Sex - Moral – Recht | ||
|
||
Von Roland S. Süssmann | ||
Viele Menschen sehen das Judentum als altmodische Religion mit mittelalterlichen Riten und der Forderung nach einer langweiligen und sehr strengen Lebensweise. Die Einhaltung des Schabbat und das koschere Essen gelten zu Unrecht als «überholte» Regeln, die jenen, die sich daran halten, verbieten «von den angenehmen Dingen des Lebens zu profitieren». Die Überschreitung der Reinheitsgebote bei den Nahrungsmitteln und der Verzehr von Schweinefleisch, Froschschenkeln oder Meeresfrüchten gilt als «modern und angepasst». Da braucht man die Sexualität gar nicht erst anzusprechen: Die Meinung der Unwissenden steht von vornherein fest, denn in diesem Bereich wie auch in allen anderen, die unsere Lebensweise betreffen, wartet das Judentum natürlich nur mit einer Liste von Verboten auf. Doch genau das Gegenteil ist der Fall! Das Judentum ist hochmodern und bietet eine ganze Auswahl von überraschenden Antworten, in denen Moral, Hygiene, religiöse Ethik und jüdische Gesetzgebung (Halachah) kombiniert werden. Es geht natürlich nicht darum, der Freizügigkeit oder sexuellen Abarten Vorschub zu leisten, sondern um die Lösung der Probleme von Menschen, die mit Unfruchtbarkeit oder sexuellen Störungen physischer oder psychologischer Art konfrontiert sind. In der Bibel und im Talmud werden diese Fragen offen und direkt angesprochen. In der Abhandlung von Chagigah (2a), in der die Personen aufgeführt werden, die den Tempel aufsuchen sollen, ist auch die Liste der Menschen zu finden, die davon ausgeschlossen sind: Taube, Schwachsinnige, Minderjährige, Menschen mit unbestimmbarem Geschlecht, Hermaphroditen usw. Um uns zu erklären, welchen Stellenwert all diese Fragen im Judentum einnehmen und welche Antworten die Religion unserer angeblich so weit entwickelten Gesellschaft gibt, haben wir mit Dr. MORDECHAI HALPERIN gesprochen, einem Spezialisten für männliche und weibliche Infertilität und für sexuelle Dysfunktionen bei Mann und Frau. Dr. Halperin wurde 1966 in der berühmten Jeschiwah von Ponievitz zum Rabbiner geweiht (nach siebenjährigem Studium), erhielt 1974 ein Lizenziat in Mathematik und Physik an der Hebräischen Universität von Jerusalem und ausserdem das Arztdiplom derselben Hochschule und der Ärzteschule des Krankenhauses Hadassah. Heute leitet Dr. Halperin den Ausschuss für medizinische Ethik des israelischen Gesundheitsministeriums und ist Mitglied des Ausschusses für Bioethik der israelischen Akademie der Natur- und Geisteswissenschaften. Neben seiner Tätigkeit als Arzt steht Dr. Halperin an der Spitze des «Dr. Falk Schlesinger Institute of Medical-Halachic Research» des Krankenhauses Shaare Tsedek von Jerusalem. Ihr sehr ausführliches Spezialwissen betrifft die intimsten und geheimsten Probleme Ihrer Patienten. Da wir an dieser Stelle keine Enzyklopädie zu diesem Thema zu veröffentlichen gedenken, müssen wir uns auf einige wenige Aspekte Ihrer Tätigkeit beschränken, deren wichtigster die Unfruchtbarkeit zu sein scheint. Welches sind die Hauptgründe für diese Störung? Es gibt vier Kategorien der Unfruchtbarkeit, von denen drei sowohl Frauen als auch Männer betreffen können, die vierte aber ausschliesslich bei Frauen auftritt. Die drei erstgenannten sind: Fehlen oder Dysfunktion der Fertilitätszellen (Spermien oder Eizellen); Dysfunktion, Fehlen oder Unterentwicklung verschiedener Organe, was anatomische oder physiologische Probleme hervorrufen kann; Dysfunktion der Geschlechtsorgane, wobei die häufigsten die Erektionsstörung und Anejakulation beim Mann und der Vaginismus (unwillkürliches Zusammenziehen der Muskeln am Scheideneingang, die den Geschlechtsverkehr verhindern) bei der Frau ist. Dazu muss man wissen, dass es sich dabei um schwerwiegende Probleme handeln kann, die zu nicht vollzogenen Ehen führen - in zahlreichen Fällen haben Ehepaare ein ganzes Leben unter Qualen zusammen verbracht, nur um den Schein nach aussen zu wahren. Man probierte erfolglos mehrere Arten von chirurgischen Eingriffen aus, bis vor 15 Jahren ein israelischer Arzt aus Tiberias, Dr. Uri Levi, eine einfache Stimulationstechnik für einen versteckten Reflex entdeckte, der durch eine medizinische Technik unterstützt werden muss. Dank dieser simplen Lösung kann ein uraltes und bisher unlösbares Problem aus der Welt geschafft werden. Die vierte, nur bei der Frau auftretende Ursache für Infertilität besteht aus der Absenz eines Uterus oder aus der Tatsache, dass dieser aus medizinischen Gründen nicht funktioniert. Wie werden diese Probleme der Unfruchtbarkeit von Ihren Patienten aus frommen oder aus nicht gläubigen Kreisen aufgenommen und angegangen? Meine Patienten stammen aus allen möglichen Bevölkerungsschichten, die sich nicht mit religiösen Anliegen an mich wenden, sondern weil sie unter einem physischen Problem leiden. Es stimmt, dass in den religiösen Kreisen ein Grossteil der Information über die Rabbiner verbreitet wird, für die wir daher Seminare veranstalten. Dies war übrigens schon zur Zeit der Talmudmeister der Fall. Wir erfahren dort nämlich, dass Rabbi Yochanan an einer Magen-Darm-Krankheit litt, die in Tiberias von einem römischen Arzt behandelt wurde. Dieser pflegte ihn nicht nur, sondern erklärte ihm auch die gesamte Technik der Behandlung, der er ihn unterzog. Am folgenden Schabbat gab Rabbi Yochanan sein neues Wissen an seine Schüler und an die Mitglieder seiner Gemeinde weiter. Dieses Beispiel zeigt uns, dass die jüdischen geistlichen Führer sich nicht nur für das geistige Wohl ihrer Schäfchen verantwortlich fühlten, sondern auch für ihre Gesundheit. Heute informieren zahlreiche Rabbiner ihr frommes Publikum über neue medizinische Techniken, und zwar viel früher, als diese Art von Wissen an die breite Öffentlichkeit gelangt. In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen, dass wir im vergangenen Mai ein Seminar von insgesamt 32 Lektionen für junge Rabbiner der ultraorthodoxen Gemeinde Israels organisiert haben; das Thema lautete: «Medizinische Informationen über Unfruchtbarkeit und schwerwiegende Probleme, die im Familienleben dadurch entstehen, mit dem Schwerpunkt der sexuellen Dysfunktionen». Innerhalb dieses Rahmens gaben herausragende Mediziner Unterricht über medizinische, physiologische und klinische Themen, sowie über die damit verbundenen Fragen der Halachah. Einer der berührten Aspekte betraf die Implikationen der Halachah, die daraus entstehen konnten, dass Eheprobleme nicht ausgesprochen und gelöst wurden. Nach dem Seminar waren diese Rabbiner in der Lage, medizinische, halachah-basierte Fragen aus erster Hand zu den Problemen zu beantworten, die innerhalb ihrer Gemeinde auftreten. Alles, was Sie mir bisher erklärt haben, gehört eigentlich in das Ressort der Allgemeinmedizin, wie sie überall auf der Welt praktiziert wird. Sie leiten nun aber ein Institut, dessen Besonderheit es ist, die Gesundheitsberufe mit dem Geist der Torah in Einklang zu bringen. Inwiefern kommen die Aspekte der Halachah bei Fragen zur sexuellen Dysfunktion und zur Unfruchtbarkeit ins Spiel? Zur Veranschaulichung meiner Ausführungen möchte ich ein konkretes Beispiel anführen, das sich uns stellte und das zahlreiche Fragen ethischer Art aufwarf. Vor einigen Jahren rief mich der Direktor einer israelischen Bank an und sagte, seine Tochter wolle einen jungen Mann heiraten, den sie liebe, der aber eine Reihe von medizinischen Problemen aufweise. Er wollte, dass ich ihn untersuchte um zu wissen, ob die Ehe fruchtbar sein würde. Sollte meine Antwort negativ ausfallen, würde der Vater von seiner Tochter verlangen, sie solle einen anderen heiraten. Ich empfing den jungen Mann, der auf den ersten Blick eine normale Konstitution aufwies. Als ich ihn näher untersuchte, merkte ich, dass er nur so «normal» aussah, weil er Hormone einnahm. Er hatte nämlich einen physischen Mangel: seine Hoden waren nicht entwickelt und besassen die Grösse der Hodensäcke bei einem achtjährigen Jungen. Dies bedeutete, dass seine Hoden kein einziges Spermium produzierten. Dieses medizinische Syndrom, Hypogonadismus genannt, ist wohl bekannt und soll hier nicht weiter erläutert werden. Ich konnte den jungen Mann behandeln und nach acht Monaten Ehe wurde seine junge Gattin schwanger. Diese Art von Situation wirft viele ethische und moralische Fragen auf: durfte man die Ehe empfehlen, obwohl keinesfalls feststand, ob die Behandlung erfolgreich verlaufen würde (auch wenn ich von einer Erfolgsquote von 90% ausging)? Darf man diese Art von Behandlung mit öffentlichen Geldern der nationalen Krankenversicherung finanzieren? Konnte man sicher sein, dass diese Krankheit auch bei erfolgreicher Behandlung nicht genetisch und somit übertragbar ist? Auf solche Fragen ethischer Natur müssen wir nach bestem Wissen und Gewissen und aufgrund der Vorschriften der Halachah antworten. Das Problem der genetischen Übertragbarkeit, das typisch ist für unsere Epoche, veranschaulicht sehr gut die Tatsache, dass wir im Judentum Antworten auf hoch aktuelle Fragen finden. Bei diesen Überlegungen kann man sich fragen, ob es gestattet ist, Viagra zu verwenden? Eine der wesentlichen Pflichten des Ehemannes ist es, seiner Partnerin Lust und Befriedigung zu verschaffen. Der Talmud (Abhandlung über den Schabbat S. 152) erwähnt die erektile Dysfunktion folgendermassen: «das Organ, das der Ehe den Frieden bringt, funktioniert nicht». Wir behandeln regelmässig Menschen, die an Impotenz leiden, und zwar ganz halachah-konform. Welches sind die grössten Probleme unserer Zeit in Bezug auf die Halachah, denen Sie in Ihrem Bereich begegnen? Davon gibt es viele, manchmal gibt es auch überraschende Entwicklungen. Kürzlich wurde ich gefragt, ob es erlaubt sei, am Schabbat Viagra einzunehmen. Es handelt sich ja nicht um ein Medikament gegen eine Krankheit. Aus zahlreichen Gründen, die wir hier nicht ausführen können, lautet die Antwort „ja“. In erster Linie befassen wir uns aber mit Fragen im Zusammenhang mit der Unfruchtbarkeit, die sowohl im Hinblick auf die sofortige Umsetzung als auch auf die damit verbundenen Folgen extrem kompliziert sind. Man stellt uns oft die Frage, ob man Spermien von einem Spender verwenden darf, ob der Transfer von Eizellen zulässig ist usw. Hierzu muss betont werden, dass es einen grundlegenden Unterschied zwischen der jüdischen Gesetzgebung und dem europäischen Zivilrecht gibt, was die Definition der Familie angeht. Im Zivilrecht stellt die Bestimmung der Familie nämlich eine Rechtsfrage dar, daher gibt es uneheliche Kinder. Die Tatsache, dass die Familie ein juristisches Konzept ist, erleichtert z.B. die Adoption, da es ja ausreicht, eine juristische Bindung aufzulösen um eine neue zu knüpfen. Im jüdischen Recht gilt das Konzept der Familie nicht als juristisch, sondern als biologisch. Ein Kind, das nicht einer Ehe entstammt, ist nicht unehelich, denn es ist das biologische Kind des Vaters. Das aussereheliche Kind existiert nicht. Es gibt zwar den «Mamser», eine Art Bastard, Frucht einer ehebrecherischen Verbindung, doch dies hat nichts mit dem unehelichen Kind zu tun, wie es im Zivilrecht verstanden wird. Gemäss dem jüdischen Gesetz ist der Vater derjenige, von dem die Spermien stammen, und es ist verboten, Kinder eines unbekannten Vaters zu zeugen. Dennoch ist in Israel die Anonymität des Samenspenders immer noch in Kraft, während in Grossbritannien ein neues Gesetz die Aufhebung der Anonymität ermöglicht. Der gesellschaftliche Vater kann ein Kind adoptieren, doch gemäss der Halachah behält der biologische Vater seinen Status als Vater. Was den Status der Mutter angeht, sieht die Frage sehr viel komplexer aus. Heute ist die In-vitro-Befruchtung erschwinglicher geworden und die Mutterschaft kann auf zwei Frauen gemeinsam entfallen, die sich beide Funktionen teilen, nämlich die Eizelle und den Uterus, die genetische und die physiologische Funktion. Folglich steht die Identität der Mutter nicht mehr eindeutig fest. Aus einer solchen Situation kann sich beispielsweise die Frage ergeben, ob ein auf diese Weise gezeugtes Kind das Recht hat, den Sohn oder die Tochter seiner genetischen oder seiner physiologischen Mutter zu heiraten, ohne Inzest zu begehen. Dieses Problem ergibt sich auch bei der Leihmutter (die in bestimmten Fällen nach einer sehr gründlichen Überprüfung durch einen Fachausschuss in Israel genehmigt werden kann). Noch komplizierter wird es in der Diaspora, wo es möglich ist, dass eine Eizelle von einer nicht jüdischen Spenderin stammt, und wo die Bestimmung der Identität der Mutter darüber entscheidet, ob das Kind jüdisch ist oder nicht. Behandeln Sie in Ihrem Institut auch Araber? Es stellt sich ja die Frage, ob man die Infertilität einer arabischen Frau behandeln soll, die theoretisch ein Kind zu Welt bringen kann, das morgen Juden umbringt. Gemäss der jüdischen Gesetzgebung muss jeder Mensch behandelt werden. In diesem Sinne ist z.B. die Entweihung des Schabbat obligatorisch, um ein Leben zu retten. Im Notfall steht die Behandlung an oberster Stelle, sogar wenn es sich später herausstellt, dass ein Eingriff nicht wirklich dringend war und eigentlich auf einen Wochentag hätte verschoben werden können. Im jüdischen Recht wird überhaupt nicht zwischen einem Juden und einem Nichtjuden unterschieden, und auf medizinischer Ebene ist jede Form der Diskriminierung streng untersagt. In Israel erhält übrigens die arabische Bevölkerung sehr viel mehr Organe als sie selbst spendet. Jeder Mensch, der eine Transplantation braucht, bekommt das benötigte Organ, sobald ein kompatibles Spenderorgan zur Verfügung steht. Es werden zwischen der Zahl der von einer Minderheit gespendeten Organe und der Person, die eines braucht, keine Berechnungen angestellt oder Schlüsse gezogen. Die Länder, in denen derartige Überlegungen stattfinden, haben ein ernsthaftes moralisches Problem. Glauben Sie nun abschliessend, dass wir heute in den orthodoxen Kreisen, in denen sexuelle Fragen in der Regel als tabu gelten, eine grössere Offenheit und ein verstärktes Bewusstsein erleben? Diese Fragen waren in den erwähnten Kreisen schon immer ein Thema. Es trifft zwar zu, dass die Rabbiner heutzutage besser informiert sind und in der Lage sein wollen, richtige und moderne medizinische Informationen zu vermitteln. Bei uns treffen immer mehr Anfragen ein, auf die wir nachbestem Wissen antworten. Wir geben ein internationales Magazin mit dem Titel «Assia – Journal of Jewish Medical Ethics and Halachah» heraus, wir besitzen eine sehr nützliche Website (www.medethics.org.il) sowie eine oft benutzte telefonische Auskunft. Wirft ein medizinisches Verfahren ein Problem moralischer oder religiöser Natur auf, das den Vorschriften des jüdischen Rechts zu widersprechen scheint, ist es sehr wichtig über eine zuverlässige Informationsquelle zu verfügen. Wir bieten eine internationale Auskunftsdienstleistung an und beantworten Fragen rund um den Globus. Man wendet sich mit zahlreichen Fragen allgemeiner oder theoretischer Art an uns, doch es kommt auch ab und zu vor, dass wir in ganz spezifischen Fällen und bei oft komplexen technischen oder juristischen Problemen zu Rate gezogen werden. Einer unserer Rabbinerärzte bemüht sich jeweils, so schnell wie möglich zu antworten. Das Institut Dr. Falk Schlesinger for Medical-Halachic Research am Krankenhaus Shaare Zedek in Jerusalem Dieses 1966 gegründete Institut will ärztliche Berufe mit dem Geist der Torah verbinden. Es befasst sich in erster Linie mit dem halachahkonformen Ansatz bei Fragen der medizinischen Ethik, die mit dem Fortschritt in der Medizin und den entsprechenden Auswirkungen im juristischen Bereich zusammenhängen. Ziel ist es, praktische Lösungen anzubieten. Darüber hinaus bietet das Institut eine ganze Reihe von akademischen und religiösen Programmen zu Themen im Zusammenhang mit der medizinischen Ethik und dem jüdischen Recht an. Diese reichen vom eintägigen Seminar bis zu vollständigen Ausbildungsprogrammen. Das Institut veranstaltet internationale Konferenzen über Fragen der Medizin und der Halachah, deren Akten später auf Hebräisch und Englisch publiziert werden. Die Liste der behandelten Themen ist endlos lang und umfasst sowohl den obligatorischen Aids-Test gemäss der Halachah als auch die Organtransplantation, die Gesetze der Halachah für Ärzte sowie auch Ärztefehler im jüdischen Recht usw.. Das Institut verfügt über eine umfangreiche Bibliothek. |