Geregelte Wohltätigkeit...
Von Rabbi Shabtai A. Rappoport *
Die weltweite Wirtschaftskrise hat auch die jüdische Gemeinde, Kehilah, nicht verschont. Mehrere ihrer Mitglieder, die bisher über ein hohes Gehalt und interessante Arbeitsplätze verfügten, haben ihre Stelle verloren und finden nun keinen anderen Job.

Sie sind gezwungen, ihren Lebensunterhalt aus ihren Ersparnissen zu bestreiten, die wie Butter in der Sonne dahinschmelzen, während gleichzeitig ihr Schuldenberg auf bedrohliche Weise zu wachsen beginnt. Die wohlhabendsten Mitglieder von Kehilah beschliessen den Stier bei den Hörnern zu packen und halten eine Versammlung ab, um über einen Hilfeplan zu diskutieren, damit die sozialen Dienstleistungen der Gemeinde an diese neue Situation angepasst werden können.
Über zwei Punkte ist man sich einig: die Pflicht, ein Not leidendes Mitglied der Gemeinde zu unterstützen, und die Pflicht des Mittellosen, sich selbst zu helfen. Man weist ebenfalls darauf hin, dass die finanziellen Mittel, die zur Unterstützung der Bedürftigen zur Verfügung stehen, natürlich beschränkt sind. Aus diesem Grund schlagen die Verwalter dieser Mittel folgende Lösung vor: Familien, die sich in finanziellen Schwierigkeiten befinden, müssen in kleinere und billigere Wohnungen umziehen, ihr Auto sowie andere wertvolle Einrichtungsgegenstände oder teure elektronische Geräte verkaufen. Sie verfügen somit über einen bestimmten Geldbetrag und reduzieren auch ihre festen Kosten. Nachdem sie diese ersten Schritte unternommen haben, werden die Schulden der betreffenden Familien bezahlt und die Gemeinde lässt ihnen eine finanzielle Unterstützung zur Überbrückung der Krise zukommen. Obwohl dieser Vorschlag sinnvoll ist und konstruktive Hilfe ermöglicht, fühlen sich mehrere Teilnehmer der Versammlung nicht wohl dabei und können sich nicht vorstellen, ihren ruinierten Glaubensbrüdern anzuordnen, sie müssten nun ihre Häuser verlassen und ihren Lebensstandard senken. Die Mitfühlenden schlagen vor, dass diejenigen, die Hilfe brauchen, selbst den ersten Schritt unternehmen und sich an die Sozialhilfe der Gemeinde wenden. Andere Anwesende sprechen das Problem der Priorität bei der Verteilung der für wohltätige Zwecke bestimmten Mittel an. Vielleicht sollte man, anstatt den Mitgliedern der Gemeinde Unterstützung zu gewähren, die gar nicht darum ersucht haben, das Geld lieber dafür verwenden, dringende Probleme zu lösen und z.B. Menschen zu helfen, die einer sofortigen medizinischen Behandlung bedürfen. Zur Zeit der Niederschrift der Mischnah reichte die Summe von zweihundert Dinar aus, um einen Menschen während eines Jahres zu ernähren und zu kleiden. Die Spenden für Bedürftige wurden der jährlichen Ernte entnommen. Jeder, der einen Betrag in bar besass, mit dem er ein Jahr lang leben konnte, war bis zur Ernte des folgenden Jahres nicht berechtigt solche Spenden zu empfangen. Wenn jemand aber weniger als zweihundert Dinar in bar hatte, durfte er die Spende für arme Menschen entgegennehmen, konnte aber nicht gezwungen werden, sein Haus oder sonstige Gebrauchsgegenstände zu verkaufen (Mischnah Pea VIII, 8). Die Gemarah stellt sich jedoch die Frage (Ketubot 65a): «Wurde nicht gelehrt: wenn er [der Arme] gewöhnlich goldene Geräte verwendet, soll er sich nun kupferner Gegenstände bedienen». (Was beweist, dass der Mittellose gehalten ist, seine wertvollen Besitztümer zu verkaufen, bevor er Almosen empfangen darf. Weshalb heisst es also in der Mischnah, dass man ihn nicht zum Verkauf seiner Gebrauchsgegenstände zwingen darf?) Rav Zebid antwortet: Letztere [die Bestimmung, die den Verkauf verlangt] betrifft Gegenstände wie Tisch und Bett, während erstere Trinkbecher und Geschirr umfasst. Warum stellen Becher und Geschirr einen Sonderfall dar und dürfen nicht verkauft werden? Offensichtlich weil er [der Arme] sagen könnte, die schlechtere Qualität stosse ihn ab. Doch das könnte er auch von Tisch und Bett sagen, billige [Möbel] seien für ihn inakzeptabel... Rav Papa erwidert: Die eine (die Bestimmung der Mischnah Pea, die besagt, dass man ihn nicht zum Verkauf seiner Gebrauchsgegenstände zwingen dürfe) betrifft den Menschen, der noch nicht gezwungen war, öffentliche Almosen zu erbitten (und der diskret von Angehörigen und Freunden unterstützt wird), während die andere einen Menschen betrifft, der so grosse Not leidet, dass er ganz offen betteln muss.» (Die Überlegung von Rav Papa wurde hier gemäss der Auslegung von Maimonides und anderen interpretiert, die als endgültige Regel der Halachah angenommen wurde).
Maimonides erklärt die Überlegung von Rav Papa (Kommentar zur Mischnah Pea VIII, 8) folgendermassen: von dem Moment an, da ein Not leidender Mensch Almosen der öffentlichen Hand erhält, muss er seine wertvollen Besitztümer verkaufen, denn wenn keine absolute Notwendigkeit besteht, darf er die Mittel, die auch für andere Notleidende bestimmt sind, nicht für sich beanspruchen. Man kann sich nun aber fragen, warum dieselbe Regel nicht auch für denjenigen gilt, der diskret von seinen Angehörigen und Freunden unterstützt wird. Wenn er seinen wertvollen Besitz verkaufen würde und somit seinen Lebensunterhalt bestreiten könnte, wären seine Angehörigen und Freunde in der Lage, die frei gewordenen Mittel für die Unterstützung anderer Not leidenden Freunde oder gar fremder Menschen zu verwenden. Missbraucht derjenige, der sein Hab und Gut nicht verkauft, nicht auch die öffentlichen Mittel, selbst wenn es sich dabei um Geld handelt, das ihm im privaten Rahmen zukommt? Weshalb hat er in diesem Fall das Recht, seinen Besitz zu behalten?
Rabbi Mosche Sofer, eine berühmte Autorität des 19. Jhs. in Fragen der Halachah, ist der Autor einer interessanten Neuerung (’Hatam Sofer Bd. II Yore Dea 239), die zu einer wichtigen juristischen Entscheidung führte. Er stützt sich auf folgenden Vers der Torah (Vayikra 25, 35): «Wenn dein Bruder strauchelt, wenn du siehst, dass 1 SHALOM/VOL.XL/TISCHRI 5764/HERBST 2003 sein Glück ins Wanken gerät, unterstütze ihn.» Gemäss der Auslegung unserer Weisen betrifft dieses Gebot jene, die kurz vor dem finanziellen Ruin stehen. «Unterstütze ihn» bedeutet: «Lasse nicht zu, dass er fällt - es ist wie bei einem beladenen Esel, den ein einzelner Mensch leicht unterstützen kann, solange jener auf seinen vier Beinen steht; ist er aber einmal zusammengebrochen, werden auch fünf Männer ihm nur schwer wieder auf die Beine helfen können.» Auf den ersten Blick handelt es sich dabei höchstens um einen pragmatischen sozialen Ratschlag. Doch Rabbi Mosche Sofer hat zwei Kategorien ausgemacht, die unser Verhalten bei einer wohltätigen Handlung bestimmen. Die erste betrifft den Menschen, der dabei ist finanziell zu straucheln. In diesem Fall ist es das Ziel der Wohltätigkeit ihn zu unterstützen. Die zweite Kategorie betrifft den bereits ruinierten Menschen, dem man in seiner Situation beistehen muss. Die Hilfe im ersten Fall soll den psychologischen und finanziellen Zusammenbruch verhindern; die persönliche und gesellschaftliche Situation des betreffenden Menschen soll bewahrt werden, es ist dafür zu sorgen, dass er seine Position und Würde beibehält. Doch sobald ein Mensch bereits zuammengebrochen ist, sind nur noch seine grundlegenden Bedürfnisse abzudecken, bis G’tt sich seiner erbarmt und ihn aus seiner erniedrigenden Lage erlöst. Die von Rav Papa ausgearbeitete Unterscheidung zwischen der Situation eines Menschen vor dem kritischen Zustand, der ihn zum Erbetteln öffentlicher Zuwendung zwingt, und einem Menschen, der diesen schlimmen Zustand bereits erreicht hat, entspricht nämlich der Unterscheidung zwischen demjenigen, der noch auf eigenen Beinen steht - wenigstens von aussen gesehen - und den man unterstützen muss, damit er in diesem Zustand bleibt, und demjenigen, der bereits am Boden liegt. Hier ist die Herkunft der Hilfe - von der Gemeinde oder von Privatpersonen - völlig unwichtig, was hier zählt ist die Position des Menschen, der in Schwierigkeiten steckt. Daraus folgt, dass der Mensch der ersten Kategorie unterstützt werden muss, ungeachtet der wertvollen Gegenstände, die er besitzt, und ungeachtet der Ausstattung seiner Wohnung.
Diese juristische Entscheidung ist fest in der Definition der Wohltätigkeit gemäss dem jüdischen Recht verankert. Gemäss dem Sefer Ha’hinuch (Gebot 66) - einer berühmten Abhandlung über die Gebote der Torah aus dem 13. Jh., die Rabbi Aaron HaLevy von Barcelona zugeschrieben wird - hat uns G’tt die Wohltätigkeit nicht befohlen, um den Armen zu helfen. «Wäre dies der Fall gewesen, hätte G’tt die Bedürfnisse der Armen ohne unsere Unterstützung erfüllen können.» Es gibt zwei andere Motive, welche die Pflicht zur Wohltätigkeit erklären. «G’tt wollte, dass seine Kreaturen zur Barmherzigkeit und zum Mitgefühl erzogen und geführt werden, weil es lobenswerte Eigenschaften sind und weil die Menschen, die sie erwerben, die unendliche Güte G’ttes verdienen.» Das zweite Motiv ist folgendes: «G’tt möchte, dass der Lebensunterhalt der Armen von anderen Menschen bestritten wird (und nicht von G’tt selbst), weil diese Menschen gesündigt haben und folglich bereuen werden.» Es scheint, dass diese beiden Gründe den zwei Kategorien entsprechen, die von Rabbi Mosche Sofer aufgestellt wurden. In der ersten Kategorie, analog zum ersten Motiv, darf die Wohltätigkeit nicht herablassend, bevormundend sein, sie muss im Sinne einer weitgehenden Identifizierung mit der Not leidenden Person erfolgen. Folglich darf die angebotene Hilfe nicht mit Forderungen einhergehen, wie z.B. einer Herabsetzung des Lebensstandards, die dem armen Menschen widerwärtig vorkommen könnte.
Rabbi Sofer fügt hinzu, dass gemäss dem Kodex von Rabbi Yacov Ba’al Haturim (Yorè Dea Abs. 253) auch der in die erste Kategorie fallende Arme nur sein teures Geschirr und sein wertvolles Besteck behalten darf, nicht aber andere Wertgegenstände. Er weist darauf hin, dass die oben genannte Gemarah einräumt, dass Gegenstände von minderer Qualität (als Ersatz für das Gold) für gewisse Menschen ‘widerwärtig’ scheinen können, die es nicht gewohnt sind arm zu sein; sie verwendet aber den Begriff inakzeptabel, wenn von billigeren Möbeln die Rede ist. Zu jener Zeit, als die Spenden für die Armen in Form von Ackerfrüchten erfolgten, die nach der Ernte auf dem Feld liegen blieben, wurde dem Not leidenden Menschen keine Erniedrigung aufgezwungen, er musste nicht einmal seine Möbel gegen inakzeptable Möbel eintauschen. In unserer Zeit besteht die Wohltätigkeit hingegen aus Geldspenden, und da wird vom Armen verlangt, dass er seinerseits Anstrengungen unternimmt: er soll versuchen, inakzeptable Veränderungen zu akzeptieren und nur auf diejenigen verzichten, die er wirklich widerwärtig findet. Dabei handelt es sich nicht um eine bevormundende Haltung, sondern um ein Vorgehen, bei dem die Situation aus der Sicht des armen Menschen selbst beurteilt wird. Von anderen Hilfe anzunehmen ist immer peinlich, doch wenn der Notleidende in der Lage ist, selbst etwas zu tun, um sich selbst zu helfen, fühlt er sich besser dabei. Die auf den Feldern zurückgelassenen Gaben oder die Spenden, die bereits für die Armen bestimmt sind, sind weniger problematisch als Geldspenden, die ausdrücklich als Almosen gesammelt werden: es ist folglich normal, dass der Spendenempfänger sich im zweiten Fall mehr anstrengen muss.
Die Schlussfolgerungen, die sich in Bezug auf die oben beschriebene Situation von Kehilah aufdrängen, sind folgende: Sich an die Arbeitslosen wenden und ihnen zu helfen versuchen, bevor ihre Lage wirklich katastrophal wird (und sie sich selber an die Gemeinde wenden), entspricht einem adäquaten und der Halachah folgenden Vorgehen. Darüber hinaus ist es allen anderen Formen der Wohltätigkeit überlegen, da die Wohltätigkeit in Form von Geld auch erfolgt, um den Spendern die Eigenschaften des Mitgefühls und der Anteilnahme zu verleihen. Sie steht beispielsweise über der Wohltätigkeit, die zu Gunsten von Fremden oder Kranken geschieht, weil es eben viel einfacher ist jemandem zu helfen, den man leiden sieht, als jemandem Geld zu geben, der kurz vor dem finanziellen Zusammenbruch steht: die Eigenschaften, die uns die Torah beibringen möchte, werden umso nachhaltiger erworben, wenn wir dieser natürlichen Neigung widerstehen müssen.
Die von den Geldverwaltern vorgeschlagene Pauschallösung wird jedoch nicht gerechtfertigt. Die Unterstützung zu Gunsten des Mannes, der seine Stelle verloren hat, muss so erfolgen, dass er seine bisherige Position und seine Würde bewahren kann; er muss seinerseits versuchen, seine Ausgaben in allen Bereichen nach Möglichkeit zu reduzieren. Wenn die zur Verfügung stehenden Mittel nicht ausreichen, um alle Notleidenden zu unterstützen, müssen sie wenigstens unter ihnen allen verteilt werden. Es bleibt zu hoffen, dass G’tt sich um das Übrige kümmert, sobald die Menschen wohltätig gehandelt haben, wie es ihre Pflicht ist, und die Armen mit dem erforderlichen Respekt behandeln.

* Rabbiner Schabtai A. Rappoport leitet die Yeschiwah «Schwut Israel» in Efrat (Gusch Etzion). Er hat vor kurzem die letzten beiden Bände der Responsen herausgegeben, die von Rabbiner Mosche Feinstein, s.A., geschrieben wurden. Er entwickelt gegenwärtig eine Datenbank, die alle aktuellen Themen der Halachah umfasst. Richten Sie Ihre Fragen oder Kommentare an folgende E-Mail-Adresse: shrap@bezeqint.net.