Flucht aus Ägypten? | |
Von Roland S. Süssmann | |
Jeder moderne Jude, der mit seiner Zeit geht, steht alle Jahre wieder beim Herannahen der Feiertage vor derselben Frage: «Welche Bedeutung und welche Botschaft vermitteln diese Feierlichkeiten in unserer Epoche und in unserem aktuellen historischen Umfeld?». Seit einigen Jahren ist ein erneutes Aufkommen des Antisemitismus in allen möglichen Ausprägungen zu beobachten. Die jüdische Welt ist zu Recht besorgt, und vor diesem Hintergrund haben wie den ehemaligen Oberrabbiner Israels, ISRAEL MEÏR LAU, gebeten, uns zu diesem Thema einige Denkanstösse zu geben. Im vergangenen Dezember haben Sie öffentlich erklärt - und diese Aussage wurde von der gesamten internationalen Presse aufgenommen -, dass wir demnächst in Europa das Ende des jüdischen Lebens beobachten würden. Glauben Sie, dass für die europäischen Juden die Zeit gekommen ist, «aus Ägypten zu ziehen»? Es war keine unüberlegte Erklärung. Ich analysiere die Situation des weltweiten Judentums täglich sehr genau. Was das europäische Judentum angeht, konnte ich mich vor Ort über die Lage informieren. In den drei Monaten nach Rosch Haschanah 2004 war ich in London, Antwerpen, Wien, Hamburg, Danzig, Kopenhagen, Stockholm und schliesslich in Kiew, um dort die gesamte jüdische Führung und die Rabbiner der Ukraine zu treffen. Nachdem ich kreuz und quer durch Europa gereist war, kam ich zum Schluss, dass die sowohl vielschichtige als auch blutige Geschichte der Juden in Europa sich nun eigentlich bald dem Ende zuneigt. Dafür gibt es mehrere wesentliche Gründe: den Antisemitismus, die Assimilierung und die Auswanderung nach Israel, was natürlich eine positive Alternative darstellt. Seit dem 27. Januar dieses Jahres haben zahlreiche Anlässe stattgefunden, an denen man des 60 Jahre zurückliegenden Endes des Zweiten Weltkriegs gedachte. Den Anfang machte Auschwitz mit einer Feier zum Andenken an die Befreiung des Vernichtungslagers, an der mehrere Staatschefs teilnahmen; zu diesem Anlass rezitierte ich zur Erinnerung an die Opfer und im Namen der Überlebenden den Kadisch. In meinen Augen hat die Welt trotz ihrer Begeisterung für Gedenkfeiern in Wirklichkeit nicht viel aus dem gelernt, was sich vor 60 oder 65 Jahren zugetragen hat. Wenn man die Wandschmierereien sieht, wenn man die Zeitungen liest, wenn man die Berichte von Juden vernimmt und wir an einem Punkt angelangt sind, wo der Oberrabbiner von Frankreich, mein Freund Joseph Sitruk, in einem rabbinischen Dekret verboten hat, mit der Kippah auf dem Kopf auf der Strasse spazieren zu gehen, weil dies zu gefährlich sei, beweist dies nur, dass man aus der Vergangenheit bewusst nichts lernen will. Dazu kommen einige objektive Tatsachen sowie ausdruckstarke Zahlen. Nehmen wir beispielsweise Schweden, wo gegenwärtig rund 17'000 Juden und 700'000 Muslime leben. Der Unterschied zwischen diesen beiden Gemeinschaften ist ganz simpel: die Muslime leben ihren Glauben sehr aktiv, sie kleiden sich auf ihre Weise und schicken ihre Kinder in Madrasas, wo diese in erster Linie den Koran lernen; die Juden hingegen praktizieren ihren Glauben nicht, sie lassen sich immer häufiger auf gemischte Ehen ein und schicken ihre Kinder auf staatliche Schulen. Gibt es angesichts dieser Tatsachen wirklich eine Zukunft für die Gemeinschaft? Die Lage präsentiert sich in Grossbritannien und in vielen anderen europäischen Ländern ganz ähnlich. Frankreich zeichnet sich als besonders trauriger Fall aus. Diese Gemeinde besteht heute aus ca. 20% Juden mit europäischen Wurzeln und 80% Juden nordafrikanischer Herkunft. Man muss sich vor Augen führen, dass noch vor kaum 50 Jahren ein Jude, und sei er noch so assimiliert oder weltlich, in Casablanca niemals an einem Schabbat mit einer brennenden Zigarette im Mund auf die Strasse gegangen wäre. Der Gedanke, ein Jude könne den Schabbat in Marrakesch oder Djerba öffentlich entweihen, war schlicht unmöglich. Heute wird in der jüdischen Gemeinschaft Frankreichs, in der sich die Juden europäischer Herkunft eindeutig öfter assimilieren, der Anteil an gemischten Ehen mit 75% beziffert! Der dramatische Abstieg von der Zigarette auf offener Strasse zu solchen Verbindungen braucht hier nicht hervorgehoben zu werden, doch es bedeutet konkret, dass drei Viertel der jüdischen Kinder ihren Familien den Rücken zukehren und sich der Assimilierung zuwenden. Diese Entwicklung erfolgte im Rahmen einer jüdischen Gesellschaft, die im Grunde als warmherzig, traditionell ausgerichtet und fest im Judentum verwurzelt galt. Was können wir also von der jüdischen Gemeinschaft in Russland oder Osteuropa erwarten, die das bolschewistische, kommunistische und atheistische Joch 72 Jahre lang ertragen hat? Von einer in absolutem Atheismus erzogenen Gemeinde, die nicht nur Hitler, sondern auch Stalin überlebt hat? Kann man wirklich auf sie zählen, wenn es darum geht, das Überleben, den Fortbestand der jüdischen Traditionen und Gemeinden zu sichern? Letztendlich herrscht im Herzen Europas, und ich denke da insbesondere an Österreich, die Schweiz und Deutschland, ein extrem starker Antisemitismus. Was bleibt denn übrig, Spanien und Italien? Im erstgenannten Land wird aktiver Antisemitismus betrieben, im zweiten liegt die Zahl der gemischten Ehen auch sehr hoch. Angesichts dieser Situation, wo uns einerseits die Assimilierung aufreibt, uns andererseits der Antisemitismus auflauert, brauche ich den europäischen Juden nicht zu sagen, dass sie wegziehen sollen. Unsere Geschichte wiederholt sich gewissermassen. Im Moment der Flucht aus Ägypten schloss sich nur ein Fünftel des Volkes Moses an, die übrigen verloren sich in der Assimilierung. Daher bin ich überzeugt, dass ein grosser Teil unserer europäischen Glaubensbrüder in ihren Ländern bleiben werden. Vor 3'500 Jahren, als wir seit erst vier Generationen in Ägypten lebten, empfanden sich nur 20% unseres Volkes als vollwertige Juden und sind daher Moses gefolgt. Die restlichen 80% entschlossen sich, in Ägypten zu bleiben, trotz der Zwangsarbeit, zu der sie verpflichtet waren, um die Städte von Pitom und Ramses (Exodus I,11-13) zu errichten; ungeachtet der Auswahlverfahren, die an diejenigen des unheimlichen Dr. Mengele erinnern, denen sie unterworfen waren oder denen sie der Pharao auf persönlichen Befehl unterzog, musste jeder jüdische Knabe nach seiner Geburt ertränkt werden, während die Mädchen leben durften (Exodus I, 22); trotz einer Art Wannseekonferenz, in deren Verlauf die Ägypter die Vernichtung der Juden im Rahmen einer «Endlösung» beschlossen (Exodus 1, 10) usw. Kurz nach der Flucht aus Ägypten, brachte ein Teil der 20%, die ausgezogen waren, den Wunsch vor, nach Ägypten zurückzukehren, wobei er sich auf die Qualität der Nahrungsmittel im Land des Pharaos berief, die Gefangenschaft jedoch völlig ausser Acht liess. In gewisser Weise waren in Ägypten ein guter Teil der Ingredienzien vorhanden, die wir auch in der gegenwärtigen Situation vorfinden: eine rasend schnelle Assimilierung und den Antisemitismus des Pharaos. In diesem Zusammenhang möchte ich auch betonen, dass die Kapos in den Vernichtungslagern, oft Juden, nicht von den Nazis erfunden wurden, sondern von Pharao, der zwei jüdische Hebammen, Schifra und Puah, ausgewählt hatte, um die jüdischen Knaben gleich nach ihrer Geburt zu ermorden. Man braucht heute nur die Augen zu öffnen und sich an unserer Geschichte zu orientieren, um die Ereignisse zu begreifen und zu wissen, wie man handeln soll. Wie können die Menschen wissen, wann der geeignete Zeitpunkt gekommen ist? Es gibt keinen Moment, der passender wäre als ein anderer, und ich glaube, dass es reicht, wenn jeder seine eigene Stunde erkennen kann. Ich gebe Ihnen das Beispiel eines berühmten europäischen Rabbiners, der vor einigen Jahren verstorben ist: es ist der Oberrabbiner von Rumänien, Mosche David Rosen. Im Allgemeinen haben Rabbiner nur ein Ziel, sie möchten möglichst viele Menschen in ihre Gemeinde aufnehmen. Er hingegen unternahm alles, damit sich seine Gemeinde auf ein Minimum reduzierte, er setzte alle ihm zur Verfügung stehende Hebel in Bewegung, damit sich Hunderttausende von rumänischen Juden in Israel niederlassen konnten. Er nutzte alle seine Kontakte im Umfeld von Ceausescu, damit möglichst viele seiner Schäfchen den Eisernen Vorhang passieren durften, obwohl zwischen Rumänien und Israel keine diplomatischen Beziehungen existieren. Ein weiterer Aspekt seiner grossen Verdienste besteht aus der Tatsache, dass er die Mehrheit seiner Gemeinde davon überzeugen konnte, sich in Israel niederzulassen, obwohl die Situation in Bezug auf Sicherheit problematisch war. Darüber hinaus ist es ihm gelungen, 5'000 Sifre Torah nach Israel zu schicken, sie dort sorgfältig restaurieren und nun im ganzen Land, in der Armee, in Kibbuzim, in den Dörfern der neuen Einwanderer usw. benutzen zu lassen. Mit diesem Beispiel möchte ich nur Folgendes zeigen: Wenn es sogar einem einzelnen Mann in einem kommunistischen Regime stalinistischer Ausprägung gelungen ist, sein Ziel zu erreichen, können die frei in Europa lebenden Juden zweifellos alle notwendigen Schritte unternehmen, bevor es dafür zu spät ist. Sind Sie nicht der Ansicht, dass aufgrund der von Ihnen beschriebenen Situation die Rabbiner und die jüdischen Verantwortlichen heute ganz besonders verantwortlich dafür sind, die Juden aus ihren Gemeinschaften zu retten? Es ist mir unmöglich, jedem einzelnen Rabbiner zu sagen, welche Massnahmen er ergreifen soll. Es drängen sich jedoch zwei wesentliche Überlegungen auf: erstens die Intensivierung der jüdischen Erziehung und des Gemeindelebens, denn sonst wird es morgen keine jüdischen Gesprächspartner mehr geben, mit denen man über das jüdische Dasein oder eine allfällige Emigration nach Israel reden kann. In allen Gemeinden gibt es Assimilierungen, Juden aus Osteuropa, Israelis, die aus irgendeinem Grund das Land verlassen haben, Nachkommen der Überlebenden der Schoah usw. Es obliegt der Verantwortung der Rabbiner, alle diese Menschen zusammenzuführen und ihnen ein jüdisches Leben und Gemeindeaktivitäten anzubieten, die ihr Interesse wecken. Erst wenn dieses erste Stadium erreicht und konsolidiert wurde, können die Rabbiner die nächste Etappe in Angriff nehmen und ihren Gemeindemitgliedern sagen: «Was macht ihr eigentlich noch hier - kehrt nach Hause zurück». Ein Mensch, der sich vom jüdischen Leben nicht angesprochen fühlt, verliert unweigerlich das Interesse an Israel, da er keine Gemeinsamkeiten mit dem Land sieht. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich fordere keine massive und sofortige Ausreise der europäischen Juden nach Israel, unter keinen Umständen, denn das würde die Schliessung von Synagogen und Gemeinden nach sich ziehen. Wie sollte sich Ihrer Meinung nach der Prozess der «Heimkehr» abspielen ? Wie ich bereits sagte, muss unbedingt alles unternommen werden, damit ein attraktives und innovatives jüdisches Leben in Alltag und Gemeinde stattfindet. Bei jeder Sederfeier und nach jedem Kippur-Fest sagen wir den berühmten Satz: «Nächstes Jahr in Jerusalem». Diese Devise sollte täglich in sämtlichen jüdischen Gemeinden in aller Welt wiederholt werden. Dann müsste mit der Zeit jede jüdische Familie eines ihrer Kinder zum Studium nach Israel schicken. Ich bestehe auf diesem Punkt, denn sowohl die Universitäten als auch die Jeschiwoth in Israel bieten ein Niveau an, das demjenigen in anderen Instituten weltweit ebenbürtig oder gar überlegen ist. Wenn es sich die Eltern nicht leisten können, ihre Sprösslinge hierher kommen zu lassen, ist es Sache der Gemeinden, diesen jungen Leuten die Möglichkeit zum Studium in Israel zu geben. Auf diese Weise wird eine Entwicklung in Gang gebracht. So wie die Abkehr eines einzigen Kindes hin zur Assimilierung die ganze Familie mitziehen kann, wäre es möglich, dass die Abreise eines Sohnes oder einer Tochter nach Israel, wo sie vielleicht dem späteren Lebenspartner begegnen, später die ganze Familie, Freunde und - warum nicht - allmählich einen grossen Teil der Gemeinde nachkommen lässt. Wenn ich das Ende der jüdischen Gemeinden und des jüdischen Lebens in Europa heraufbeschwöre, denke ich natürlich nicht an einen schnellen und brutalen Bruch, sondern an einen beginnenden und letztlich unaufhaltsamen Prozess. Wir können ihn auf zwei Arten beeinflussen: einerseits positiv durch die Intensivierung der jüdischen Erziehung, die Förderung der Eheschliessungen zwischen Juden und die Emigration nach Israel; andererseits negativ dadurch, dass man abwartet und Assimilierung sowie Antisemitismus ihr unheilvolles Werk vollenden lässt. Die Assimilierung gilt übrigens nicht nur in Europa als schwer zu lösendes Problem, sondern auch in den Vereinigten Staaten und in Südamerika. Woraus schöpfen Sie denn nun Hoffnung? Ich hoffe auf die Förderung der jüdischen Erziehung und besitze dafür auch Beweise. Es gibt heute ausserhalb von Israel nur wenige Städte weltweit, in denen Assimilierung und gemischte Ehen selten sind. Es sind die Städte, wo eine intensive jüdische Erziehung angeboten wird und wo die meisten Kinder (90%) jüdische Schulen besuchen: Manchester, Antwerpen, Monterrey (Mexiko), Panama City, die sephardische Gemeinde von Sao Paulo, Johannesburg, Sydney und Melbourne. Die letztgenannten Städte, auf der anderen Seite der Erdkugel, weisen weder die Zahl der Glaubensbrüder noch die Infrastruktur grosser jüdischer Gemeinden wie z.B. Paris, London oder New York auf. Aber sie haben bewiesen, dass dort, wo es eine jüdisches Führung wie beispielsweise Rabbi Tsion Levy in Panama, den Rabbiner von Monterrey oder Rabbi Itzchak Gronner in Melbourne gibt, und dort, wo die jüdische Erziehung angemessen betont wird, die Zahl der gemischten Ehen drastisch zurückgeht. Ich behaupte nicht, dass diese ganz vermieden werden können, da wir leider einer kürzlich erstellten Statistik entnehmen mussten, dass sogar in den chassidischen Kreisen von New York heute 3% gemischte Ehen geschlossen werden. Sie sehen, Hoffnung und Zukunftsperspektiven ruhen auf zwei tragenden Stützpfeilern, zwischen denen ein enger Zusammenhang besteht: Verstärkung der jüdischen Erziehung und Israel. 3500 Jahre nach unserer Flucht aus Ägypten wiederholen sich die Ereignisse der Geschichte; es ist an uns sie zu verstehen und entsprechend zu handeln. So lautet die Botschaft von Pessach 5765, die jeden einzelnen von uns aufrüttelt. |