Besinnung auf sich selbst
Von Emmanuel Halperin
Vorläufig sind es erst Worte. Israel wird den Gazastreifen räumen, sich aus allen jüdischen Siedlungen zurückziehen, von denen einige vor über dreissig Jahren errichtet wurden, in Judäa und Samaria vielleicht gar einige von ihnen zerstören (man spricht von 17 Orten). Dieser Vorschlag stammt von Ariel Sharon.
Dieser Rückzugs- oder Abzugsplan wurde den Israelis auf sehr merkwürdige Weise vorgestellt. Zunächst kam es zu einigen kleineren Indiskretionen, dann zu einer dramatischen Ankündigung, darauf folgten zahlreiche Änderungsvorschläge, Varianten, Fragezeichen. In einer ersten Phase lässt der stellvertretende Premierminister Ehud Olmert einen Testballon steigen: da auf palästinensischer Seite kein Ansprechpartner vorhanden ist, wird Israel im Alleingang unilateral handeln und eine Demarkationslinie bestimmen, auf deren anderen Seite die Palästinenser nach Belieben oder nach Möglichkeit vorgehen können. In den Augen des Ministers besitzt dieser Rückzug den enormen Vorteil, die Situation zu bereinigen, den Umfang der unter israelischer Verwaltung lebenden arabischen Bevölkerung zu verringern, ganz klar festzulegen, welche jüdischen Ortschaften weiterhin unter israelischer Herrschaft bleiben.
Der Vorschlag wird von der Rechten wie von der Linken mit grösster Skepsis aufgenommen. Was soll einem hier untergejubelt werden? Wer um alles in der Welt wird ausserhalb von Israel eine derartige Initiative gutheissen, über die nicht verhandelt wurde? Und wie könnte innerhalb von Israel eine Entscheidung akzeptiert werden, bei der zahlreiche jüdische Siedlungen in den Gebieten geopfert werden, so dass die Palästinenser sich nach Belieben mit Waffen eindecken und eine Intensivierung der Attentate planen können? Ist es nicht blauäugig, sich von allem distanzieren zu wollen, was dann nur wenige Kilometer oder Meter vom berühmten Sicherheitszaun entfernt vorfallen sollte? Und würde es nicht bedeuten, den Terrorismus geradezu zu belohnen, ohne eine Gegenleistung zu verlangen, als ob Israel gezwungen wäre, angesichts der Gewalt klein beizugeben? Eine moralische Niederlage, nachdem man vierzig Monate lang unermüdlich versucht hat, den Attentaten ein Ende zu setzen?
Sharon nimmt also das Steuer in die Hand und führt zunächst über die Presse und dann ganz direkt die Idee ein, den Gazastreifen zu evakuieren. Und dies, ohne die Palästinenser zu informieren, ohne ihr Einverständnis einzuholen, ohne irgendetwas auszuhandeln – da wir ja nicht diskutieren, solange der Terror anhält. Es ist unsere Angelegenheit, unsere Entscheidung, sollen sie selber schauen. Und wenn der Hamas davon profitieren sollte, um in diesem schmalen Streifen Land die Macht an sich zu reissen? Wenn Anarchie ausbricht? Könnte Israel ungerührt zuschauen? Man wird sehen.
Die Amerikaner scheinen überrascht zu sein. Sie möchten mehr erfahren, alles begreifen. Inwiefern ist dieser Plan in die Road Map zu integrieren? Wird Israel darauf verzichten, die Grenze zwischen dem ägyptischen Sinai und Gaza zu bewachen, indem dort eine schmale Pufferzone namens «Philadelphia-Achse» beibehalten wird? Werden die Ägypter einwilligen, die Grenzwächter zu spielen? Sind sie dazu überhaupt in der Lage, obwohl sie immer noch nichts gegen den Waffenschmuggel unternehmen, der in den auf ihrem Territorium gegrabenen Tunnels stattfindet? Auf alle diese Fragen bemüht man sich seit Wochen eine Antwort zu finden.
Es fällt Sharon schwer, die anderen davon zu überzeugen, dass es sich um ein konkretes Projekt handelt, dass die Änderungen wirklich vor Ort stattfinden werden. Seine grosse Koalition im Parlament könnte sehr wohl zusammenbrechen, lange bevor die Bulldozer vor den israelischen Dörfern in Gaza eintreffen. Der Likud selbst könnte in zwei Lager zerfallen. Die Unterstützung der Arbeitspartei ist noch nicht sicher. Dann werden zweifellos Neuwahlen anberaumt werden, wahrscheinlich ohne Sharon. Und dies alles passiert mitten im amerikanischen Wahljahr. Präsident Bush müsste zur Überzeugung gelangen, dass der Gedanke ihm nur nützen, ihm auf jeden Fall nicht schaden kann. Daher ist es notwendig, den Plan jede Woche umzustellen, das Datum seiner Verwirklichung anzupassen. Zu Beginn war vom nächsten Sommer die Rede, heute geht man davon aus, dass vor 2005 gar nichts läuft. Und man weiss, dass die Evakuierung von Dutzenden von Dörfern auch dann, wenn sich die Mehrheit der Israeli gemäss den Umfragen nicht widersetzen würde, die Verabschiedung gesetzlicher Vorschriften erforderlich macht, gefolgt von einem langwierigen Gesetzgebungsverfahren. 2005? Wahrscheinlich später. Viel später.
Es wird wohl ewig ein Rätsel bleiben, was Ariel Sharon zu diesem Vorschlag bewegt hat. Der Generalstabschef Mosche Yaalon hat sich einen Lapsus erlaubt (auf den die israelische Demokratie gern verzichtet hätte), als er erklärte, der Rückzug aus Gaza würde das Problem des Terrors bestimmt nicht lösen, ganz im Gegenteil, was als «politische» Stellungnahme interpretiert wurde. Dies entspricht aber dem Standpunkt zahlreicher Armeeangehöriger und ganz bestimmt auch demjenigen von Sharon noch vor kurzer Zeit.
Natürlich kann man auch zynisch vermuten, dass dies alles nichts anderes ist als Sand in den Augen der Beobachter. Dass die immer noch in einer Sackgasse steckende israelische Regierung angesichts eines anscheinend zurückgehenden (dank dem täglichen Einsatz der Soldaten und Sicherheitsdienste), aber trotzdem noch bedrohlichen Terrors das Bedürfnis empfand, sich frei zu kämpfen, um sich zu schlagen, wenigstens die Illusion des aktiven Eingreifens aufrecht zu erhalten. Möglich wär’s immerhin. Aber dies ist nicht wahrscheinlich.
Was sich hinter den vagen Umrissen dieses Plans der einseitigen Regelung vielmehr abzuzeichnen scheint, ist das Gefühl, dass man das Heft unbedingt wieder selbst in die Hand nehmen muss. Natürlich muss man sich mehr oder weniger mit den Amerikanern absprechen, die Europäer und die arabischen Staaten, die Friedensabkommen unterzeichnet haben, nicht allzu sehr vor den Kopf stossen, doch man muss der Wahrheit ins Auge blicken: wenn Israel nicht handelt, selbst wenn dabei echte Opfer gebracht werden müssen, wird die Situation zwangsläufig immer komplizierter. Einmal mehr wäre die Existenz unseres Staates morgen nicht stärker gefährdet als heute. Es geht aber um etwas anderes, es geht um seine Seele. Man muss folglich die Interessen der Nation so gut wie möglich verteidigen: den jüdischen Staat bewahren, sein Überleben und seinen Fortbestand sichern, auch wenn man sich dazu einigen, sich hinter Schutzmauern verschanzen muss. Es gibt keinen neuen Nahen Osten, auch nicht in der ferneren Zukunft, höchstens in unseren Träumen. Auch wenn wir nicht in der besten aller Welten leben, können wir doch in der existierenden Welt bestehen, wenn die Sicherheit Israels gewährleistet ist, wenn die Israelis sich über den Verlauf ihrer Grenzen einigen, wenn sie sich die Mittel und die Zeit geben, sich auf sich selbst zu konzentrieren, um dadurch ihre Existenz zu verbessern und ihre Werte zu vertiefen.
Eine Besinnung auf sich selbst muss eine Auseinandersetzung mit dem Israel ermöglichen, in dem bald die Mehrheit des jüdischen Volkes leben wird – es wurde vor kurzem ein Projekt gestartet, das die Einwanderung einer Million Menschen im nächsten Jahrzehnt vorsieht. Eine Besinnung auf sich selbst sollte es möglich machen, die internen Konflikte beizulegen und die Widersprüche der israelischen Gesellschaft und ihrer Institutionen aus der Welt zu schaffen. Dies drängt sich geradezu auf. Doch hat Israel die Zeit dazu? Werden seine in Ruhe gelassenen Nachbarn wirklich Frieden geben? Denn der Hass gegenüber Israel hängt nicht mit dieser oder jener «Besetzung», mit diesem oder jenem «Machtmissbrauch» zusammen. Er ist sinn- und grundlos, absurd und unverständlich, grotesk und ungeheuerlich. Die Verantwortlichen des schweren Attentats vom 14. März am Hafen von Aschdod, das als «strategischer» Anschlag gilt, kamen aus Gaza. Die scheint denjenigen Recht zu geben, in deren Augen die Pläne betreffend einen einseitigen Rückzug den Terrorismus eher schüren als ihn dämmen werden.
Und dennoch muss man es einfach versuchen.

NB: Ich bedauerte in meinem letzten Artikel, dass Herr de Villepin, der Chef der französischen Diplomatie, anlässlich eines Aufenthalts in Jerusalem darauf verzichtete, auf das «natürliche Recht» des jüdischen Volkes auf einen Staat zu pochen, und sich darauf beschränkte, die Floskel über die «Daseinsberechtigung Israels» zu wiederholen, die von Yasser Arafat persönlich im Jahr 1993 eingeräumt wurde. Ich erinnerte daran, dass Frankreich seit 1917 dafür eintrat, eine Heimat für die «jüdische Nation» zu schaffen (Brief von Jules Cambon an Sokolov). Am 7. Februar 2004, als Staatspräsident Katsav in Paris weilte, fügte Präsident Jacques Chirac nach der Bestätigung des «absoluten Rechts von Israel, in Sicherheit in seiner Region zu leben», Folgendes hinzu: «Diese Forderung… ist die unwiderrufliche Anerkennung des Rechts des jüdischen Volkes auf einen Staat nach so vielen Jahrhunderten der Vertreibung und des Leids». Und dann zitierte Chirac den Brief von Jules Cambon und betonte dabei, dass er im Juni 1917 verfasst worden sei, d.h. noch vor der Balfour Deklaration. Im heutigen Kontext stellt dies eine deutliche Geste von Frankreich dar, die gebührend gewürdigt werden sollte.