Krav Maga
Von Roland S. Süssmann
In Paris verkündet der jüdische Rundfunk: «Ein 11-jähriger Junge, der eine Kippah trug, wurde auf der Strasse von jungen Maghrebinern attackiert. Er konnte seine Angreifer in die Flucht schlagen…». Übersetzung: eine Gruppe von jungen Arabern hat ein Kind auf feige Weise nur deswegen angegriffen, weil es die Kippah trug, das äussere Zeichen für seine Zugehörigkeit zum Judentum und seine Verbundenheit mit Israel. «Er konnte seine Angreifer in die Flucht schlagen» bedeutet im Klartext, dass dieser Junge einen Selbstverteidigungskurs absolviert hatte, dank dem er nicht zusammengeschlagen wurde und eventuell für den Rest seines Lebens behindert geblieben oder gar zu Tode geprügelt worden wäre.
Derartige brutale antisemitische Vorfälle häufen sich nicht nur in Frankreich, sie treten überall in Europa immer öfter auf, und immer mehr junge Juden, Jungen und Mädchen, werden auf der Strasse, in öffentlichen Verkehrsmitteln oder in der Schule attackiert. Obschon dies in der Schweiz gegenwärtig etwas seltener zutrifft, macht das Land doch keine Ausnahme in dieser neuen Flut judenfeindlicher Gewalt. Was kann man, muss man angesichts dieser Besorgnis erregenden Realität unternehmen? Eine einzige Reaktion drängt sich als die richtige auf: die Juden müssen in Selbstverteidigung und in KRAV MAGA (auf Hebräisch: Nahkampf) ausgebildet werden.
Worum geht es genau? Es handelt sich - Ironie der Geschichte - um eine Kampf- und Verteidigungstechnik, deren Wurzeln in der Bekämpfung des Antisemitismus liegen. Bevor wir näher auf diesen Sport eingehen und den dahinter stehenden Geist zu verstehen versuchen, möchten wir auf seine Geschichte zurückblicken. Der Erfinder, Imi Lichtenfeld (der später seinen Namen in Sdé-Or hebraisierte), wurde 1910 in Budapest geboren und wuchs in Bratislava in einer Familie auf, in der Sport eine wichtige Rolle spielte. Sein Vater Samuel trat im Alter von 13 Jahren einem Wanderzirkus bei, wo er in verschiedene Sportarten eingeführt wurde, darunter auch in mehrere Kampfsportarten. Seit seiner frühesten Jugend lernte Imi, vom Vater dazu ermutigt, diverse Sportarten und tat sich sehr bald im Schwimmen, im Ringkampf und im Boxen hervor. 1928 gewann er die nationalen Juniorenmeisterschaften im Ringen in der Slowakei und 1929 siegte er bei den Landeswettkämpfen für Leicht- und Mittelgewicht und bei internationalen Box- und Gymnastikmeisterschaften. Im Laufe des folgenden Jahrzehnts konzentrierte sich Imi bei seiner sportlichen Betätigung in erster Linie auf den Ringkampf, wobei er sowohl als Athlet als auch als Trainer aktiv war.
Gegen Mitte der 1930er Jahre kam es immer häufiger zu antisemitischen Vorfällen und pro-nazistische Faschistengruppen begannen regelmässig die jüdische Bevölkerung der Stadt anzugreifen. Sehr schnell erhielt Imi den Übernamen «König ohne Krone», denn mit seiner Erfahrung im Ringen, Boxen und Gewichtheben wurde er automatisch zum Ausbildner für jüdische Selbstverteidigungsgruppen. Diese hinderten immer wieder die jungen slowakischen Faschisten daran, in die jüdischen Viertel einzudringen. Zwischen 1936 und 1940 nahm Imi an zahlreichen gewalttätigen Aktionen teil, immer mit dem Ziel, die jüdische Bevölkerung so gut wie möglich zu schützen. Doch da er zum erklärten Feind der Antisemiten geworden war, musste er 1940 aus Bratislava fliehen. Er verliess seine Familie und seine Freunde und nahm das letzte Immigrantenschiff, dem es gelang, die Linien der Nazis zu durchbrechen, die Pentcho, einen alten Flusskahn. So begann eine zweijährige, endlos lange Odyssee, die in Israel endete. 1944 begann Imi hier Elite-Einheiten und die Spezial-Streitkräfte der Haganah und des Palmach zu trainieren, und zwar in den Bereichen, in denen er ein Experte war: Schwimmen, Kampf mit dem Messer, Verteidigung gegen Waffenangriffe usw.
Nach der Staatsgründung im Jahr 1948 wurde Imi zum Hauptinstruktor der neuen israelischen Armee für Nahkampf und verschiedene Kampfformen. Seit seiner Erschaffung wurde der junge jüdische Staat von den arabischen Ländern angegriffen. Wegen der geringen Zahl von Soldaten und aufgrund der Dringlichkeit bildete die Armee ihre Leute während nur sechs Monaten aus, bevor sie sie an die Front schickte. Einige wurden rekrutiert und ohne vorherige Ausbildung sofort ins Gefecht geschickt. Die Soldaten brauchten folglich eine sinnvolle Nahkampfmethode, die rasch vermittelt und erlernt werden konnte und darüber hinaus auch effizient war. Imi Lichtenfeld, der sich als Kämpfer bereits einen weit verbreiteten Ruf erworben hatte, wurde mit dieser Aufgabe betraut. So entstand Krav Maga. Imi diente zwanzig Jahre lang in der Armee und entwickelte und verbesserte in dieser Zeit ständig eine weltweit einzigartige Selbstverteidigungs- und Nahkampfmethode, die noch heute als das offizielle System von Tsahal, der Sicherheitskräfte, der Armeepolizei, der nationalen Polizei und der Anti-Terror-Spezialeinheiten gilt.
Nach seinem Austritt aus der Armee passte Imi den Krav Maga militärischen Zuschnitts an die Bedürfnisse der zivilen Gewalt an. Er entwickelte eine Methode, die allen zusagte, Männern, Frauen und Kindern, so dass jeder einzelne im Notfall in der Lage war, sein Leben zu retten, ohne dabei persönlich Schaden zu nehmen. Dabei waren die Motive der Angreifer nebensächlich, sie mochten krimineller oder nationalistischer Natur sein. Im Gegensatz zu dem, was man annehmen könnte, war Imi Lichtenfeld kein «Muskelprotz», sondern ganz einfach ein ausgezeichneter, phantasievoller Sportlehrer, der Gewalt vermied und in hohem Ausmass zur Förderung der individuellen Sicherheit in Israel beigetragen hat, was in gewissem Sinne ebenso wichtig ist wie die Erarbeitung neuer Militärtechnologien.
Um über die verschiedenen Aspekte von Krav Maga genau informiert zu werden, haben wir in Genf ein Treffen mit Philippe Kaddouch, dem Chefinstruktor der internationalen Krav-Maga-Schule für die Schweiz, Frankreich, Italien und Belgien, vereinbart. Kaddouch vertritt diese vier Länder ausserdem beim Internationalen Krav-Maga-Verband. Er war Instruktor und später Chefinstruktor für alle Elite-Einheiten der israelischen Armee, wo er über 400 Instruktoren ausgebildet hat.

Können Sie uns Krav Maga kurz vorstellen?

Es ist ein Kampfsport, der hauptsächlich zwei Aspekte umfasst: Selbst¬verteidigung und Nahkampf. Das System eignet sich für jedermann, da nicht nur jeder das Recht auf Verteidigung besitzt, sondern sich jeder mit Krav Maga auch selbst verteidigen kann, sei er nun bei bester Gesundheit, im Rollstuhl oder nur im Besitz eines Armes oder eines Beines. Wenn ich sage, dass «jeder das Recht auf Verteidigung besitzt», schliesse ich natürlich irgendwelches Gesindel und unsere Feinde aus. Vergessen wir nicht, dass es ein israelisches System ist und dass folglich die Angehörigen anderer Nationen, die uns gefährlich werden könnten, nicht von uns ausgebildet werden.
Der Krav Maga unterscheidet sich vollkommen von allen anderen Kampfsportarten. Das System beruht auf logischen Prinzipien und auf dem Einsatz natürlicher Reflexe und Instinkte. Es ist eine Form von Konditionierung. Daraus ergibt sich, dass jemand, der ein hohes Niveau in irgendeiner Kampfart erreicht hat, von Grund auf umgepolt werden muss, um Krav Maga sinnvoll und effizient einsetzen zu können. Unser Ziel besteht darin, Lösungen für Menschen anzubieten, die vielleicht durch einen Angriff traumatisiert wurden und sich nicht verteidigen können. Die Tatsache, Schläge einstecken und abwehren zu können, wenn man darauf gefasst ist, stellt praktisch keine Gefahr dar. Das Risiko ist jedoch vorhanden und zudem recht hoch, wenn man überrascht wird. Hier liegt letztendlich der grundlegende Unterschied zwischen Krav Maga und den anderen Kampfsportarten, die eigentlich keine Selbstverteidigungs¬methoden sind, sondern eher eine Sportart, in der zwei Athleten miteinander wetteifern. Krav Maga ist hingegen eine Form der Verteidigung, die sich ständig verändert und immer wieder angepasst wird, da die Gewalt auf der Strasse sich sehr rasch weiterentwickelt und immer neue Formen annimmt. Glücklicherweise haben wir immer eine Länge Vorsprung auf die Angreifer, denn unser System beruht zugleich auf mathematischen und physikalischen Grundsätzen, so dass wir die Gefahr immer einschätzen und präventiv handeln können. Daher gibt es im Krav Maga keine Wettkämpfe.
Wir lehren einfache Lösungen, sowohl eine Reihe von grundlegenden Methoden als auch kreative Griffe, die den Überraschungen bei der Gewalt auf den Strassen gewachsen sind. Zur Basistechnik gehört: Schläge abwehren, sie einstecken und den Angreifer dominieren können. Dies schliesst die Fähigkeit ein, auf verschiedene Aggressionen reagieren zu können: auf Würgen, Fusstritte oder Faustschläge sowie auch auf Angriffe mit Stöcken, Messern oder gar Feuerwaffen. In einer zweiten Phase können unsere Anhänger den nächsten Schritt in Angriff nehmen, den Nahkampf. Ziel dieser Ausbildung ist es, den Angreifer schnell und effizient neutralisieren zu können, und zwar mit Hilfe diverser Elemente, wie z.B. Täuschung, Angriffe mit kombinierten Techniken, psychologische Dimension des Kampfes usw. Und schliesslich lernen die Teilnehmer auch, sich in besonderen Situationen zu verteidigen, wie beispielsweise in der Dunkelheit, sitzend oder liegend, im Bett oder im Auto. Wir akzeptieren auch Kinder, wenn sie sowohl physisch als auch psychisch reif genug sind, d.h. mit ca. 9 bis 10 Jahren. Man muss sich klar machen, dass Krav Maga eine Verteidigungswaffe darstellt und nicht unverantwortlichen Kindern in die Hand gegeben werden darf. Ich glaube, es ist sehr wichtig, dass sich Kinder verteidigen können. Im Allgemeinen werden sie nicht von anderen Kindern wirklich bösartig angegriffen, sondern von Erwachsenen, die stärker und schwerer sind als sie. In unseren Kursen spielen die Trainer die Rolle der erwachsenen Angreifer, damit die Kinder lernen, wie sie in möglichen Situationen auf der Strasse zu reagieren haben.

Glauben Sie nicht, dass man irgendwie zur Gewalt erzieht, wenn man Kinder in Kampfsportarten unterrichtet?

Gewalt und Aggressivität dürfen nicht verwechselt werden: letzteres ist in jedem von uns enthalten und kommt sowohl im Geschäftsleben vor wie auch auf professioneller oder künstlerischer Ebene in jedem sportlichen Wettkampf. Alle vernünftigen Eltern sehen es lieber, wenn ihr Kind einem Schulkameraden die Nase bricht, als wenn es selbst mit gebrochener Nase nach Hause kommt. Dies trifft umso mehr zu, wenn es sich um eine Aggression handelt und nicht um eine einfache Rauferei unter Kindern. Schöne Worte haben noch niemandem geholfen, sich gegen einen Angreifer zu wehren. Darüber hinaus möchte ich betonen, dass das Ziel von Krav Maga nicht daraus besteht, «Schlägertypen» auszubilden, sondern dass er denjenigen, die diese Disziplin betreiben, eine Art Versicherung geben will, die sie notfalls anwenden und dank der sie ihr Leben oder das Leben anderer Menschen retten können.

Muss jemand, der Krav Maga erlernen möchte, regelmässig oder auf hohem Niveau Sport treiben oder körperlich sehr kräftig sein?

Überhaupt nicht, es ist ausschliesslich eine Frage des Willens und der Motivation. Interessanterweise haben sich die meisten unserer Adepten entschlossen damit anzufangen, nachdem sie entweder selbst angegriffen wurden oder nachdem sie von einem Überfall in ihrem Umfeld gehört hatten. Dies trifft übrigens auf fast alle Kampfsportarten zu. Wenn die Eltern bemerken, dass ihre Kinder auf dem Schulhof regelmässig angegriffen werden, beschliessen sie oft sie Judo oder Kung Fu erlernen zu lassen, damit «sie in der Lage sind, sich zu verteidigen». Dazu muss man wissen, dass man mindestens zweimal pro Woche trainieren muss, um sich korrekt verteidigen zu lernen. Nach sechsmonatiger Ausbildung kann man davon ausgehen, dass ein Sportler beginnt, ein gewisses Selbstvertrauen zu empfinden. Dies bedeutet aber noch lange nicht, dass er die Grundtechniken beherrscht. In diesem Zusammenhang möchte ich Eyal Yanilov zitieren, den Chefinstruktor des Internationalen Krav-Maga-Verbands, der während 22 Jahren zu den Schülern und Freunden von Imi Lichtenfeld gehörte und immer wieder sagt: «Das Letzte, was man einem Selbstverteidigungstraining entnehmen sollte, ist ein falsches Sicherheitsgefühl». Wenn jemand das Training eine Weile unterbricht, kann praktisch auf demselben Niveau wieder einsetzen.

Wie sieht der erste Kurs eines Neulings aus? Läuft man nicht Gefahr, sich während der Übungen zu verletzen?

Was Ihre zweite Frage angeht, trifft es natürlich zu, dass Schläge ausgeteilt werden, doch wir lehren ja gerade, wie man diese abwehren kann. Am ersten Tag wird der Neuling in die Klasse integriert und macht beim Kurs mit. Der Kursleiter passt seine Anforderungen natürlich an das Niveau dieser Person an; man versucht dem Neuen Selbstvertrauen zu geben, indem man ihn mit dem besten Schüler des Kurses eine Übung absolvieren lässt. So lernt er beispielsweise, sich gegen einen Angriff mit dem Messer zu wehren, indem er das Messer blockiert, damit es ihn nicht trifft. Man zeigt ihm einen Gegenangriff durch einen Faustschlag oder einen Schlag ins Gesicht des Angreifers.

Können Ihre Kurse auch von Frauen besucht werden?

Selbstverständlich, da die Angreifer auf der Strasse ja auch keinen Unterschied machen.

Wir leben in einer Zeit, da es immer mehr Probleme mit Gewalttätigkeit gegen junge Juden gibt. In Genf z.B. trainieren Sie eine Gruppe, den «Magen Israel», deren Verantwortliche sich an Sie gewendet haben. Haben Sie in Ihrer Eigenschaft als Verantwortlicher für die Ausbildung von Krav-Maga-Instruktoren für vier europäische Länder einen Anstieg der Nachfrage in der EU festgestellt?

Nicht im geringsten, trotz einer gewissen Angst, die sich in den Köpfen festgesetzt hat, übrigens vermehrt in Frankreich als in der Schweiz. Diese Situation mag merkwürdig oder widersprüchlich erscheinen, doch wir erleben genau dasselbe Phänomen im Bereich der Ordnungskräfte. Man könnte annehmen, dass ihre Ausbildung angesichts der steigenden Gewaltbereitschaft ausgebaut würde, doch dies ist nicht der Fall.

Heute wird das Werk von Imi Lichtenfeld, der 1998 starb, weltweit unter Eyal Yanilov fortgesetzt, seinem Schüler, der von Israel aus den Internationalen Krav-Maga-Verband leitet. Gegenwärtig trainieren Tausende Sportler aller Altersgruppen Krav Maga, sowohl privat als auch im Rahmen von Polizeischulen und anderen Organisationen von Einsatzkräften. Leider ermutigen Eltern, Erzieher und Gemeindeverantwortliche die jungen Juden, Jungen und Mädchen, nicht dazu, sich in Selbstverteidigung auszubilden. Vergessen wir nicht, dass die Gewalt omnipräsent ist und nicht immer nur «den anderen» betrifft.

(Fotoreportage: Bethsabée Süssmann)