Konflikt der Gesetze ?
Von Rachel Levmore *
Ich habe den Eindruck, ein Déjà-vu zu erleben. Einmal mehr stehe ich im Audienzsaal des Obersten Rabbinatsgerichts in Jerusalem. Die drei ehrenwerten Rabbiner versuchen Yakov davon zu überzeugen, seiner Frau die «Get» (jüdische Scheidungsurkunde) zu überreichen; ich höre ihnen zu und beobachte gleichzeitig den widerspenstigen Ehemann. Mit selbstzufriedener Miene trägt Yakov das Verhalten eines von sich überzeugten Mannes zur Schau. Körperlich beeindruckt er durch seine Masse, er ist hoch gewachsen und breitschultrig, auch wenn er leicht gebückt wirkt. Wenn er aufsteht, rückt er auf dem Kopf eine grosse schwarze Kippah zurecht. Als er auf die Beamten zugeht, um die jüngste Liste mit seinen Forderungen zu zeigen, ist das Klirren der Ketten an seinen Füssen zu hören.
Am anderen Tisch, den drei rabbinischen Richtern gegenüber, sitzt Liora, Yakovs Ehefrau (auf dem Papier). Sie ist sowohl zivilrechtlich gesehen als auch aus der Sicht des jüdischen Rechts (Halachah) seine Ehefrau, obwohl sie bereits vor elf Jahren um die Auflösung dieser Ehe gebeten hat! Yakov hat die letzten drei Jahre dieser «Verbindung» im Gefängnis verbracht. Er wurde nicht wegen irgendwelcher Verbrechen verurteilt. Er kam vielmehr auf Anordnung des selben Rabbinatsgerichts ins Gefängnis, vor dem er jetzt wegen seiner hartnäckigen Weigerung erscheinen muss, seiner Frau die Scheidung zuzugestehen, und dies trotz aller Befehle der Rabbiner. In meiner Eigenschaft als Anwältin, die Liora vor dem Rabbinatsgericht vertritt, habe ich den Antrag eingereicht, Yakov ins Gefängnis zu stecken. Diesem Antrag wurde stattgegeben, auch wenn wir das angestrebte Ziel immer noch nicht erreicht haben: die «Get» für Liora. Seit drei Jahren könnte Yakov höchstpersönlich darüber entscheiden, ob er das Gefängnis wieder verlassen möchte. Er braucht nur die «Get» zu erteilen, um zu einem freien Mann zu werden und auch Liora ihre Freiheit zurückzugeben.
Diese ziemlich absurde Situation wird tagtäglich von zahlreichen Frauen erlebt. Sehr oft bleiben sie gegen ihren Willen durch die Fesseln einer jüdischen Ehe gebunden, sei es in Israel oder in der Diaspora.
In der Diaspora untersteht die Ehe den gesetzlichen Bestimmungen des Staates, in dem das Paar lebt, wobei dies die zivile Trauung betrifft. Möchte das Paar seine Verbindung durch das jüdische Gesetz absegnen lassen, wendet es sich an einen Rabbiner, der die Zeremonie der «Kidduschin» unter einer «Chuppah» (Hochzeitsbaldachin) durchführt, mit anderen Worten die religiöse Hochzeit. In Israel wird jedoch für Juden vom Zivilrecht nur die religiöse Trauung anerkannt, d.h. die Zeremonie der «Kidduschin». Dasselbe gilt auch für die Scheidung. In allen Demokratien der Welt, mit Ausnahme des jüdischen Staates, wird das Scheidungsverfahren von einem zivilen Richter durchgeführt, der den Staat repräsentiert. Indem er die Scheidung ausspricht, verändert der Richter den Zivilstand des Mannes und der Frau, wenn er den Vermerk verheiratet streicht und ihn durch den Vermerk geschieden ersetzt: von dem Moment an sind sie vor dem Gesetz wieder ledig. Handelt es sich beim Paar um Juden, die ihre Ehe gemäss dem jüdischen Gesetz auflösen möchten, muss der Ehemann seiner Frau die «Get» übergeben, die jüdische Scheidungsurkunde. Überall auf der Welt findet dies unter der Aufsicht eines Rabbinatsgerichts statt. Es werden also zwei Verfahren in Gang gesetzt, bei deren Beendigung das Paar sowohl im Sinne des Zivilrechts als auch im Sinne der Halachah geschieden ist. Im Staat Israel jedoch kann die Scheidung nur durch ein einziges Verfahren ausgesprochen werden: durch die Überreichung der «Get» durch den Ehemann an seine Frau unter dem Beisein und der Kontrolle eines offiziellen, vom Staat eingesetzten Rabbinatsgerichts. Sobald dieses Prozedere ordnungsgemäss durchgeführt wurde, wird die Zivilstands¬änderung der beiden Betroffenen zugleich vom Zivilrecht und vom jüdischen Recht anerkannt. Im Staat Israel ist weder eine zivile Trauung noch eine zivile Scheidung möglich.
Neben dem offensichtlichen Unterschied zwischen der Situation in der Diaspora und derjenigen in Israel gibt es noch eine weitere, grundlegende Differenz. Weltweit willigen Mann und Frau anlässlich der zivilen Trauung gemeinsam in die Ehe ein. Diese Zustimmung, die während der Feier erfolgt, stellt eine Art Vertrag dar. Wenn eine der beiden Parteien oder beide Parteien zusammen später den Vertrag auflösen möchten, erfolgt diese Aufhebung über ein Gericht. Die Scheidungsurkunde wird vom Gericht ausgestellt und nicht von den Parteien selbst, nur der Richter ist befugt, alle Etappen des Verfahrens durchzuführen, auch wenn sich einer der Ehegatten heftig dagegen sträubt.
Die Zustimmung von Mann und Frau wird auch in der Zeremonie der religiösen Trauung verlangt, ähnlich wie bei der zivilen Eheschliessung. Kommt es aber zur Scheidung, können die Bedingungen nicht mehr mit denjenigen des zivilen Verfahrens verglichen werden. Die Änderung des Zivilstands der beiden Eheleute hängt allein vom Vorgehen des Mannes ab: letzterer muss aus völlig freien Stücken seiner Frau die «Get» überreichen. Widersetzt sich der Ehemann der Scheidung, kann diese durch keine andere Person, keine andere Instanz – auch nicht durch ein Gericht – an seiner Stelle ausgesprochen werden. Aus diesem Grund kann sich die Frau, die freiwillig durch eine jüdische religiöse Trauung eine Verbindung zu einem Mann eingegangen ist und beschlossen hat, diese Verbindung absegnen zu lassen, nicht mehr aus eigener Entscheidung aus dieser Ehe lossprechen. Aus der Sicht der Halachah bleibt sie bis zu dem Zeitpunkt verheiratet, da ihr Ehemann einwilligt sie frei zu geben. In der Zwischenzeit besitzt sie den kaum beneidenswerten Status einer «Agunah».
Die aus dieser Situation entstehenden Probleme fallen in der Diaspora und in Israel unterschiedlich aus. In den meisten Ländern müssen die Eheleute in einem zivilen Verfahren getraut worden sein, damit ihre Ehe vor dem Gesetz anerkannt wird, die religiöse Feier ist fakultativ. Zur Anerkennung der Scheidung müssen sich die Eheleute ebenfalls an ein ziviles Gericht wenden, während das religiöse Verfahren wiederum freiwillig ist. (Anmerkung: eine orthodoxe Jüdin wird sich weder zivil noch religiös wieder verheiraten, solange sie nicht die «Get» von ihrem Ex-Mann erhalten hat.) In Israel gibt es für Juden nur ein einziges Scheidungsverfahren, wenn die Scheidung vom Staat offiziell anerkannt werden soll, so wie es auch nur eine Art der Eheschliessung gibt: man muss sich an ein vom Staat eingesetztes Rabbinatsgericht wenden, dessen Entscheidungen sich auf die Halachah stützen. Die Halachah oder das jüdische religiöse Gesetz verkörpert demnach den entscheidenden Faktor für die zivile Anerkennung der Ehe oder der Scheidung. Juristisch gesehen gehören Zivilstandsfälle also nicht in den Zuständigkeitsbereich der zivilen Gerichte, nicht einmal in denjenigen der Familiengerichte. Jeder Jude, der von den Dienstleistungen des Staates im Zusammenhang mit der Ehe oder Scheidung profitieren möchte, ist der Rechtsprechung des Rabbinatsgerichts unterworfen. Dies führt zu folgendem Schluss: während eine Jüdin in der Diaspora eine zivile Scheidung erhalten und sich danach wieder zivil verheiraten kann, hängt sie in Israel völlig vom guten Willen ihres Mannes ab: dieser muss ihr die «Get» überreichen, damit sie allenfalls wieder eine Ehe eingehen kann.
Von diesem Standpunkt aus versteht man das Phänomen des widerstrebenden Ehemannes und das häufige Auftreten dieser Situation besser. Vor der Eheschliessung besitzt jeder der beiden Partner das Recht, die Änderung seines Zivilstandes abzulehnen. Beide Ehepartner müssen in die Heirat einwilligen. Bei der Einleitung eines Scheidungsverfahrens besitzt nur der Ehemann und niemand sonst (kraft dem Gesetz der Torah) das Recht, die Änderung des Zivilstandes abzulehnen. [Gemäss einer rabbinischen Verordnung von Rabbenu Gerschom Meor Hagola (10.-11. Jh.). In Ehen zwischen Aschkenasim ist auch die Frau berechtigt, die Änderung ihres Zivilstandes und die Überreichung der «Get» abzulehnen. Diese Verordnung macht in gewissen Fällen auch das Scheidungsverfahren komplizierter, aber nicht in demselben Ausmass wie die Weigerung des Ehemannes.] Seine Zustimmung ist die Conditio sine qua non für die Auflösung der Ehe. In diesem Fall darf der Mann oft völlig überrissene Forderungen stellen, welche die Ehefrau erfüllen muss, wenn sie seine Einwilligung in die Scheidung erhalten möchte. Er kann sich auch ohne Angabe besonderer Gründe einfach weigern, die «Get» auszuhändigen. Das Rabbbinatsgericht in Israel besitzt zwar auf diesem Gebiet sehr weit reichende juristische Befugnisse, doch weder dieses Gericht noch eine entsprechende Institution in der Diaspora dürfen an Stelle des Ehemannes eine Scheidungsurkunde ausstellen.
Die Forderungen eines störrischen Ehemannes kommen manchmal einer reinen Erpressung gleich. Es kommt vor, dass diese so verfasst sind, wie man es typischerweise von einer «legitimen» Verhandlung erwarten würde, es ist beispielsweise von Geldbeträgen die Rede, welche die Frau dem Manne «schuldet». Der Ehemann darf sogar festhalten, er werde seiner Frau die «Get» nur dann zugestehen, wenn sie auf das Sorgerecht für die gemeinsamen Kinder verzichtet und sie ihm «zum Wohl der Kinder» überlässt. Der Druck, den der Ehemann auf seine Frau und auf das Rabbinatsgericht ausüben kann, ist enorm. Die Macht, über die er verfügt, ist eigentlich das, was man «Dinei Nefaschot» nennt und die Existenz anderer Menschen gefährdet. Ohne die Einwilligung dieses Mannes kann die Frau kein neues Leben beginnen. Sie darf nicht wieder heiraten und auch nicht Kinder von einem anderen Mann bekommen. Eine weitere Ungerechtigkeit besteht darin, dass ihre biologische Uhr unerbittlich weiter tickt, während sie sich mit zähen Gerichtsverhandlungen herumschlagen muss.
Diese inakzeptable Situation spitzte sich im Verlauf der letzten hundert Jahre noch zu. Das moderne Leben und die wachsende Mobilität haben dazu beigetragen, ein Problem von weltweitem Ausmass zu schaffen: die Ablehnung der «Get». In bestimmten Gemeinschaften werden diese tragischen Fälle totgeschwiegen, in anderen haben sie Schlagzeilen gemacht. In Israel und in den USA versuchen Rechtsanwältinnen mit Plädoyers vor den Rabbinatsgerichten, Rabbiner und weltliche Personen mit verschiedenen Mitteln eine Lösung im Rahmen der Halachah zu finden. Bis heute ist es jedoch niemandem gelungen, ein Verfahren zu entwickeln, das einstimmig gut geheissen wird.
Im Gerichtssaal, in dem Yakov und Liora gegeneinander antreten, ist es allen Mitwirkenden der oben beschriebenen Szene deutlich bewusst, dass der verhandelte Fall nur einer von vielen ist, die in juristischen Kreisen des Staates Israel täglich von sich reden machen. Die vertragliche Bindung, welche diese Frauen an eine Ehe kettet, von der sie nichts mehr wissen wollen, ist ebenso schwer und belastend wie die Ketten um die Fussgelenke von Yakov. Leider stellt die Flut von ähnlichen Fällen nur einen mageren Trost für diejenigen dar, die Liora freizusprechen versuchen. Das Ausmass des Phänomens verstärkt nur ihre persönliche Tragödie.


Die jüdische Scheidungsurkunde muss durch einen Torahschreiber mit Tusche von Hand geschrieben werden.

*Rachel Levmore
In ihrer Eigenschaft als Rechtsanwältin bei den Rabbinatsgerichten seit 1995 hat sich Rachel Levmore auf die Verteidigung von Frauen spezialisiert, die mit einem Problem der «Igun» oder der Verweigerung einer «Get» konfrontiert sind und deren Fall vor einem Rabbinatsgericht in Israel hängig ist. Im Januar 2000 erhielt sie als erste Frau die Zulassung, in der Sonderabteilung tätig zu sein, die sich innerhalb des Nationaldirektoriums der Rabbinerkurse in Israel mit Fragen der «Agunoth» befasst. Ausserdem gehörte Rachel Levmore einer Sonderkommission an, die einen vorehelichen Mustervertrag ausgearbeitet hat, dank dem die Ablehnung der «Get» vermieden werden kann. Obwohl es sich hierbei um ein vor allem für die israelische Gesellschaft typisches Problem handelt, ist dieser Vertrag in der ganzen Welt rechtsgültig und anwendbar. Durch ihre Vorträge, Seminare und Workshops, die sie in Israel und überall auf der Welt hält, macht Rachel Levmore die jüdische Welt auf die komplexe Frage der jüdischen Scheidung in der heutigen Zeit aufmerksam.
Ihre akademische Laufbahn umfasst einen Masters-Titel (Summa Cum Laude) der Talmud-Abteilung der Universität von Bar Ilan. Gegenwärtig schreibt Rachel an einer Doktorarbeit, deren Hauptthema sich mit einer möglichen Schnittstelle zwischen der modernen und demokratischen Rechtsprechung des Staates Israel und der mehrere hundert Jahre alten Halachah (jüdische Rechtsprechung) auseinandersetzt, und zwar in Bezug auf äusserst komplexe Fälle der Verweigerung der «Get», wie sie regelmässig vor den israelischen Rabbinatsgerichten anhängig gemacht werden.
Rachel Levmore ist verheiratet und Mutter von sieben Kindern.