Staat und Nation | ||
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Von Roland S. Süssmann | ||
Im Jahr 2004 feiern wir den hundertsten Jahrestag zweier Ereignisse: beide sind direkt mit zwei Persönlichkeiten verknüpft, die zwar die Auferstehung des jüdischen Staates nicht mehr erleben durften, die jüngere Geschichte Israels jedoch nachhaltig geprägt haben. Es handelt sich um Theodor Herzl, der am 3. Juli 1904 starb, und um Abraham Itzchak HaCohen–Kook, den ersten aschkenasischen Grossrabbiner von Palästina, der sich 1904 in Jerusalem niederliess. Diese beiden bedeutenden Männer sahen den Zionismus auf völlig unterschiedliche Weise. Herzl forderte einen jüdischen Staat, der nur den materiellen und weltlichen Bedürfnissen des jüdischen Volkes entsprach, während Grossrabbiner Kook sich für die geistige Dimension der nationalen Wiedergeburt einsetzte und somit zum Vater der national-religiösen Bewegung wurde. Beide Denkschulen haben der israelische Gesellschaft ihren Stempel aufgedrückt. Die heute im Land stattfindende Diskussion, die sich sowohl in der akademischen Welt als auch im politischen Leben fortsetzt, wurzelt in diesen gegensätzlichen Auffassungen, die der jeweiligen Doktrin der beiden jüdischen Denker entspringen. Daraus folgt, dass eines der wichtigsten der heute in Israel und der jüdischen Welt umstrittenen Themen die Definition der jüdischen und israelischen Identität betrifft. Um mehr zu diesem Thema zu erfahren, haben wir mit Professor SHALOM ROSENBERG gesprochen, Philosoph, Direktor des Instituts für Sprachen, Literatur und Kunst der Hebräischen Universität von Jerusalem und auch Inhaber eines Lehrstuhls am Touro College von Jerusalem. Gegenwärtig stecken wir mitten in einer grundlegenden und entscheidenden gesellschaftlichen Diskussion über die Zukunft der israelischen Gesellschaft. Um welche zentralen Themen dreht sich Ihrer Ansicht nach diese unerlässliche Debatte? Zunächst kann festgestellt werden, dass wir einer Flut von Ideen gegenüber stehen, die völlig simpel bis ganz absurd sind, von denen einige aber auch vernünftig ausfallen. So besitzt beispielsweise die Lobby, welche die so genannten postzionistischen oder postmodernistischen Thesen vertritt (und in Wirklichkeit die jüdische Identität Israels in Frage stellt) einen bedeutenden Einfluss im Bereich der Künste. Es handelt sich um eine Bewegung, deren Ideen dem Wohlergehen des jüdischen Volkes nur schaden können. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass das Thema der gegenwärtigen Diskussion, die entscheidend sein wird für die Identität Israels, unter dem Titel «ein Staat für alle Einwohner» und nicht «ein zionistischer Staat» läuft. Heute geht es aber nicht mehr nur darum, einen jüdischen Staat zu haben, sondern um die Beibehaltung dieses Staates als solchen in der Zukunft, was noch nicht gesichert ist. Diese Frage betrifft nicht nur die israelische Gesellschaft, sondern sämtliche jüdischen Gemeinschaften weltweit. Es geht um den zentralen Punkt einer neuen Definition des Zionismus. Dieser Begriff bezeichnete zwar das Ziel, einen jüdischen Staat zu schaffen und die Immigration zu fördern, doch in Wahrheit reichen diese beiden Elemente nicht mehr aus, einen Staat aufrecht zu erhalten, der wirklich jüdisch ist. Die Definition des Zionismus muss neu auch die Tatsache einschliessen, ein stabiles Gleichgewicht zwischen dem Staat Israel und dem jüdischen Volk beizubehalten. Wir leben in einer seltsamen Zeit, in der zwei Bewegungen aufeinander prallen. Auf der einen Seite steht die Globalisierung, welche danach trachtet, die spezifischen Merkmale aufzuheben und eine Art allgemeine Vereinheitlichung zu schaffen, mit anderen Worten der Verzicht auf den Respekt und der Loyalität gegenüber jeder einzelnen Identität. Man versucht einen einheitlichen, universell gültigen Status für die gesamte Menschheit einzuführen, was bedeuten würde, dass die Geschichte der Menschheit nach dem Zusammenbruch der UdSSR endet. Auf der anderen Seite findet um uns herum ein Konflikt der Kulturen statt, in dem der Islam und der Westen einander bekämpfen. Wir in Israel stehen zwischen diesen beiden Bewegungen, und hier spielt unsere jüdische und israelische Sonderstellung eine wichtige Rolle. Als Israelis führen wir nämlich die Besonderheit der jüdischen Situation fort, diese aus zwei Aspekten bestehende Sonderstellung, die von unseren Weisen definiert wurde und für unsere Unabhängigkeit in unserer Interaktion mit anderen Völkern und Kulturen typisch ist: Am levadad Yishkon - ein Volk, das allein bleibt - geächtet, ausgeschlossen, gettoisiert, als Opfer behandelt, aber auch introvertiert. Aufgrund derselben Definition sind wir auch Or Lagoyim - ein Licht für die anderen Nationen, d.h. ein Barometer, ein Warnsignal und ein Vorbild. Es ist ungemein wichtig, dass wir unsere Besonderheit und unsere jüdische Identität bewahren, und zwar sowohl auf individueller, als auch auf politischer und nationaler Ebene. Denken Sie nicht, dass andere Diskussionen, die das Land bewegen, wie z.B. der Graben zwischen Frommen und Ungläubigen, die Divergenz zwischen rechts und links insbesondere in Bezug auf die Fortsetzung der jüdischen Präsenz in Judäa-Samaria und Gaza, ebenso wichtig sind wie die Definition der Identität? Natürlich schlagen die von Ihnen angesprochenen Fragen hohe Wellen, doch sie betreffen weder das eigentliche Fundament noch die Wurzeln des Staates, wie dies bei der Definition der israelischen Identität und der Einbeziehung des Judentums in diese Definition der Fall ist. Die grundlegende Frage lautet doch, wie man die jüdische Identität definieren soll, vor allem in Israel. Sie beruht auf drei Grundpfeilern: der Religion, dem Staat und dem, was man auf Englisch «peoplehood» nennt. Dieser kaum zu übersetzende Begriff umfasst die ethnische Identifikation und eine Reihe von philosophischen oder ideologischen Konzepten. Es gibt keine anderen Elemente bei der Bestimmung der jüdischen Identität. Die einen sehen sich allein wegen der Religion und des Gebets als Juden, andere verspüren nur ein nationales Gefühl, und eine dritte Kategorie beruft sich bei ihrer Zugehörigkeit zum jüdischen Volk wieder auf etwas anderes, nämlich auf den Antisemitismus oder einfach auf die Moral. Und schliesslich sind da diejenigen, die sich aufgrund ihrer Herkunft als Juden fühlen, jedoch keinerlei Verbundenheit mit religiösem Wissen und der Frömmigkeit oder mit dem jüdischen Staat verspüren. Es muss einem klar sein, dass die jüdische Identität ein sehr vielschichtiges Phänomen ist, und ausserdem schliesst die Tatsache, dass man sich mit einem der drei oben genannten Grundpfeiler identifiziert, nicht aus, dass man sich einem anderen nahe fühlt; auch eine Mischung aus allen drei Dimensionen ist nicht unüblich, selbst wenn eine der drei durchaus vorherrschend sein kann. Es handelt sich um ein völlig subjektives Phänomen, wo jeder von uns im Rahmen dieses Dreiecks aus den erwähnten drei Pfeilern seinen Platz findet. Gleichzeitig schüren die Spannungen, die zwischen den drei Seiten des Dreiecks herrschen, die nationale Debatte. Die Tatsache, dass es uns gelungen ist, einen gemeinsamen Modus vivendi zu schaffen, dank dem sich jede Strömung in einem gemeinsamen Rahmen individuell entfalten kann, verleiht uns aber auch Kraft. Ich bin daher überzeugt, dass sich die Identität der meisten Juden in Israel aus dem gemeinsamen Nenner zwischen Staat und Nation ergibt. Sind Sie der Ansicht, dass wir uns in einer ideologischen Debatte befinden, dessen Ziel daraus besteht festzulegen, ob Israel ein jüdischer Staat oder ein «Staat für Juden» sein sollte? Die Auseinandersetzung ist sehr viel ernster und reicht viel tiefer als das. Ich bin in der Tat der aufrichtigen Überzeugung, dass die beiden von Ihnen erwähnten Konzepte sehr wohl nebeneinander bestehen können und dass das Problem des Schabbat, die Frage «wer ist Jude» usw., die immer wieder für Schlagzeilen in der Presse sorgen, eine für alle akzeptable Lösung finden können. Ich fürchte aber, dass uns eine andere Gefahr droht, diejenige der allmählichen Entstehung eines Staates, in dem die Juden zwar leben dürfen, der in Wirklichkeit aber nicht für sie geschaffen wurde. Lassen Sie mich erklären: der «Ehevertrag», der Israel an den Rest des jüdischen Volkes bindet, wird heute durch das Rückkehrgesetz festgelegt. Keine andere westliche Demokratie definiert die Staatszugehörigkeit der meisten ihrer Bürger über die Religion, der sie angehören. Dieser Ansatz ist problematisch und enthält viele Widersprüche, doch auf diese Weise allein definieren wir Israel als ein Land für die Juden. Es existiert heute in Israel jedoch eine Randgruppe in der sehr gebildeten jüdischen Gesellschaft, die zu den «opinionmakers» gehört, die in den Medien und in der intellektuellen Welt präsent ist und will, dass Israel eine Art neutrales Gebilde ohne jüdische Identität, wenn nicht gar ohne irgendeine Identität sein soll. Dieser Gedanke ist rückständig und wurde in den Anfängen des Staates von der kommunistischen Partei Israels vertreten; eigentlich beschränkt er den Staat auf eine Funktion ohne Ideologie. Wie gedenken Sie dieses Phänomen zu bekämpfen, das ausserdem an Bedeutung zu verlieren scheint? Eine der Doktrinen der israelischen Armee fusst auf folgendem Prinzip: möchte man etwas für ein Jahr erreichen, pflanzt man Getreide an; strebt man etwas Dauerhafteres an, muss man Bäume pflanzen; möchte man aber etwas Beständiges schaffen, muss man die Menschen erziehen. Es ist nicht möglich, auf kurze Sicht zu arbeiten. Wir, die Erzieher und Denker in Israel und in der jüdischen Welt, können und müssen unser Möglichstes tun, um Generationen aufzuziehen, die sich im vollen Bewusstsein um ihre Situation in ihrer jüdischen Identität wohl fühlen und von diesen nihilistischen Theorien nicht verführt werden. Dieses umfangreiche Erziehungsprogramm wird nicht nur über die Schulen umgesetzt, sondern auch über das Fernsehen, das Theater, das Kino usw. Es ist jedoch mit einer Reihe von Ereignissen verbunden, die ausserhalb von Israel und der jüdischen Welt stattfinden. Nach dem 11. September in den USA ist eine neue Denkweise entstanden. Die Intellektuellen aller Ausrichtungen haben begonnen, der nationalen Identität mehr Bedeutung beizumessen. Dies ist in Europa noch nicht der Fall, doch ich habe guten Grund zu glauben, dass einige dieser positiven Ideen allmählich in Israel zu spüren sind. Bleibt eine wesentliche Frage zu klären. Israel stellt in seiner Eigenschaft als westliche Demokratie im Nahen Osten einen Fremdkörper, wenn nicht gar eine widernatürliche Realität dar. Es ist ausgeschlossen, dass sich der Lebensstil in Israel orientalisiert, und obwohl sie stark amerikanisiert ist, gleicht die Existenz in Israel nicht derjenigen in den USA. Auf kultureller Ebene dominiert Europa das Geschehen. Wo steht angesichts dieser Tatsachen die jüdische Identität? Einer der Gründe für unseren Konflikt mit den Nachbarstaaten liegt in unserer Besonderheit. Sie wissen sehr wohl, dass wir uns nicht an die Region anpassen können, und sei es nur im Hinblick auf die Rechte der Frau, die individuelle Freiheit usw. Wenn wir friedlich koexistieren, wenn die Kontakte zwischen den Menschen sich intensivieren sollten, glaube ich nicht, dass unsere Identität in Gefahr wäre. Unsere Nachbarn hingegen fürchten vielleicht zu Recht, dass unsere Lebensweise sich bei ihnen einbürgert, was sie natürlich nicht wünschen. Wenn ich aber sehe, was im schulischen Bereich in Amerika läuft, wo Drogen und Gewalt mittelfristig das Schulwesen in diesem Land zu zerstören drohen, sollten wir meiner Ansicht nach diesen Weg nicht einschlagen. Es steht ausser Zweifel, dass wir uns der Welt öffnen müssen, insbesondere auf kultureller Ebene, und es trifft zu, dass uns in diesem Bereich Europa am meisten bringt. Gleichzeitig muss jeder von uns sowie der Staat eine spezifische und abgegrenzte jüdische Identität bewahren, ohne dass wir uns dadurch isolieren. Dazu gibt es nur einen Weg: die Aufrechterhaltung der Keimzelle der jüdischen Familie, d.h. die ausschliessliche Eheschliessung unter Juden, die Erhöhung der Zahl jüdischer Familien und die Fortsetzung dessen, was ich «unsere Spezies und unsere Traditionen» nennen würde, nämlich des Judentums. Die Öffnung auf die Welt setzt auch eine gewisse Vorsicht voraus. Darüber hinaus hat uns unsere Religion einen sehr wichtigen Auftrag auferlegt, wir sind die «Botschafter» des Herrn auf Erden. Dies verleiht uns keineswegs Privilegien, sondern eine beeindruckende Zahl von Pflichten, von denen die oberste ein korrektes Verhalten ist. Wenn einer von uns einen Fehler begeht, zeigt man mit dem Finger nicht auf ihn, sondern auf die «Juden». Unser Glaube verbietet es uns, den Namen des Herrn zu entweihen. Der Idee des «Chillul Haschem», der Missachtung des Herrn, steht das Konzept des «Kidusch Haschem» gegenüber, der Heiligung G’ttes. Dieses Element ist fester Bestandteil unserer Identität und wird auch allmählich in die israelische Identität integriert werden müssen. Dieses Konzept ist übrigens in einem grossen Teil der israelischen Gesellschaft vorhanden, die sich nicht als fromm bezeichnet, sich aber zu den jüdischen Werten bekennt, insbesondere auf ethischem Niveau und ebenfalls durch eine bestimmte Lebensführung. In Israel schreibt kein Gesetz die Beschneidung vor, kein Gesetz sieht die Einhaltung der Trauerwoche vor (Schiwah), wenn ein Todesfall eintritt, und es gibt bestimmt kein Gesetz, das irgendjemanden verpflichtet den Seder zu feiern – und doch halten sich über 90% der Bevölkerung an diese Traditionen. Abschliessend möchte ich sagen, dass wir zwar sehr wohl mitten in einer sehr wichtigen Diskussion über grundlegende Werte in Bezug auf die jüdische Identität in Israel stecken, parallel dazu haben wir jedoch ein gewisses Gleichgewicht erreicht, dank dem wir gegenwärtig in Harmonie zusammen leben können. Wir leben in einer Zeit, in der die Menschen eine Identität und Wurzeln brauchen, um wieder Hoffnung zu empfinden. Wir müssen aufmerksam darauf achten, dass sich zu fromme oder zu wenig religiöse Bewegungen nicht in den Vordergrund drängen und diejenigen entfremden, die ihre jüdische Identität in der ausgewogenen Weise leben möchten, von der ich gesprochen habe: im Bewusstsein um alle Faktoren und weltoffen. Glücklicherweise gibt es heute in Israel und anderswo eine immer bedeutender werdende neue Bewegung des Denkens und Handelns, die alles unternimmt, um diese Lebensform zu fördern. Es handelt sich um eine Gruppe junger Rabbiner, Dichter, Musiker, Fernsehleuten, Komiker, Satiriker und Filmschaffender mit einer sehr hohen akademischen und jüdischen Ausbildung, die kultiviert sind und sich aufgrund ihrer Offenheit an alle Gesellschaftsschichten wenden. Sie leben gemäss folgendem alten Grundsatz: «Ich bin Jude, doch nichts Menschliches ist mir fremd». Die Dichter dieser Gruppe verfassen eine israelische Poesie auf der Grundlage der jüdischen Wurzeln, doch parallel dazu sind sie auch in der Armee und an der Universität tätig. Diese Art der jüdischen und israelischen Identität wird langfristig den Fortbestand des jüdischen Charakters des Staates sichern, was sicher nicht bedeutet, dass es keinen Raum gibt, damit sich die anderen Strömungen frei ausdrücken können. |