Das jüdische Museum Berlin
Von Roland S. Süssmann
Der Name «Jüdisches Museum Berlin» besitzt naturgemäss einen leicht makabren Klang, denn er setzt in gewisser Weise einen konkreten Schlusspunkt hinter die Geschichte der deutschen Juden. Natürlich gibt es auch heute noch Juden in Deutschland, doch die vielschichtige Entwicklung der deutschen Juden wurde von den Deutschen selbst und durch ihre Kollaboration mit den Nazis brutal unterbrochen. Ich habe in den vergangenen Jahren jüdische Museen überall auf der Welt besucht und dabei festgestellt, dass die jüdischen Museen oder die Museen «über die Juden» umso schöner, moderner, reicher, eindrücklicher und gelungener sind, je mehr sich eine Nation oder ein Volk in Bezug auf die Juden vorzuwerfen hat. Das Berliner Museum macht dabei keine Ausnahme und entspricht sowohl durch seine übermässige Grösse und komplexe Ausstattung als auch durch die Anzahl grundlegender Fehler und Unterlassungssünden betreffend unsere Religion, einen Teil unserer Geschichte und die jüdischen Traditionen genau diesem Schema.
Das Jüdische Museum Berlin erinnert daran, dass es vor dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland eine aussergewöhnliche jüdische Gemeinschaft gab, deren herausragendste Mitglieder wesentlich zum Aufschwung des Landes beitrugen. Es spricht auch die Tatsache an, dass jüdische Erfinder, Wissenschaftler, Industrielle, Künstler, Verleger, Händler und Bankiers auf höchstem Niveau ausgegrenzt, vertrieben oder ermordet wurden. Was aber bei der Schaffung und Errichtung eines derartigen Museums makaber anmutet, ist die Überzeugung der Gründer, man könne auf diese Art das Andenken einer dezimierten jüdischen Gemeinde angemessen würdigen. Dies ist natürlich nicht die offizielle Botschaft des Museums, doch dieser Gedanke ist auf quälende Weise in der gesamten Ausstellung vorherrschend. Ziel und Zweck des Jüdischen Museums Berlin lassen sich offiziell so zusammenfassen: «Es geht darum, aus der Vergangenheit zu lernen, zu verhindern, dass sich diese Gräueltaten wiederholen, und vor allem den jungen Leuten die Möglichkeit zu geben, die hier dargestellte Geschichte kennen zu lernen, damit das heutige Deutschland sich zu einer Gesellschaft entwickelt, die den hier lebenden Minderheiten toleranter gegenüber steht». Befremdlich wirkt in erster Linie, dass folgende, anscheinend eine wesentliche Botschaft in allen offiziellen Publikationen und Veröffentlichungen der Museumsdirektion betont wird: «Wir sind kein Museum über die Schoah».
Dennoch muss man zugeben, dass das Museum sich einer enormen Herausforderung gestellt hat, nämlich der Reduzierung der Geschichte des deutschen Judentums auf eine simple Ausstellung. Aus diesem Grund ist es ein Museum, das zwar in den sehr gut durchdachten Ausstellungen nur das Wesentliche präsentiert, aber dennoch völlig überladen ist mit Gegenständen, Dokumenten und Kommentaren, die nicht immer leicht zu verstehen… und zu verarbeiten sind. Eine gewisse Schwerfälligkeit, die dem deutschen Stil sowieso innewohnt, verstärkt zweifellos den Eindruck, den diese Form der Präsentation erweckt.
In diesem Sinne kommuniziert die Ausstellung des Museums, die auf drei Grundpfeilern aufgebaut ist, mit den Besuchern. Der erste Grundpfeiler soll die Geschichte der deutschen Juden in Erinnerung rufen und zeigen, dass ihre Präsenz auf deutschem Boden ins 3. Jahrhundert zurückreicht und dass sie bis zu ihrer Vernichtung durch die Nazis hier Höhen und Tiefen durchlebt haben. Man gelangt jedoch zur interessanten Feststellung, dass jeder Aspekt im Zusammenhang mit dem orthodoxen Judentum und der strengen Observanz der deutschen Juden vor dem Krieg auf ein striktes Minimum reduziert wurde oder gar nicht existent ist. Handelt es sich um eine bewusste Unterlassung, einen Irrtum oder einfach Ignoranz? Das zweite Hauptthema befasst sich mit der Erläuterung des jüdischen Lebens von der Beschneidung bis zum Tod. Der dritte Schwerpunkt der Ausstellung schliesslich ist der Schoah gewidmet.
Der erste Teil der Ausstellung, «Zweitausend Jahre Deutsch-Jüdische Geschichte», ist in vierzehn Abschnitte unterteilt, die der historischen Chronologie folgen. Die Präsenz der Juden wird nachgewiesen durch ein Edikt aus dem Jahr 321, das Kaiser Konstantin an den Magistraten der Region Köln richtete und das die in seiner Region lebenden Juden betraf. Es geht dann weiter mit dem Mittelalter, in dem die drei bedeutendsten Gemeinden - Speyer, Worms und Mainz - einen intellektuellen Aufschwung der Juden und einen sehr fruchtbaren und friedlichen Dialog zwischen Juden und Christen erlebten, bis zu dem Tag, als die Kreuzzüge auf ihrem Weg nach Jerusalem Tausende von Juden umbrachten. Die Ausstellung setzt sich durch die Jahrhunderte fort und wird bereichert durch persönliche Schicksale, wie z.B. dasjenige einer jüdischen Händlerin namens «Glikl», mit richtigem Namen Glückel von Hammel (1646-1724). Dieser Teil der Ausstellung ist bezeichnend für das gesamte Konzept des Museums. Mit Hilfe von verschiedenen interaktiven Stationen kann der Besucher nämlich Einblick nehmen in das Leben von «Glikl» und gleichzeitig erfahren, wie damals der Alltag der deutschen Juden und das Leben in der Gemeinde aussah. In dieser Form geht die Ausstellung weiter, von den Juden am Hof über Moses Mendelssohn bis zur Entwicklung der jüdischen Gemeinde angesichts des Aufkommens des reformierten Judentums, der erweiterten Rechte der Juden und der ihnen auferlegten Verbote, einschliesslich der Berufe, zu denen sie nicht zugelassen waren.
Der zweite Teil des Museums befasst sich auf recht oberflächliche Weise mit dem jüdischen Leben, stellt die wichtigsten Gesetze, Traditionen und Bräuche vor und enthält einige gravierende Fehler. So wird die Bar-Mitzwah beispielsweise durch ein Geschenk symbolisiert, und das Hinaufsteigen zur Torah wird als der wichtigste Moment dieser Feier beschrieben, obwohl dies das Anlegen der Tefillin ist! Diese Abteilung des Museums bietet dem grossen Besucherstrom eine knappe Übersicht über das Judentum. Man darf dabei nicht vergessen, dass das Museum sich nicht an ein spezialisiertes Publikum mit Vorwissen wendet, sondern in erster Linie an die breite deutsche Öffentlichkeit, insbesondere an die Jugend, die das Wort «Jude» automatisch mit «Auschwitz» in Verbindung bringt. Man wollte diesen Besuchern und vor allem den deutschen Jugendlichen im Allgemeinen und der Berliner Jugend im Besonderen beweisen, dass die Juden nicht nur Opfer der Deutschen waren, sondern dass sie über eine eigene Kultur und eine besondere Lebensweise verfügen. Darüber hinaus sollte betont werden, dass es schon vor 1933 ein jüdisches Leben in Deutschland gab.
Das letzte Kapitel befasst sich mit der Schoah. Es ist in Form eines Crescendos aufgebaut, wobei die interaktive Einführung sehr gut gelungen ist. Folgendes Beispiel veranschaulicht gut das Konzept dieses Teils der Ausstellung. Auf einem kleinen Bildschirm kann der Besucher mehr über die direkte Umsetzung der judenfeindlichen Gesetze von Nürnberg erfahren. Diese Gesetze werden als Multiple-Choice-Auswahl dargestellt. Drückt man nun auf das Dialogfeld betreffend den Ausschluss von jüdischen Rechtsanwälten oder Lehrern, erscheint ein Stadtplan von Berlin mit der farbigen Markierung aller Gerichte und Schulen. Klickt man mit dem Finger dieses oder jenes Gebäude an, erscheint ein erklärender Text mit zahlreichen Fotos aus der betreffenden Epoche. Der Besucher dringt so allmählich in das Grauen ein und erlangt langsam, aber nachdrücklich ein furchtbares Wissen.
Trotz einer didaktisch bemerkenswerten Präsentation ist das Museum jedoch gebrandmarkt durch einen widerwärtigen und Ekel erregenden Raum, der jeden normalen Menschen abstösst. Es handelt sich um den «Leerstelle des Gedenkens», ein Werk mit dem Titel «Gefallenes Laub», das – Gipfel der makabren Ironie – von einem israelischen Bildhauer namens Menashé Kadishman verwirklicht wurde (ein programmatischer Name, da das Kadisch ja das Totengebet ist???). Auf den ersten Blick befindet man sich einfach in einem leeren Raum aus Beton, der die Leere symbolisiert, den die Ermordung der Juden in Europa hinterlassen hat. Am Boden jedoch liegen 10'000 runde Metallstücke, die mit den gequälten Gesichtern gefolterter Menschen mit offenem Mund versehen sind. Männer, Frauen, Kinder und Greise, sie alle werden mit verzerrten Gesichtern der Menschen dargestellt, die in den Gaskammern gestorben sind. Der Blick auf dieses «Kunstwerk» erinnert an die Szenen, als die Tore der Gaskammern nach der Vernichtung der Juden durch die Deutschen geöffnet wurden. Schon der Anblick allein dieses Ortes ist widerwärtig, doch als ob dies noch nicht ausreichte, laden «der Künstler» und das Museum die Besucher ein, auf diesen Metallplättchen, auf diesen gequälten Gesichtern herumzugehen, kurz, das Andenken der ermordeten Juden mit Füssen zu treten. Und dies mitten in Berlin, der ehemaligen Hauptstadt des Dritten Reichs! Als man ihn nach der Bedeutung seines Werks befragte, soll Kadishman erklärt haben: «Meine Skulpturen erinnern schmerzlich an alle unschuldigen Opfer in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft».
Das Museum verfügt über ein hervorragendes Dokumentationszentrum, das Rafael Roth Learning Center, eine Art virtuelles Gedächtnis des Museums, wo die Besucher aller Altersgruppen aufgefordert werden, Nachforschungen über die Kultur und die Geschichte der deutschen Juden und das Judentum im Allgemeinen anzustellen. Dank 18 Computerstationen kann man sich, wenn man will, interaktiv über mehrere Jahrhunderte des jüdischen Lebens informieren. Ausserdem bietet ein sehr vollständiger Katalog umfangreiche Informationen über jedes Ausstellungsobjekt, zu denen in der Ausstellung selbst nur sehr kurze Angaben gemacht werden.
Eine Reportage über das «Jüdische Museum Berlin», das sich vor allem als Museum für den jüdischen Aspekt in der deutschen Geschichte sieht und keinesfalls eine Darstellung des Judentums anstrebt, wäre nicht vollständig, wenn man die Architektur unerwähnt liesse. Der berühmte Architekt Daniel Libeskind, der auch den Wettbewerb für den Wiederaufbau von Ground Zero in New York, dem Standort der von arabischen Terroristen zerstörten «Twin Towers» gewonnen hat, wurde von den Gründern des Museums, wobei die deutsche Regierung als Hauptakteurin auftritt, mit dem Bau dieser neuen Institution beauftragt. Die Einweihung fand am 9. September 2001 statt. Das Gebäude erinnert in seiner Form an einen Stein gewordenen Blitz und symbolisiert damit den für immer erstarrten Schmerz des jüdischen Volkes. Diese Aussage ist auch in den oft düsteren Korridoren zu finden, vor allem im Untergeschoss. Hier folgt der Besucher zunächst der Achse des Exils, die von Vitrinen gesäumt ist: es werden hier Gegenstände gezeigt, die einst vertriebenen Familien gehört haben. Danach besucht er den Garten des Exils (merkwürdig schräges und rutschiges Betongebilde) und die Strasse der Vernichtung (Ausstellungskästen erinnern an besonders tragische Schicksale), die zum Holocaust-Turm führt. Dabei handelt es sich um einen Raum aus kaltem, nacktem Beton, einen sehr hohen Turm mit Furcht einflössender Atmosphäre, den eine schwere Metalltür verschliesst. Über einige Ritzen dringen nur schmale Lichtstreifen herein und schaffen so einen frostigen Raum, in dem es einem kalt den Rücken hinab läuft. An diesem trostlosen Ort kann der Besucher das Gefühl der völligen Abgeschlossenheit und des Schreckens erahnen. Es weist alles darauf hin, dass der Planer hier vermitteln wollte, was man fühlt, wenn sich die Türen eines Eisenbahnwaggons oder einer Gaskammer hinter einem schliessen. Dazu muss betont werden, dass der sachkundige Durchschnittsbesucher den Sinn einer derartigen Installation nicht sehr gut versteht. Das Museum ist überdies so konstruiert, dass dieser Raum umgangen werden kann… Diese verschiedenen Gänge münden dennoch mit einer Ahnung von Optimismus in die «Achse der Kontinuität», die auf eine steile Treppe zuführt (es gibt auch einen Aufzug, der allerdings unzureichend beschildert ist). Diese Treppe steigt hinauf zu den eigentlichen Ausstellungsräumen. Hier steht der Besucher vor einer Reihe komplizierter Korridore, verschlungener Gänge, Linien, Flächen, unregelmässiger Wände, unerwarteter Winkel, labyrinthischer Wege und Abfolgen. Dies alles symbolisiert die Vielschichtigkeit und die enge Interdependenz zwischen der Geschichte Deutschlands und derjenigen der jüdischen Bevölkerung. Die Masse der Gegenstände wird etwas seelenlos präsentiert, ein wenig wie wissenschaftliche Beobachtungen. Dies rührt wahrscheinlich daher, dass der Verantwortliche der Ausstellung, der neuseeländische Anthropologe (bezeichnend für die Art und Weise, in der er seine Arbeit angepackt hat) Ken Gorbey kein Jude ist, über keinerlei jüdisches Einfühlungsvermögen verfügt und diese Ausstellung realisiert hat wie davor das Te Papa Museum in Wellington.
Auch wenn die Botschaft und gar die Identität des Museums letztendlich recht ambivalent sind, tritt doch eine sehr deutliche Erkenntnis nach einem Besuch an diesem Ort zutage, der auf den ersten Blick merkwürdig erscheinen mag und es doch wert ist, dass man sich mit ihm auseinandersetzt. Die gesamte Ausstellung des «Jüdischen Museums Berlin» zeigt nämlich eindeutig, dass die so aufrichtig geforderte Symbiose zwischen Judentum und Christentum zum Scheitern verurteilt war, wie es auch jede andere Form der Assimilierung ist und war. Deutschland, diese Nation, wo die jüdische Gesellschaft so assimiliert sein wollte und wo die Integration auf Kosten der jüdischen Traditionen und Werte so stark und verbreitet war, hat Auschwitz erfunden. Als man ihm 1933 verbieten wollte zu arbeiten und auszustellen, erklärte der völlig assimilierte berühmte deutsch-jüdische Maler Max Liebermann: «Obwohl es für mich sehr hart war, bin ich doch aus meinem Traum von der Assimilierung aufgewacht».
Das «Jüdische Museum Berlin», das sich unter keinen Umständen als Ort der Erinnerung an die deutschen Verbrechen gegenüber dem jüdischen Volk versteht (der Pressesprecher setzte mir klar auseinander: «Wir sind kein Holocaustmuseum»), dient letzten Endes den Interessen des heutigen Deutschlands, das alles unternimmt, um von der zivilisierten Welt als ein Land akzeptiert zu werden, in dem eine durch und durch demokratische Gesellschaft und ein liberaler Staat existieren, kurz eine Nation, die sich das moralische Recht zurück erworben hat ihre Stimme gegen den Rassismus, für religiöse Toleranz und für die Rechte der Minderheiten zu erheben. Deutschland hat heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, seine Position als moralische Autorität unter den Nationen nämlich noch nicht erlangt. Dieses Museum wird ihm bei seiner Rehabilitation keineswegs helfen, so wie auch die Tatsache, dass heute hunderttausend Juden in Deutschland leben, nichts dazu beitragen wird, dem deutschen Judentum zu neuem Leben zu verhelfen.
Bis heute haben über 1,5 Millionen Menschen das «Jüdische Museum Berlin» besucht, unter ihnen die meisten Schüler von Berlin.
Es ist ein Museum «über die Juden», und nicht ein jüdisches Museum, so wie es auch einen bestimmten Humor «über die Juden» gibt, der nichts gemein hat mit dem jüdischen Humor… Übrig bleibt ein bitterer Nachgeschmack. Diese Institution ist einen Besuch wert, doch macht eine Reise nach Berlin speziell zu diesem Zweck nicht notwendig.

Encadré
«Jüdisches Museum Berlin»
Lindenstrasse 9-14
Öffnungszeiten: täglich von 10 – 20 Uhr, montags von 10 – 22 Uhr.
Offen am Schabbat und an jüdischen Feiertagen, ausser am Tag von Jom Kippur.
Das Restaurant ist nicht koscher.
Das Museum veranstaltet regelmässig wechselnde Ausstellungen.
Weitere Auskünfte: www.jmberlin.de