden, sowohl im technischen Bereich als auch in der Lehre. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Budgetkürzungen bei unseren besten Leuten viele Fragen aufwerfen. Sie möchten wissen, ob sie als Wissenschaftler in Israel wirklich eine Zukunft haben. Die politische und sicherheitstechnische Lage ist bereits kompliziert genug, als dass unsere Studierenden sich auch noch mit solchen Fragen herumschlagen sollten. Daher bin ich absolut jedem dankbar, der uns finanziell unterstützen würde.

Nehmen wir an, Sie machen eine Entdeckung. Was passiert im Hinblick auf die Kommerzialisierung? Kann das Technion davon profitieren?

Das ist von Fall zu Fall verschieden. Was mich betrifft, so wurde in den USA ein Medikament entwickelt, das ausschliesslich auf den Ergebnissen meiner Forschungsarbeiten beruhte. Mir blieb letztendlich? nur der Ruhm. Meine Entdeckung bezüglich der Vorgänge in der Zelle kann im Gegensatz zu einem Medikament nicht unter Patentschutz gestellt werden.

Wir beobachten in Europa gegenwärtig das Aufkommen einer neuen Form von Antisemitismus, die darin besteht, dass man den enormen Beitrag der Juden im Bereich der Wissenschaft und der Kultur aus dem kollektiven Gedächtnis tilgen möchte. Glauben Sie, dass die Tatsache, dass zwei Israeli den Nobelpreis im wissenschaftlichen Bereich gewonnen haben, dieser Entwicklung entgegenwirken kann?

Ich hoffe es aus ganzem Herzen. Meine Frau stammt aus der Schweiz und mich beunruhigt diese Entwicklung des Antisemitismus in Europa natürlich sehr. Ich muss auch sagen, dass der Nobelpreis eine Berühmtheit verleiht, wie sie mit keiner anderen - oft bedeutenderen - Auszeichnung, die ich erhalten habe, verbunden ist. Ich möchte diese Bekanntheit zugunsten unserer Sache einsetzen, die das Bindeglied zum weltweiten Judentum darstellt.

Abschliessend möchten wir der Hoffnung Ausdruck geben, dass die Zahl der jüdischen Nobelpreisträger die Welt daran erinnern möge, welchen Beitrag wir zugunsten des Fortschritts und des allgemeinen Wohlbefindens geleistet haben und immer noch leisten. Eine alte Anekdote soll der Veranschaulichung dienen. Als ein französischer Intellektueller, bekannt für seine judenfeindliche Einstellung, einmal mehr einen Rabbiner angriff, gab ihm dieser schlicht zur Antwort: «Vergessen Sie nicht, dass zu der Zeit, als Ihre Vorfahren noch auf Bäume kletterten und sich mit Pfeil und Bogen bekämpften, meine bereits den Talmud verfassten!».