Verantwortung – Grosszügigkeit – Freiheit | ||
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Von Roland S. Süssmann | ||
«… für das was der Herr für mich getan hat, als ich aus Ägypten zog». Es mag merkwürdig erscheinen, dass wir diesen Satz aus dem Buch Exodus (13, 8) am Sederabend aufsagen, obwohl er von einem Ereignis spricht, das vor mehreren tausend Jahren stattgefunden hat. Es handelt sich dabei einmal mehr um einen der zahlreichen Hinweise darauf, dass das Pessach-Fest immerwährend aktuell bleibt. Auch dieses Jahr rüttelt uns die Botschaft von Pessach wieder auf und gibt uns Mut. Um den besonderen Charakter dieser Mitteilung zu verstehen, die sich seit grauer Vorzeit und recht feierlich Jahr für Jahr an uns wendet, haben wir ein Gespräch mit dem neuen sephardischen Grossrabbiner von Israel, dem Rischon Le-Tsion, Raw SCHLOMO AMAR, geführt. Dieser trotz seiner Bedeutung und Grösse sehr einfach, direkt und warmherzig gebliebene Mann hat uns sehr liebenswürdig empfangen. Mit welcher Einstellung hat man in diesen schwierigen und unsicheren Zeiten, welche die jüdische Nation gegenwärtig durchmacht, das Pessach-Fest 5764 zu begehen? Dieser Feiertag wird auch als Fest der Befreiung oder der Freiheit bezeichnet. Es ist kein Zufall, dass wir zu diesem Zeitpunkt des Jahres aus Ägypten geflohen sind. Das Herannahen von Pessach machte diese Jahreszeit empfänglich für die Freiheit. Dies wird durch das Beispiel des Königs veranschaulicht, der mit seinem Gefolge unterwegs war und dessen Wasservorräte für die Reise aufgebraucht waren. Er fragte seinen Berater, was er nun tun solle. Dieser antwortete: «Uns stehen zwei Möglichkeiten offen: entweder wir schicken zwei Gesandte in die nächstgelegene Stadt, damit sie uns Wasser bringen, und dies wird drei Stunden in Anspruch nehmen; oder wir graben einen Brunnen an dem Ort, wo wir uns befinden und stossen dort ganz bestimmt auf Wasser, doch auch dieses Vorgehen dauert drei Stunden». Der König entschied sich für den zweiten Vorschlag, für den schwierigen und mühseligen Weg. Als man ihn nach dem Grund für seine Entscheidung befragte, sagte er: «Hätte ich Gesandte geschickt, hätten wir zwar zu Trinken erhalten; doch das Graben eines Brunnens wird noch lange Zeit denjenigen nützen, die nach uns kommen». Als uns der Herr in Ägypten die Freiheit gab, war dies nicht eine einmalige Geste der Gnade, die nur unseren Vorfahren galt, sondern eine grundlegende Entscheidung zum Wohle der kommenden Generationen. G’tt hat auf diese Weise Zman Cherutenu geschaffen – die Zeit unserer Befreiung -, d.h. die Zeitspanne der Freiheit, so wie er an Sukkot Zman Simchatenu geschaffen hat – die Zeit der Freude usw. Wir haben, wie Sie wissen, sehr schwere Zeiten hinter uns, und als wir am letzten Rosch Haschanah in unseren Gebeten sagten «Möge das alte Jahr mit seinen Fluchen vorübergehen und möge das neue Jahr mit seinen Segnungen beginnen », dachten wir in erster Linie an die Wunden der Attentate und an den unseligen Reigen von daraus entstehenden Trauerfällen in den Familien und für das Individuum. Als ich damals befragt wurde, sagte ich, wir hätten kein Recht, die guten Dinge zu vergessen, die uns widerfahren seien, darunter die Vernichtung eines unserer erbittertsten und gefährlichsten Gegner, nämlich des Irak. Es ist menschlich, sich nur an die Schwierigkeiten zu erinnern, doch meines Erachtens ist es wesentlich, dieses Pessachfest trotz aller Probleme mit viel Optimismus zu begehen. Die Freiheit ist natürlich ein grosses Wort, das sehr vieles einschliesst. Doch ich glaube, dass sie uns in diesem Jahr vor allem vom Hass befreien sollte, der uns umgibt. Schliesslich verlangen wir nicht mehr, als gemäss unseren Traditionen und Regeln zu leben, wir stören ja niemanden. Es bleibt zu hoffen, dass die Welt uns gegenüber etwas offener wird und uns zu akzeptieren lernt. Ich weiss wohl, dass es sich dabei nur um eine Hoffnung handelt, doch wir dürfen nicht vergessen, dass wir damals, als wir aus Ägypten auszogen, auf der untersten Stufe standen, auf der ein Mensch stehen kann: wir waren Sklaven ohne Rechte, ohne Identität, weder auf körperlicher noch auf geistiger Ebene. Doch als der Herr beschloss, uns für immer die Freiheit zu geben, hat er sich nicht damit begnügt uns körperlich zu befreien, er hat uns auch die Torah, die geistige Freiheit gegeben, zu der auch Moral und Verantwortung gehört, die wir uns selbst und unseren Mitmenschen gegenüber besitzen. Ich bin mir der Tatsache wohl bewusst, dass jeder von uns, wenn er vor Problemen steht, erst einmal die Hoffnung verliert, von Furcht erfüllt wird und sich sagt: «Wie lange noch?». Dies trifft sowohl für das Individuum zu wie auch für den Staat. Doch Pessach lehrt uns, dass wir nicht verzweifeln dürfen. Wir haben zweitausend Jahre gewartet, bevor wir in das Land unserer Vorfahren zurückkehren konnten, und dabei haben wir schreckliche Phasen durchgemacht, ich denke dabei ganz besonders an die Schoah. Und nun leben wir zwar wieder in unserem Land, doch niemand lässt uns in Frieden. Täglich stehen wir vor neuen Schwierigkeiten, so dass unsere politischen Verantwortlichen sogar daran denken, einige Gebiete von Israel zu opfern, um das Recht auf ein Leben in Frieden zu erwerben. Pessach lehrt uns, dass wir da einen falschen Weg einschlagen. Als Moses nämlich das in Sklaverei lebende jüdische Volk darüber aufklärte, er sei vom Ewigen gesandt worden, um es zu befreien, bestand die erste Reaktion der Ägypter darin, ihre Arbeitsbedingungen noch zu verschärfen. Als Moses sich daraufhin bei G’tt darüber beklagte, antwortete ihm dieser: «Du wirst sehen, was ich Pharao antun werde». Und so erwies sich das, was zunächst wie eine Strafe aussah, letztendlich als Segen. Diese Verschärfung der Schwierigkeit auf dem Weg zur Befreiung wird am Sederabend auf recht amüsante Weise symbolisch dargestellt. Nach dem Besuch der Synagoge setzen wir uns im Familienkreis zu einem Festessen an den Tisch. Vor dem kulinarischen Teil steht aber ein längeres Ritual, dessen Höhepunkt darin besteht, dass man uns vor dem Genuss eines der ausgezeichneten, von der Hausfrau zubereiteten Gerichte bittere Kräuter serviert, den Maror. Erst nachdem wir den Maror verzehrt haben, kann das Festmahl beginnen… Sie haben gesagt, wir hätten nach zweitausendjähriger Diaspora endlich unsere Heimat wieder gefunden, doch weder den Frieden noch die Ruhe, auf die wir seitens der anderen Länder berechtigt zu sein hofften. Es ist nun aber eine Tatsache, dass die internen Zwistigkeiten und die politischen und religiösen Spannungen nicht nur das Land erschüttern, sondern sich auch auf sämtliche anderen jüdischen Gemeinschaften überall auf der Welt negativ auswirken. Was kann man dagegen unternehmen? Sie sprechen da das Thema an, das mich gegenwärtig am meisten beschäftigt: unsere innenpolitische Situation. Wir sind an einen Punkt gelangt, wie wir das in unserer Geschichte bisher nie erlebt haben. Es gab zu jeder Zeit Fromme und Nichtgläubige, doch nie herrschten so extreme Spannungen zwischen diesen beiden Gruppen wie heute. Früher respektierte man einander. Wen möchte man aber treffen, wenn man sich gegenseitig angreift, wenn man die Torah und die Frömmigkeit ins Lächerliche zieht? Wir ziehen nur uns selbst in den Schmutz, da die Torah und ihre Lehren wesentliche Elemente unserer Identität als Juden und Menschen darstellen. Diese Regeln wurden uns vor Jahrtausenden überliefert, als die Welt kaum lesen und schreiben konnte. Diese Gesetze enthalten die Grundlage aller bedeutenden, modernen Gedankenströmungen: Menschenrechte, Arbeitsrecht, Gleichberechtigung der Frau, soziale Gerechtigkeit usw. Wir müssen unbedingt wieder zueinander finden, uns daran erinnern, dass wir ein einziges Volk sind, dass wir alle denselben Ursprung besitzen und dass die Tatsache, dass wir fromm sind oder nicht, arm oder reich, Aschkenasim oder Sepharden, nichts an der obersten Wahrheit ändert, die wir unter keinen Umständen vergessen dürfen. Der Wortlaut dieser Wahrheit führt zur folgenden wesentlichen Feststellung: alle diese letztendlich künstlich geschaffenen Spannungen enthalten grösste Risiken, denn der darin enthaltene Hass zerstört unsere Gesellschaft. Dies ist umso schwerwiegender, als dass wir uns in einer sehr prekären wirtschaftlichen Situation befinden, in der die soziale Kluft immer tiefer und besorgniserregender wird. Unter solchen Umständen sollten wir aber Liebe und Grosszügigkeit an den Tag legen. Leider sind die neuen, in Israel eingeführten Wirtschaftspläne nicht dazu geschaffen, den Ärmsten zu helfen, und ich fürchte, dass man die Lage der am meisten benachteiligten Menschen nicht genug berücksichtigt. Dies ist äusserst gefährlich, denn Verzweiflung schürt den Hass und kann gravierende soziale Unruhen auslösen. Andererseits stelle ich mit Bedauern fest, dass ein privilegierter Teil unserer Bevölkerung sich unseren in Schwierigkeiten steckenden Glaubensbrüdern gegenüber sehr arrogant aufführt, was dem eigentlichen Wesen unserer Identität zuwiderläuft. Die Grosszügigkeit ist nämlich Teil unserer wahren Natur, des jüdischen Wesens, denn sie stammt direkt von unserem Vorfahren Abraham. Leider ist mir zu Ohren gekommen, dass die Einwohner einiger reicher Quartiere in Israel erklärt haben: «Wir sind bereit, höhere Gemeindesteuern zu zahlen, doch nur, wenn dieses Geld dazu verwendet wird, die Situation in unserem Viertel zu verbessern, und wenn kein Rappen dieses Geldes den benachteiligten Quartieren zugute kommt». Dabei geht es nicht mehr einfach um Geld, sondern um ein Problem der Einstellung, der Mentalität und der Arroganz. Ich habe auch wohlhabende Leute sagen hören: «Wir zahlen gern etwas mehr Steuern, aber wir wollen damit nicht kinderreiche Familien unterstützen. Wer hat sie darum gebeten, so viele Kinder zu haben?». Dieses Verhalten hat nichts mehr gemein mit den jüdischen Gepflogenheiten und Traditionen in Bezug auf das Benehmen. Diese Situation war übrigens schon in der Torah angesprochen worden (Deuteronomium 8, 11-19), aus der ich nur einige grundlegende Sätze zitieren möchte: «Wenn du nun gegessen hasst und satt bist und schöne Häuser erbaust und darin wohnst und deine Rinder und Schafe und Silber und Gold und alles, was du hast, sich mehrt, dann hüte dich, dass dein Herz sich nicht überhebt und du den Herrn, deinen G’tt, vergisst … Du könntest sonst sagen (…): «Meine Kräfte und meiner Hände Stärke haben mir diesen Reichtum gewonnen». Sondern gedenke an den Herrn, deinen G’tt; denn er ist’s, der dir Kräfte gibt, Reichtum zu gewinnen». Man muss sich vor Augen führen, dass heute viele von uns, die im Leben erfolgreich waren und Geld und Ehren zusammengetragen haben, leider glauben, dass sie allein für ihren Erfolg zuständig sind. Sie vergessen, dass G’tt alles lenkt und dass derjenige, der heute zuoberst auf der Erfolgsleiter steht, sehr schnell wieder zuunterst landen kann. Daher ist es sehr wichtig, die am stärksten vom Leben Benachteiligten zu ehren und zu respektieren und ihnen ohne Vorurteile und unter Rücksicht auf ihre Würde zu helfen, vor allem im Hinblick auf die Art und Weise, wie wir mit ihnen sprechen. Handeln wir nicht in diesem Sinne, riskieren wir langfristig den Ausbruch eines Bürgerkriegs. Die Arroganz gewisser begüterter Menschen trägt demnach den Keim der Zerstörung in sich. Die Konsequenzen eines solchen Verhaltens sind auch in der Torah vorgesehen, wo im Anschluss an die oben zitierten Verse steht: «Wirst du aber den Herrn, deinen G’tt, vergessen… werdet ihr umkommen!». Dieser Satz beginnt im Singular, endet aber im Plural und erinnert uns dadurch daran, dass die Handlungen eines jeden Einzelnen letztendlich von nationaler Tragweite sein können. Ich denke, dass unsere Grosszügigkeit auch auf unsere Brüder aus Äthiopien ausgedehnt werden sollte, einschliesslich der Falaschas Muras, die in meinen Augen vollwertige Juden sind. Pessach 5764 rüttelt uns mit der Aufforderung, auf unsere sozialen Vorurteile zu verzichten, auf; wir sollen unsere Verantwortung in Bezug auf unsere benachteiligten Glaubensbrüder wahrnehmen, unabhängig von ihrer Einstellung, ihrer Hautfarbe, ihrem Charakter oder ihren Ideen. Das Pessach-Fest in diesem Jahr erinnert uns daran, dass wir dafür verantwortlich sind und dafür sorgen müssen, dass die Mittellosen, die Leidenden, die Unglücklichen, die Kranken und die schwächsten Glieder unserer Gemeinschaft in Würde leben können. Dies ist der wahre Weg, der uns alle aus dem Schatten ins Licht und zur echten individuellen, nationalen, körperlichen und geistigen Freiheit führen wird. Es liegt in unserer Verantwortung, unseren Mitmenschen, die eine schwierige Zeit durchmachen, dabei zu helfen, sich vom wirtschaftlichen Joch zu befreien. Auf diese Weise stärken wir unser nationales Wohlbefinden, aber auch dasjenige der Gemeinschaften in der Diaspora und jedes Einzelnen von uns. |