Eine riesige Herausforderung
Von Roland S. Süssmann
Die Liste der jüdischen Organisationen, die in Berlin aktiv sind, umfasst zwei dicht beschriebene A4-Seiten. Dazu gehören die Verwaltungsstellen der Gemeinde, die sieben Synagogen, die drei Friedhöfe, darunter derjenige von Weissensee, der grösste in Europa, die jüdischen Schulen, koschere und nichtkoschere jüdische Restaurants, jüdische Organisationen wie z.B. WIZO, Keren Hayessod usw., sowie eine eindrückliche Liste von Clubs und Aktivitäten, die von der Loge Janusz-Korzcak über die jüdische Studentenverbindung bis zum Bne-Brit und zum Jüdischen Kulturverein Berlin reichen. Dies alles lässt den Schluss zu, dass Berlin eine äusserst aktive und dynamische Gemeinschaft sein muss. Um uns von dieser Gemeinschaft ein genaueres Bild zu machen und zu erfahren, ob der erste Eindruck wirklich den Tatsachen entspricht, haben wir Grossrabbiner ITZCHAK EHRENBERG getroffen, der erst seit sechs Jahren in Berlin tätig ist, jedoch sehr gut über das jüdische Leben im deutschsprachigen Raum Bescheid weiss, da er sechs Jahre lang in Wien und sieben Jahre lang in München gearbeitet hat. Somit hat er die gesamte Entwicklung der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland aus nächster Nähe mitverfolgt.

Wie definieren Sie das, was gemeinhin das «jüdische Leben in Deutschland» genannt wird im Allgemeinen und im Fall von Berlin im Besonderen?

Es ist heute sehr einfach ein ganzheitliches jüdisches Leben in Deutschland zu führen, jedenfalls in den grossen Zentren. In Berlin verfügen wir über eine vollständige Infrastruktur, das rituelle Schächten ist erlaubt und alle Etappen im Leben eines Juden sind gewährleistet, von der Beschneidung bis zur Bestattung. Darüber hinaus steht es jedem frei, sich für eine Ausübungsform seines Glaubens zu entscheiden, da sowohl eine traditionelle Gemeinde vorhanden ist, für die ich verantwortlich bin, als auch eine liberale Gemeinde. Das gesamte Spektrum des jüdischen Gemeindelebens, wie man es auf der ganzen Welt vorfindet, existiert heute auch bei uns. Es ist jedoch ein Ding der Unmöglichkeit, das jüdische Leben in Berlin mit demjenigen von New York oder Paris zu vergleichen. Es stimmt, dass wir recht zahlreich sind, doch wir sind auch eine verzettelte Gemeinschaft, die sich grösstenteils aus neuen Einwanderern aus der UdSSR zusammensetzt, die noch nach ihrer jüdischen Identität suchen. Die moderne Orthodoxie ist nicht wirklich als fest etablierte Gruppe zu bezeichnen, was uns zu einer Gesellschaft macht, deren Mehrheit eigentlich nicht wirklich gläubig ist. Ich stelle aber fest, dass die jüdische Gemeinschaft von Berlin insgesamt auf religiöser Ebene ganz deutlich zu einer Verstärkung der effektiv gelebten Gläubigkeit tendiert, die über den einfachen Besuch des Gottesdienstes hinausgeht.

Wie erklären Sie sich dieses Phänomen?

Diese Situation ist in der Tat recht interessant und auch überraschend. Ich glaube, dass diese Männer und Frauen, die in einem kompletten Atheismus aufgewachsen sind und nun regelmässig an Gottesdiensten, an einem Mischnah- oder Talmudkurs teilnehmen, ihrem Leben einen neuen Sinn zu geben versuchen. Wir erleben damit ganz bestimmt eine direkte göttliche Intervention, denn alle diese Menschen erfahren sowohl individuell als auch im Kollektiv eine eigentliche Wiederauferstehung ihrer jüdischen Identität. Ich begegne immer wieder assimilierten Familien, die ihre Küche koscher machen möchten, die für ihre Kinder nach einer jüdischen Schule suchen usw. In diesem Zusammenhang möchte ich auf die interessante Tatsache hinweisen, dass ich regelmässig religiöse Trauungen von russischen Juden durchführe, die ihr gesamtes Leben gemeinsam verbracht haben, einzig verbunden durch eine zivile Eheschliessung. Eine weitere Realität prägt die russische Gemeinschaft, nämlich die Art und Weise, wie ihre Mitglieder ihre Verbundenheit mit dem Judentum bezeugen. Bei einem Familienfest oder einer Hochzeit kommt es vor, dass das Essen nicht koscher ist, auch wenn die Dekoration ausschliesslich aus Davidssternen und jüdischen Symbolen besteht, die grosszügig über den Saal verteilt sind. Man muss sich klar machen, dass sich diese Juden aus wirtschaftlichen Gründen in Deutschland niederlassen und nicht, weil sie hier das Judentum entdecken möchten; dies geschieht dann merkwürdigerweise unabhängig von ihren ursprünglichen Absichten.

Deutschland bemüht sich sehr, jüdische Einwanderer anzuziehen. Die Unterstützung, die ihnen angeboten wird, beträgt das Fünffache dessen, was eine jüdische Familie bei ihrer Niederlassung in Israel bekommt. Welche Motive lösen Ihrer Ansicht nach in den Deutschen den Wunsch aus, Juden zur Niederlassung zu bewegen?

Ich glaube, es gibt zwei Hauptgründe dafür. Zunächst ist da die Tatsache, dass die menschlichen und intellektuellen Eigenschaften dieser Immigranten ausgezeichnet sind, sie kompensieren in gewisser Weise die Präsenz der Türken im Land. Die deutsche Regierung ist wohl zu Recht der Ansicht, dass eine jüdische Präsenz zum Aufschwung des Landes beitragen wird, sowohl auf wirtschaftlicher als auch auf kultureller Ebene. Andererseits, und dies mag auf den ersten Blick seltsam erscheinen, möchten die Deutschen die Gemeinden wiederherstellen, die in der Schoah vernichtet wurden. Und schliesslich steckt auch politisches Kalkül dahinter: man will dem Rest der Welt beweisen, insbesondere den USA, dass die Schoah endgültig vorbei ist, dass Deutschland eine sehr positive Einstellung gegenüber den Juden einnimmt und dass es «juden¬freundlich» ist, wie man so schön sagt. Ich weiss nicht, ob Schuldgefühle oder Bedauern dahinter steckt, doch es trifft zu, dass einige Gemeinden Juden aufgefordert haben, sich in ihnen niederzulassen, und alles unternommen haben, um ihre Ansiedlung zu erleichtern, indem man ihnen die Infrastruktur einer Gemeinschaft zur Verfügung stellte. Ich denke dabei beispielsweise an Frankfurt an der Oder, eine Kleinstadt, die 60 km von Berlin entfernt an der polnischen Grenze liegt, wo der Bürgermeister 1000 Juden «wieder angesiedelt» hat.
Es ist mir natürlich nicht bekannt, ob dieses Unterfangen langfristig erfolgreich sein wird angesichts des wieder aufkeimenden Antisemitismus (eine im vergangenen November in der Wochenzeitschrift Stern erschienene Untersuchung hat ergeben, dass jeder fünfte Deutsche sich als Antisemit bezeichnet), und ob in zwei oder drei Generationen in Deutschland überhaupt noch Juden leben werden. Momentan stehen wir allerdings aufgrund der Zahlen in Europa an dritter Stelle der jüdischen Gemeinden.

Wie beurteilen Sie den Grad der Assmilierung und die Zahl der gemischten Ehen?

Die erste Immigrantengeneration bestand aus polnischen Juden, die unter den Deutschen furchtbar gelitten hatten. Es kam für ihre Kinder überhaupt nicht in Frage, eine gemischte Ehe einzugehen, und zwar nicht aus religiösen Gründen, sondern weil es undenkbar war, den Eltern ein derartiges Leid zuzufügen. Der Gedanke, junge Juden könnten den Lebensbund mit deutschen Partnern eingehen und Kinder von deutschem Blut zeugen, war ganz einfach unerträglich. Dieses Problem ist auch heute noch aktuell, doch da die Generation der Schoah allmählich ausstirbt, beginnt man sich mit der Idee einer gemischten Ehe zwischen Juden und Deutschen anzufreunden. Es gibt zu diesem Aspekt keine eigentliche Statistik, denn von den 12'000 bis 13'000 Juden, die in Berlin leben, steht eine grosse Zahl nicht in Kontakt mit uns. Dieses Phänomen ist in den grossen Städten viel weniger auffällig als in der Provinz, wo sich die Juden recht schnell in die lokale Gesellschaft integrieren und das Bisschen jüdische Identität verlieren, das sie noch besassen.
Die gegenwärtigen Ereignisse in Deutschland sind Teil des Wunders um unser Überleben. Gemäss unserer Überlieferung sind wir ein Lamm, das von 70 Wölfen umringt ist, so dass unsere Aussichten auf Fortbestand sehr gering sind. Doch nach 2000 Jahren des Überlebens ohne eigenen Staat, ständig von Verfolgungen und Pogromen bedroht, lange vor der Schoah auch hier in Deutschland – ich denke da besonders an Worms vor 800 Jahren –, sind wir immer noch präsent, stark und dynamisch und besitzen trotz aller Schwierigkeiten einen phantastischen Staat. In diesem Sinne engagiere ich mich auch für alle meine erzieherischen Ziele und meine Arbeit. Meine grössten Anstrengungen gelten der Jugend. Die Fortschritte erfolgen nur langsam, aber auf Dauer kann ich die Ergebnisse meiner Bemühungen erkennen, die nicht immer sofort sichtbar sind. Bei dieser Arbeit werde ich von der Gesamtheit der orthodoxen Rabbiner des Landes unterstützt. Wir haben eine Vereinigung des orthodoxen Rabbinats der Bundesrepublik geschaffen, denn wir sind uns der unglaublichen Herausforderung bewusst, vor der wir stehen. Wir können es uns nicht erlauben, dass die russischen Juden, die ihre jüdische Identität unter dem Kommunismus behalten hatten, sie nun durch die Assimilierung in Deutschland verlieren. Zur besseren Verbreitung des Judentums besitzen wir ein anderthalbstündiges Fernsehprogramm, das am Sonntag ausgestrahlt und am Mittwoch wiederholt wird.

Pflegen Sie Beziehungen zu den Kirchen der Stadt?

Wir haben regelmässige Kontakte und ich halte häufig Vorträge in den katholischen oder protestantischen Gemeindezentren. Ich lehne es ab, in den Kirchen zu sprechen oder an ökumenischen Gottesdiensten teilzunehmen. Von Zeit zu Zeit kooperieren wir auch auf politischer Ebene, doch dies geschieht nur, wenn es die Situation erfordert. Schliesslich sind wir keine Politiker. Ich habe versucht, Kontakte zu den muslimischen Geistlichen zu knüpfen, doch bis heute sind meine Anstrengungen fruchtlos geblieben.

Wie sehen Ihre Kontakt zur liberalen Gemeinde aus?

In Berlin existieren die orthodoxe und die liberale Synagoge unter derselben Gesamtbezeichnung «Jüdische Gemeinde zu Berlin». Ich persönlich respektiere die liberale Synagoge, wo Orgel gespielt wird, wo die Gottesdienste per Mikrofon gehalten werden und wo der gesamte Ansatz demjenigen des reformierten Judentums entspricht, doch ich akzeptiere sie nicht, vor allem in Bezug auf die Konvertierungen, die sie in grosser Zahl durchführt. Wenn jemand, dessen Mutter durch die liberale Synagoge konvertiert wurde, eine Bar-Mitzwah oder eine Trauung abhalten möchte, kann diese Feier natürlich nicht bei uns stattfinden.
Grundsätzlich beunruhigen mich die Aktivitäten der liberalen Gemeinde kaum, meine echte Sorge, die meine Zuversicht belastet, betrifft die Tausenden von Juden, die in Berlin leben und die sich weder um ihre jüdische Identität noch um das Judentum scheren. In meinen Augen unternimmt der Jude, der die liberale Synagoge aufsucht, einen positiven Schritt, da er sich daran erinnert, dass es eine Synagoge gibt, und sich von ihr berühren lässt. Sein Gang zu dieser Synagoge lässt die Hoffnung aufkeimen, dass er irgendwann in meine Synagoge kommen und sich einer traditionelleren, ja sogar orthodoxeren Ausübungsform seines Judentums zuwenden wird. Was ist aber mit demjenigen, der nirgendwo hingeht? Er verkörpert unsere grösste Herausforderung und unsere wichtigste Verantwortung!

(Reportage Fotos: Bethsabée Süssmann)