Beit Midrsasch d’Berlin | |
Von Roland S. Süssmann | |
«Ein Geschenk für zukünftige Generationen». Mit diesen Worten beschrieb Paul Spiegel, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland (Dachorganisation der jüdischen Gemeinden Deutschlands) das «Lauder Jüdisches Lehrhaus» in Berlin anlässlich der Einweihungsfeier am 10. Oktober 1999. Der hebräische Name dieser Institution lautet «Beit Midrasch d’Berlin» - Studienzentrum von Berlin. Doch wer besucht diese Einrichtung und was studiert man dort? In diesem Zentrum werden nicht nur jüdische Studien betrieben, sondern man befasst sich auch mit dem jüdischen Leben; es befindet sich in den Räumlichkeiten der früheren religiösen jüdischen Schule der israelitischen Gemeinde von Berlin, die 1941 von den Deutschen geschlossen wurde: alle Schüler und Lehrer wurden in die Vernichtungslager deportiert. Das Gebäude ist Teil eines Komplexes, in dem auch die berühmte Synagoge der Rykestrasse liegt, eine der beiden Synagogen von Berlin, welche die Kristallnacht unbeschadet überlebt haben. Die Institution umfasst insbesondere eine Vollzeit-Jeschiwah, zu der ein Ausbildungszentrum für Lehrer, ein Bildungsprogramm für Erwachsene, Büros, Klassenzimmer, ein Schlafsaal für Studierende (16 bis 22 Betten), ein streng koscherer Speisesaal und eine kleine Wohnung gehören, die ausländischen Gastdozenten zur Verfügung gestellt wird. Diese neue Schule muss mit einem der grössten praktischen Probleme fertig werden, mit dem die jüdische Gemeinschaft Deutschlands konfrontiert ist, die europaweit am schnellsten wachsende jüdische Gemeinde: mit dem Lehrer- und Rabbinermangel. Diese Situation ist in den kleinen Städten besonders besorgniserregend, in denen es weder Rabbiner, noch Lehrer, noch irgendeine Form der jüdischen Bildung gibt. Es ist die erste Jeschiwah, die in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Tore geöffnet hat, und junge Erwachsene aus dem ganzen Land - sowohl aus den grossen Zentren als auch aus den kleineren Städten wie Aachen, Osnabrück, Schwerin - kommen zum Studium hierher. Neben den eigentlichen jüdischen Fächern lernen diese Studenten auch, wie das religiöse Leben einer Gemeinde geleitet wird. Ziel dieser Ausbildung ist es, diesen jungen geistlichen Führern die Fähigkeiten zu verleihen, eine positive Rolle in der Entwicklung des jüdischen Lebens überall in Deutschland zu übernehmen. Dies ist vor allem in den kleineren Ortschaften von Bedeutung, die weit entfernt von den jüdischen Infrastrukturen der grossen Zentren liegen. In Rostock beispielsweise hat die Stadt der jüdischen 400-Seelen-Gemeinde ein Gebäude überlassen, damit sie sich dort eine Synagoge und ein Gemeindezentrum einrichten kann, auch wenn kein einziger Jude dieser Stadt auch nur ein Wort Hebräisch spricht. Wie sieht die Zukunft einer solchen Gemeinde aus? Was bietet man den Juden dieser Stadt, damit sie ihr Judentum im Alltag leben und ihre jüdische Identität vertiefen können? Rein gar nichts. Für genau diese Situationen bildet das Beit Midrasch von Berlin junge Leader für die Gemeinden aus. Die Studenten sind in kleine Gruppen eingeteilt, so dass sie sozusagen eine massgeschneiderte Ausbildung geniessen. Die von ansässigen Lehrern oder Gastdozenten erteilten Kurse befassen sich im Allgemeinen mit dem Talmud, der Bibel, der jüdischen Gesetzgebung (Halachah), mit Hebräisch und jüdischer Philosophie. Mit der Zeit sind die Schüler in der Lage, die Texte, die biblischen Exegeten und den Talmud selbstständig zu studieren. Am Ende ihrer Ausbildung haben sie ein ausreichendes Wissen erworben, um die Grundlagen des Judentums und ihre Bedeutung an ihre Glaubensbrüder weiterzugeben. Betrachten wir nun den Aufbau etwas genauer: das Beit Midrasch d’Berlin bietet drei verschiedene Unterrichtsniveaus an. Es gibt zunächst die Vollzeit-Jeschiwah, die ein Jahr dauert und von jungen Leuten besucht wird, die eine Matura oder einen entsprechenden Schulabschluss besitzen. Neben einer Grundausbildung, zu der auch das Studium der hebräischen Sprache gehört, lernen sie auch, wie man einen Gottesdienst hält, wie Programme für Kinder und Jugendliche aufgebaut werden, wie man Studiergruppen für Erwachsene organisiert und leitet. Sie erlangen ihre praktische Ausbildung, indem sie an Gemeindeprojekten in Berlin selbst teilnehmen. Am Ende des Jahres werden die Studenten ermutigt, sich an einer Berliner Universität zu immatrikulieren, und wenn sie aufgenommen werden, gibt ihnen das Beit Midrasch die Möglichkeit, als Interne in ihrem Institut zu bleiben. Dadurch sind sie in der Lage, parallel zu ihrem akademischen Studium ihr jüdisches Wissen zu vertiefen. Die Kombination von universitärer und judaistischer Ausbildung erfordert einen extrem intensiven Einsatz, und es hat sich gezeigt, dass nur wenige Studenten zu diesem Kraftakt fähig sind. Das zweite Programm mit dem Titel «Itim l’Torah», was übersetzt etwa «Zeit für die Torah» heisst, ist für externe Studierende und Schüler bestimmt, die einen Teil ihrer Zeit dem Studium des Judentums widmen möchten. Das Zentrum organisiert für sie einmal pro Monat ein intensives Lernwochenende, das am Freitagnachmittag beginnt und am Sonntagabend zu Ende geht. Sie haben Hausarbeiten zu erledigen und stehen in der Zeitspanne zwischen den Seminaren in ständigem telefonischem Kontakt zu den Lehrern am Beit Midrasch. Und schliesslich richtet sich ein drittes Programm an die Schüler, die nach dem Schulunterricht und ihren Hausaufgaben täglich Kurse in Judaistik besuchen wollen, die speziell auf sie zugeschnitten sind. Einige Internatsplätze sind auch für die aus kleinen Gemeinden stammenden Schüler der jüdischen Schule von Berlin reserviert, die ihre normale Schulpflicht absolvieren und nebenbei am Beit Midrasch ein Programm für Judaistik belegen. Der Direktor des Instituts besucht alle kleinen jüdischen Gemeinden in Deutschland und wählt die jungen Leute aus, welche die Fähigkeiten besitzen, zu geistlichen Führern ihrer Gemeinde zu werden. Darüber hinaus veranstaltet das Beit Midrasch Schabbatoth in den kleinen Gemeinden im ehemaligen Ostdeutschland. In einer lebhaften Diskussion vertraute uns Rabbi JOSHUA SPINNER, der das Beit Midrasch mit viel Tatkraft und Know-how leitet, Folgendes an: «Man fragt uns oft, weshalb wir uns in Deutschland niedergelassen haben und warum wir uns nicht damit begnügen, unsere Schüler zum Studium nach Israel zu schicken. Die Antwort ist ganz einfach: heute leben ca. 100'000 Juden in Deutschland und viele Juden aus der GUS könnten in Zukunft noch hierher ziehen. Wie sollen wir, die wir das Privileg besitzen, das Wissen, die Kenntnisse und die finanziellen Mittel zu besitzen, unserer Verantwortung gerecht werden, ihnen eine jüdische Ausbildung anzubieten? Bevor wir unsere Tore öffneten, gab es kein einziges Zentrum dieser Art in Deutschland und in ganz Osteuropa. Gegenwärtig, d.h. im vierten akademischen Jahr seit der Gründung unseres Zentrums, stammen zwei unserer Schüler aus Budapest, einer aus Minsk und einer aus Kischinew; ich denke, dass dieser Trend zur Internationalisierung sich immer weiter fortsetzen wird.» Es ist interessant zu beobachten, mit welcher Einstellung diese Institution vorgeht. Es begnügt sich nämlich nicht damit, geistliche Leader auszubilden, sondern vermittelt jungen Juden, die morgen in ihre Gemeinden zurückkehren, genügend Wissen, so dass sie in der Lage sind, ein jüdisches Leben einzuführen, auch wenn die Gemeinde zu klein ist, um eine volle Stelle für einen Rabbiner anbieten zu können. Zahlreiche heutige Schüler werden Berufe ergreifen, die nichts mit der Vermittlung des Judentums zu tun haben, wären jedoch trotzdem befähigt, einen Gottesdienst zu halten, Kurse zu geben, die Jugend zu motivieren usw. Es ist eine Tatsache, dass man immer einen Rabbiner oder einen geistlichen Führer finden und einreisen lassen kann, dass es aber unmöglich ist Juden zu «importieren», die über ausreichende Kenntnisse des Judentums verfügen, um ein jüdisches Leben an einem Ort in Gang zu setzen, wo es keine Rabbiner und Lehrer gibt. Und diese Art von Leader bildet das Beit Midrasch d’Berlin aus: Männer, die nach den Grundprinzipien des Judentums leben möchten und die über ausreichend Wissen verfügen, um diese Grundsätze weiter zu geben und dabei als Vorbild voranzugehen. Sie müssen auch bereit sein, Zeit und Energie zu investieren, damit den Mitgliedern der kleinen Gemeinden immer ein Mindestmass an jüdischem Leben und jüdischer Ausbildung zur Verfügung steht. Natürlich: «Ein Geschenk für zukünftige Generationen», sagte Paul Spiegel. In Wirklichkeit handelt sich bereits um ein Geschenk für die heutige Generation. Die Tätigkeit des Beit Midrasch bietet nicht nur den kleinen Gemeinden eine Überlebenschance, indem es die Ausbildung fähiger Männer für sie übernimmt, sondern verkörpert ebenfalls eine Form des Kampfes gegen die Versuche der Missionare, die im Bewusstsein um die Situation dieser Gemeinden auf diese zugehen und ihr Konvertierungs¬werk durchzuführen versuchen. (Reportage Fotos: Bethsabée Süssmann) |