Entschlossenheit Und Strafverfolgung | |
Von Dr. Efraim Zuroff * | |
Die meisten Menschen gehen ganz selbstverständlich davon aus, dass immer weniger Nazi-Kriegsverbrecher vor Gericht gebracht werden, je länger der Zweite Weltkrieg zurückliegt. Doch die Zahlen aus den vergangenen drei Jahren beweisen eindeutig, dass dies nicht unbedingt überall zutrifft. Einige Länder haben heute zwar grundsätzlich derartige Bemühungen aufgegeben, andere konnten dabei nur wenige Erfolge verzeichnen, doch die allgemeine Regel wird durch gewisse Ausnahmen bestätigt. So erzielte beispielsweise das Office of Special Investigations der Vereinigten Staaten, das vom US-Justizdepartement ins Leben gerufene Spezialbüro für die Strafverfolgung in den USA lebender Nazi-Kriegsverbrecher, in der Zeitspanne zwischen dem 1. Januar 2001 und dem 1. Januar 2004 16 Verurteilungen und reichte 18 neue Verfahren ein. Allein im Jahr 2002 waren es 11 neue Verfahren, die höchste Zahl seit seiner Gründung 1979. Dieses aussergewöhnliche Resultat ist jedoch teilweise auf die Tatsache zurückzuführen, dass Nazi-Kriegsverbrecher in den Vereinigten Staaten nicht strafrechtlich verfolgt werden (Mord, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschheit), sondern vielmehr für die Verletzung von Einwanderungs- und Einbürgerungsvorschriften. (Sie haben auf ihren Einwanderungs- und/ oder Einbürgerungsanträgen gelogen.) Diese juristische Methode wurde von den amerikanischen Behörden am Ende der 1970er Jahre angewendet, als man entdeckte, dass zahlreiche verdächtige nationalsozialistische Kollaborateure und Kriegsverbrecher nach dem Zweiten Weltkrieg (zwischen 1947 und 1952) in die USA eingewandert waren und sich dabei als Flüchtlinge ausgaben. Da sie ihre Verbrechen ausserhalb der USA begangen hatten, zu einem Zeitpunkt, als sie weder US-Staatsbürger noch dort wohnhaft waren, und da ihre Opfer keine amerikanischen Bürger waren, bestanden Zweifel darüber, ob man sie wegen ihrer in Europa begangener Verbrechen belangen konnte. Daher entschieden sich die USA für ihr heute noch übliches Vorgehen der Aberkennung der Staatsbürgerschaft und der Deportation, was um einiges einfacher ist als dies durch strafrechtliche Verfolgung zu erreichen. Die Amerikaner gewinnen tatsächlich bestimmte Fälle, indem sie sich ausschliesslich auf Dokumente stützen, die ihnen infolge des hohen Alters von potentiellen Zeugen (und wegen schwindenden Erinnerungsvermögens) weit aufsehenerregendere Resultate garantieren, als dies in Ländern möglich ist, die Nazis strafrechtlich verfolgen. Aufgrund dieser Tatsachen gab es nur ein Land, dem es im Verlauf der vergangenen drei Jahre gelang, drei Nazi-Kriegsverbrecher wegen Mordes zu verurteilen, was der höchsten Zahl von strafrechtlichen Verurteilungen von Nazi-Kriegsverbrechern irgendwo auf der Welt entspricht. Bei diesem Land handelt es sich um Deutschland, das in den letzten Jahren diese Verfahren fortführte und dabei einige Erfolge verzeichnen konnte. Eine nähere Betrachtung dieser drei Verurteilungen von Nazi-Kriegsverbrechern durch die deutschen Anwälte zwischen dem 1. Januar 2001 und dem 1. Januar 2004 verschafft uns einen Einblick in die Probleme, die bei derartigen Fällen auftauchen, und hilft uns die Faktoren zu verstehen, die letztendlich zur Verurteilung dieser Verbrecher führten. Der erste Fall, der in dieser Zeit entschieden wurde, betraf Julius Viel, der zu Beginn des Jahres 2001 wegen Mordes in Ravensburg verurteilt wurde. Der Fall Viel ist aufgrund der ungewöhnlichen Umstände von besonders grossem Interesse; ausserdem streicht er die Bedeutung hervor, die Zeugenaussagen von Mittätern besitzen. 1945 diente Julius Viel als SS-Offizier im Ghetto bzw. KZ Theresienstadt, das nicht weit von Prag entfernt liegt. Irgendwann im März 1945 stellte er einen Sondertrupp aus Lagerinsassen zusammen, um einen Panzergraben auszuheben, dank dem die vorrückende sowjetische Armee aufgehalten werden sollte. Als das Tagewerk fast vollbracht war, erschoss Viel ohne ersichtlichen Grund sieben der Gefangenen mit seinem Gewehr. Zu diesem Verbrechen wurden nie Ermittlungen angestellt, und er wäre wahrscheinlich nie zur Rechenschaft gezogen worden, wenn nicht in Kanada, fern vom Schauplatz des Verbrechens, eine Reihe von Ereignissen stattgefunden hätten. 1996 versuchte ein jüdisch-amerikanischer Privatdetektiv namens Steve Rambam in Kanada verdächtige Nazi-Kriegsverbrecher ausfindig zu machen und zu Geständnissen zu zwingen. Rambam gab sich als Forscher der nicht existierenden “St. John’s University of the Americas” in Belize aus, der angeblich an einem Projekt betreffend die Untersuchung der Beziehungen zwischen Armee, Polizei und zivilen Behörden unter nationalsozialistischer Besetzung im Zweiten Weltkrieg arbeitete, und klopfte bei verdächtigen Nazi-Kriegsverbrechern in Kanada an, deren Adressen er zum Teil vom Simon Wiesenthal Center erhalten hatte. Obwohl er überall ohne Vorankündigung vorsprach, liessen ihn einige der Verdächtigten ein, und mindestens einer von ihnen sprach offen über seine persönlichen Erfahrungen während des Kriegs. Rambam nahm dieses Gespräch heimlich auf und machte es später anlässlich einer Pressekonferenz in Montreal publik. Auf diesem Band berichtete Antanas Kenstavicius, ehemals litauischer Polizeichef des Bezirks Svencionys, als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt, wie Tausende von Juden aus seiner Region im Herbst 1941 eingekreist und ermordet worden waren. Das Tonband von Kenstavicius trug dazu bei, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die wiederholte Unterlassung Kanadas zu lenken, Nazi-Kriegsverbrecher strafrechtlich zu verfolgen. Dies führte dazu, dass sich der kanadische Wirtschaftsprofessor Adalbert Lallier meldete und als Augenzeuge von einem Verbrechen berichtete, dem er vor über fünfzig Jahren beigewohnt hatte. Es stellte sich heraus, dass Lallier, der als rumänischer Volksdeutscher mit 17 Jahren in die SS eintrat, gesehen hatte, wie Viel die Lagerinsassen aus Theresienstadt im März 1945 ermordet hatte, und dass er bereit war, gegen ihn auszusagen. Letztendlich war es die Aussage von Lallier, die sich im Verfahren gegen Viel als ausschlaggebend erwies. Viel wurde am 3. April 2001 zu 12 Jahren Gefängnis verurteilt. (Viel blieb bis wenige Tage vor seinem Tod im Februar 2002 im Gefängnis). Ohne Lalliers Zeugenaussage wäre Viel einerseits nie verurteilt worden, andererseits hätte niemals jemand erfahren, dass ein solches Verbrechen überhaupt verübt worden war. Dieser Fall unterstreicht einmal mehr die äusserst wichtige Rolle und das enorme Potential von Mittäter-Aussagen in Prozessen gegen Nazi-Kriegsverbrecher, da es oft schwierig ist, andere Zeugen zu finden (geschweige denn Opfer oder Aussenstehende), die einen ebenso genauen Bericht abgeben können wie diejenigen, die zusammen mit den Verbrechern Dienst taten und oft direkt daneben standen, als jene ihre Verbrechen begingen. Die zweite von deutschen Anwälten erreichte Verurteilung betraf Anton Malloth, einen Österreicher, der ebenfalls in Theresienstadt diente. Im Gegensatz zu Viel, von dessen Verbrechen niemand etwas wusste, erreichte Malloth einen gewissen Bekanntheitsgrad als einer der Täter bei der “Kleinen Festung” des Konzentrationslagers, und wurde eigentlich 1948 in Leitmeritz, Tschechoslowakei, zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde damals jedoch nicht vollstreckt, da Malloth aus dem Gefängnis entfloh und in seine Heimat, ins Südtirol zurückkehrte, das nach dem Zweiten Weltkrieg zu Italien gehörte. Aus bisher ungeklärten Gründen lieferte Italien ihn erst 1988 aus, ohne dass aber in der Folge Schritte unternommen worden wären, um ihn vor Gericht zu bringen, weder von der Tschechoslowakei (und später der Tschechischen Republik, auf dessen Territorium er seine Verbrechen begangen hatte), noch von seinem Heimatland Österreich oder von Deutschland, wohin er nach seiner Ausweisung aus Italien zog. Malloth erhielt nämlich Unterstützung von ehemaligen Nazis, insbesondere von der “Stillen Hilfe”, einer Organisation unter der Leitung von Heinrich Himmlers Tochter Gudrun Borowitz, die ihren Sitz in Deutschland hatte und Nazis juristisch, finanziell und moralisch zur Seite stand, wenn sie strafrechtlich verfolgt wurden oder bereits eine Gefängnisstrafe absassen. Mit dieser Unterstützung schaffte es Malloth, einen Platz in einem feinen Altersheim in München zu erhalten und, was viel wichtiger war, ein Gerichtsverfahren zu umgehen, obwohl seine Verbrechen wohl bekannt waren. Die Bemühungen des Journalisten Peter Finkelgruen, dessen jüdischer Grossvater von Malloth ermordet worden war, halfen dazu bei, dass die Untaten von Malloth weltweit publiziert wurden. Das Blatt wendete sich jedoch, als ein entschlossener junger Anwalt namens Konstantin Kuchenbauer den Fall übernahm, die Untersuchungen zu Ende führte und Anklage erhob. Zu diesem Zeitpunkt verschlechterte sich Malloths Gesundheitszustand, und es erübrigt sich darauf hinzuweisen, dass seine Verteidiger die Situation auszunutzen versuchten, um die Klage abzuwenden. Doch Kuchenbauer blieb hartnäckig und schliesslich wurde Malloth im Münchner Gefängnis, wo er inhaftiert worden war, vor Gericht gebracht. Trotz der Tatsache, dass der Prozess sich aufgrund des Gesundheitszustands von Malloth auf wenige Stunden pro Tag beschränkte, wurde er zu Ende geführt. Malloth erhielt am 30. Mai 2001 eine lebenslängliche Gefängnisstrafe. Das dritte Urteil richtete sich gegen Dr. Friedrich Engel, der als SD-Chef in Genua, Italien, diente und in Hamburg für die Erschiessung von 59 Menschen bei einer Vergeltungsaktion nach dem Angriff italienischer Partisanen auf deutsche Truppen verurteilt wurde. In Wirklichkeit war Engel während seiner Dienstzeit in Genua offensichtlich an der Ermordung zahlreicher anderer italienischer Zivilisten beteiligt gewesen, wurde letztlich aber nur für eine dieser Operationen angeklagt. Im Verlauf der langen Jahre, während denen sich die Untersuchung hinzog, plädierte er darauf, er habe nur Befehle ausgeführt und Hitler habe persönlich angeordnet, nach jedem Angriff auf Nazi-Truppen seien Zivilisten zu erschiessen. Erwartungsgemäss wurde eine derartige Verteidigung von den Richtern abgewiesen, die Engel am 5. Juni 2002 zu sieben Jahren Haftstrafe verurteilten. Angesichts seines hohen Alters (er war zum Zeitpunkt des Urteils 93 Jahre alt) wurde er aber nicht ins Gefängnis gesteckt. Zählt man den noch laufenden Prozess des holländischen SS-Mannes Hebertus Bikker und die im Januar 2004 erfolgte Verhaftung des slowakischen Nazi-Kollaborateurs Ladislav Niznansky (beide deutsche Staatsbürger mit Wohnsitz in Deutschland) wegen Mordes hinzu, wird klar, dass die deutschen Behörden immer noch aktiv Nazi-Kriegsverbrecher vor Gericht stellen, obwohl ich nicht daran zweifle, dass sie eigentlich mehr unternehmen könnten, um die Zahl der Prozesse zu erhöhen, die Untersuchungen zu beschleunigen und mehr Verurteilungen zu erreichen. Gleichzeitig muss gesagt werden, dass die in diesen Tagen in Deutschland vor Gericht gebrachten Fälle den konkreten Beweis dafür darstellen, dass in Berlin zumindest etwas politischer Wille vorhanden ist, derartige Verhandlungen zu führen. Ich habe das deutliche Gefühl, dass Deutschland diese Prozesse in den 50er, 60er oder sogar 70er Jahren des letzten Jahrhunderts nicht geführt hätte, als die Strafverfolgung von Nazis als weit problematischer galt und das Rechtssystem den Angeklagten gegenüber viel nachsichtiger eingestellt war als heute. In dieser Hinsicht hat Deutschland in der jüngsten Vergangenheit grosse Fortschritte gemacht und mehr für die Gerechtigkeit getan als viele andere Länder. Und obwohl es sicher zutrifft, dass es in Deutschland die meisten potentiellen Verdächtigen gibt, wurde doch auch der neue politische Wille zur Strafverfolgung gezeigt. Dadurch wird gewährleistet, dass die in Deutschland lebenden Nazi-Kriegsverbrecher sicher sein können, dass sie irgendwann für ihre Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden. Dies verkörpert einen kleinen, aber doch bemerkenswerten Erfolg für die Gerechtigkeit und einen symbolischen, wenn auch bescheidenen moralischen Sieg für die Opfer und ihre Familien. *Dr. Efraim Zuroff, Nazi-Jäger, Historiker, Schoah-Spezialist und Direktor des Jerusalemer Büros des Simon Wiesenthal Centers von Los Angeles. |