Jerusalem und der Vatikan
Von Roland S. Süssmann
«Diplomatische Beziehungen» sind in Wirklichkeit nur ein Werkzeug, das im Allgemeinen die mehr oder weniger freundschaftlichen oder engen Verbindungen widerspiegelt, die ihrerseits immer korrekt einem gewissen Protokoll oder gar genauen Regeln entsprechen, wie es der Austausch zwischen zwei Ländern vorschreibt. Da es sich um einen Mechanismus handelt, ist es ausgeschlossen, dass ein gefühlsmässiges Element einbezogen wird. Israel jedoch unterhält mit einer Reihe von Ländern Beziehungen, die diesen Aspekt durchaus auch umfassen. Ganz zuoberst auf dieser Liste stehen Deutschland, Polen und der Vatikan. Jeder dieser drei Staaten weist einen ganz besonderen historischen Bezug zum jüdischen Volk und zu Israel auf. Mit diesem Gedanken vor Augen haben wir S.E. ODED BEN-HUR getroffen, den israelischen Botschafter beim Heiligen Stuhl in Rom.

Die Beziehungen zwischen Israel und dem Vatikan scheinen extrem vielschichtig zu sein. Wie würden Sie diese definieren, nachdem fast zehn Jahre seit der gegenseitigen offiziellen Anerkennung verflossen sind?

Es sind effektiv sehr spezielle Beziehungen und ich glaube nicht, dass es auf der ganzen Welt ein anderes Land gibt, das diese Art von Austausch mit dem Heiligen Stuhl unterhält. Unsere Beziehungen sind eigentlich in drei Kategorien unterteilt: das in Israel liegende Zentrum der jüdischen Welt und das Zentrum der katholischen, apostolischen und römischen Welt in Rom, den Staat Israel und den vatikanischen Staat aus rein weltlicher Sicht und schliesslich die katholische Kirche und Israel. Um die Natur unserer Beziehungen wirklich zu verstehen, muss man wissen, dass jedes der soeben von mir aufgeführten Elemente eine besondere Rolle spielt und direkt in jeden Beschluss einbezogen wird. Ausserdem drängt sich ein kurzer geschichtlicher Abriss auf. Die Beziehungen zwischen der katholischen Kirche und dem jüdischen Volk sind allgemein bekannt, doch ich muss dennoch daran erinnern, dass erst am 30. Dezember 1993 (45 Jahre nach der Staatsgründung!!!) ein Grundsatzvertrag zur Regelung der Beziehungen zwischen Israel und dem Vatikan unterzeichnet wurde. Sechs Monate später, d.h. am 15. Juni 1994, öffnete unsere Botschaft ihre Tore und setzte damit die tatsächliche Aufnahme der diplomatischen Beziehungen konkret um. Die Tatsache, dass es uns gelungen ist, die Normalisierung unserer Beziehungen einzuleiten, stellt an und für sich schon ein Ereignis dar. Es handelt sich nämlich nicht um einen herkömmlichen Austausch zwischen zwei Staaten. Eine fast zweitausendjährige gemeinsame, sowohl dramatische als auch bewegte Geschichte bewirkt, dass wir nicht einfach normale Beziehungen haben können. Nun pflegen wir aber seit rund zehn Jahren diplomatische Beziehungen und bis heute bin ich der vierte israelische Botschafter, der auf diesen Posten ernannt wurde. Im Zusammenhang mit dem Grundsatzabkommen von 1993 muss Israel aber eine Reihe von konkreten materiellen Problemen regeln, bevor vollständige diplomatische Beziehungen hergestellt werden können. Dies betrifft alle Fragen in Bezug auf den gesetzlichen Status der Kirche im Heiligen Land, alles, was sich auf heilige Orte bezieht, auf Fragen der Exterritorialität, der Justiz, des Grundeigentums, der Steuern usw. Aus diesem Grund stecken wir gegenwärtig mitten in einer Diskussion, an der einerseits eine Delegation des Vatikans und andererseits Vertreter des Finanz-, Justiz-, Aussen- und Kultusministeriums usw. beteiligt sind. Einmal im Monat treten diese Kommissionen zu einer intensiven Arbeitssitzung zusammen und versuchen alle Probleme zu lösen. Um das Ausmass dieses Vorgehens besser verständlich zu machen, möchte ich an dieser Stelle daran erinnern, dass es allein in Bezug auf die Immobilienfragen eine Liste mit mehreren Dutzend heiligen oder von der Kirche beanspruchten Stätten gibt, deren genauer Status festgelegt werden muss. Neben den rein technischen Fragen tauchen regelmässig politische Fragen auf. Eine heute vom Vatikan zurückgeforderte Kirche, die sich zunächst in den Händen der Türken, dann der Engländer befand und heute im Besitz von Israel ist, kann Gegenstand einer politischen Entscheidung werden. Dies ist zum Beispiel eine Frage, die nicht von den Gerichten entschieden werden kann und die von einer politischen Entscheidung seitens der israelischen Regierung abhängt. Ich darf sagen, dass auf beiden Seiten viel guter Wille vorhanden ist, um für alle Probleme eine für beide befriedigende Lösung zu finden. Hier in der Botschaft haben wir es uns zum Ziel gesetzt, den laufenden Dialog bis Dezember dieses Jahres mit einem endgültigen Vertrag zu beenden. Dadurch hätten wir nach zehnjährigen grundlegenden Verhandlungen die Möglichkeit, gemeinsam zur zweiten Phase überzugehen, deren wichtigstes Ziel natürlich darin bestünde, die Festlegung einer Definition vorzubereiten, welche die Natur unserer Beziehungen in den nächsten zehn Jahren bestimmt.

Mit welcher Einstellung gehen Sie an die Vorbereitung dieser «zweiten Phase» heran?

Es ist absolut unerlässlich, dass die nächsten zehn Jahre eine Periode der echten Normalisierung darstellen und dass der Vatikan keine «Ausnahme» mehr in unseren bilateralen Verträgen mit anderen Nationen verkörpert. Wir wünschen Beziehungen zu diesem Staat zu pflegen, wie zu allen anderen Ländern, und wirtschaftliche, wissenschaftliche, medizinische und kulturelle Vereinbarungen mit ihm zu unterzeichnen. Wir möchten im Kampf gegen den Antisemitismus und den Terrorismus mit ihm kooperieren und in einen politischen Dialog treten können. Wir arbeiten schon heute mit den Delegierten des Vatikans daran, die Grundlagen für die neue Vereinbarung zu schaffen, die gegen Jahresende in grossen Umrissen anlässlich einer offiziellen Unterzeichnungszeremonie paraphiert werden könnte, an der hohe politische Würdenträger beider Staaten teilnehmen werden. Ich möchte jedoch betonen, dass unsere bilateralen Beziehungen nie so simpel und normal sein werden wie mit anderen Ländern. Sie werden immer ihre Besonderheit bewahren, und in diesem Rahmen werden wir versuchen eine Art «Normalität» zu schaffen. Natürlich gibt es zahlreiche Bereiche, in denen wir kooperieren können, doch ein Element dominiert alle unsere Beziehungen: es ist die Frage nach der Zukunft der christlichen Gemeinschaft im Heiligen Land, die auch die Regionen betrifft, die zurzeit von der palästinensischen Autonomiebehörde verwaltet werden. Das Wohlergehen der christlichen Gemeinschaft ist eng mit der Situation des israelischen Staates verbunden. Sind wir stark, wirtschaftlich gesund und leben wir in Frieden, profitieren die bei uns lebenden Christen als erste von diesem glücklichen Umstand. Ist unsere Lage hingegen schwierig, leiden auch die Christen darunter. So bitten wir den Vatikan um Hilfe, damit wir bei unserem politischen Vorgehen und auf dem Weg des komplizierten politischen Prozesses, den wir erst eben in Angriff nehmen, Erfolg haben. Es wird ein langer und harter Weg sein, und deshalb wünschen wir uns, dass der Vatikan sich mit Geduld wappnet und darauf verzichtet, jedes Mal Druck auszuüben, sobald die Entwicklung ins Stocken gerät. Darüber hinaus glaube ich, dass der Vatikan eine entscheidende Rolle vor Ort spielen kann, ohne dazu politisch aktiv zu werden. Wie Sie wissen, befinden sich eine Milliarde Menschen im Einflussbereich des Vatikans. Um den Frieden mit unseren arabischen Nachbarn voranzutreiben, sollte der Vatikan Pilgerreisen überall ins Gelobte Land veranstalten, einschliesslich nach Jordanien. Wenn Tausende von Pilgern nach Israel reisten, würde der Vatikan zwei Fliegen mit einer Klappe treffen: er würde den Tourismus und die Wirtschaft des Landes stärken und dazu auch beweisen, dass es tatsächlich möglich ist, auf völlig normale Art in diese Region der Welt zu reisen. Er würde sich somit an der Erbringung des konkreten Beweises beteiligen, dass die Menschen in unserer Gegend in Frieden leben können und dass man sich hier unbehelligt bewegen kann. Anlässlich meiner Kontakte mit dem Vatikan fand diese Idee einigen Anklang, meine Gesprächspartner teilen meine Ansicht, dass für den Vatikan die Zeit gekommen ist, diese Art von Reiseprogramm in grossem Massstab aufzuziehen.
Man muss sich allerdings wohl bewusst sein, dass der Vatikan auch deswegen um die Entwicklung des politischen Prozesses im Nahen Osten besorgt ist, weil es in den arabischen Ländern sehr viele Kirchen gibt und er sich um deren Schicksal ängstigt. Wir wollen, dass der Vatikan versteht, dass der Staat Israel sich für das Wohlergehen der christlichen Gemeinschaften verantwortlich fühlt und alles unternimmt, damit sie freien Zugang zu den heiligen Stätten und völlige Glaubensfreiheit geniessen. Darüber hinaus möchten wir, dass die Christen sich bei uns in Sicherheit fühlen und ein Leben führen können, bei dem ihnen alle Rechte gewährleistet sind.

Damit geben Sie zu verstehen, dass sich die Beziehungen zwischen Israel und dem Vatikan an einem Wendepunkt befinden. Wie wird sich dieses Verhältnis Ihrer Ansicht nach weiterentwickeln?

Wir stehen am Ende einer Periode, in der es um den Aufbau eines Vertrauensklimas ging, und ich wünsche mir, dass der Vatikan sich der Zusammenarbeit mit uns und dem Verständnis unserer Bedürfnisse gegenüber als offener erweist. Wenn ich von Zusammenarbeit spreche, denke ich in erster Linie an den Kampf gegen den Terror, gegen den palästinensischen und arabischen Extremismus im Allgemeinen. Es wäre ebenfalls sinnvoll, wenn der Vatikan uns bei unseren Bemühungen unterstützen würde, und zwar nicht durch das Aufdrängen einer Lösung, sondern mit Geduld und gesundem Menschenverstand. Im Vatikan besteht die Wirksamkeit der Beziehungen, wie überall, aus der Qualität der Kontakte zwischen den Menschen und nicht aus dem Dialog zwischen irgendwelchen Ministerien. Wir wissen auch, dass die Uhren des Vatikans nicht gleich schnell ticken wie diejenigen in Israel, wo wir sofortige Resultate verlangen. Die Uhren im Vatikan schlagen nicht alle Viertelstunden, sondern nur alle tausend Jahre... Wir sind uns dieser Tatsache bewusst und deshalb bauen wir unsere Beziehungen ganz langsam auf, setzen Stein auf Stein, unter grossen Mühen manchmal und manchmal mit einigem Erfolg. Ich denke auch, dass die Aufgabe unserer Botschaft diejenige der simplen Repräsentation beim Vatikan übersteigt. Unsere Anwesenheit hier schafft nämlich einen Ort der Begegnung, ja sogar eine Referenz, zwischen den grossen katholischen Gemeinden in der Welt und in Israel. Von hier aus entwickeln wir diese Kontakte und versuchen zu verstehen, wie wir die Botschaft Israels an diese Gemeinschaften weiterleiten. Im Allgemeinen erfolgt er später über die Vermittlung unserer lokalen Botschaften, die das Land, in dem sie sich befinden, sehr gut kennen, aber oft keinen Zugang haben zu den notwendigen Subtilitäten der kirchlichen Sprache, um eine Bevölkerung anzusprechen, die nicht nur brasilianisch (zweihundert Millionen Katholiken) oder amerikanisch (fünfundsechzigtausend Katholiken) ist, sondern vor allem katholisch und der apostolischen und römischen Kirche nahe stehend. Meiner Überzeugung nach werden wir in Zukunft eine immer gewichtigere Rolle als Verbindung zwischen Israel und der katholischen Welt spielen müssen. Dies widerspiegelt sich übrigens bereits im Kampf gegen den Antisemitismus, wo wir im indirekten Bildungsbereich eine bedeutende Aktivität entwickeln müssen.

Alle von Ihnen erwähnten Bereiche sind letztendlich recht technischer Art. In Ihrer Eigenschaft als israelischer Botschafter sind Sie jedoch in erster Linie Botschafter des jüdischen Volkes. Auf dieser Ebene existiert ein gewichtiger Streitfall zwischen der Kirche und der Synagoge. Wie gehen Sie mit diesem Aspekt Ihrer Aufgabe um?

Wie ich bereits zu Beginn unseres Gesprächs sagte, gehört die Frage der Religion zu den drei Grundpfeilern, die unsere Beziehungen zum Vatikan bestimmen. In diesem Sinne befasst sich einer der wichtigsten Absätze der 1993 unterzeichneten Grundsatzvereinbarung mit dem Dialog zwischen den Religionen. Dieser Aspekt unserer Beziehungen wird folglich den rabbinischen Behörden in Israel anvertraut, die in permanentem Kontakt mit ihren Amtskollegen im Vatikan stehen. Im kommenden September wird eine weitere Sitzung mit religiösen Gesprächen stattfinden, in deren Verlauf grundlegende Fragen der Moral und des Glaubens aufgeworfen werden. Der Dialog beruht auf der wesentlichsten der wesentlichen Grundlagen, den Zehn Geboten, die auch einen Kodex für das Leben in der Gesellschaft darstellen. In diesem Bereich ist die Botschaft nicht direkt an den Verhandlungen beteiligt, sie spielt die Rolle des Koordinators. Wir stellen natürlich unsere Dienste zur Verfügung, damit jeder weitere Schritt so weit wie möglich erleichtert wird.

Wie steht es um die Archive des Vatikans betreffend die Schoah?

Sie bleiben gegenwärtig noch verschlossen und werden nicht zugänglich gemacht.

Es ist allgemein bekannt, dass der Vatikan einen kostbaren Bestand an rituellen jüdischen Büchern und Kultgegenständen besitzt. Sprechen Sie mit Ihren Amtskollegen über dieses Thema?

Der Vatikan hat es heute akzeptiert, einen Katalog dieser Gegenstände zu erstellen. Wir stehen am Beginn eines langwierigen Prozesses, der im Tempo der «vatikanischen Uhren» voranzuschreiten droht, doch schon nur die Tatsache, dass wir ein Abkommen zu diesem Thema erreicht haben, kann bereits als sehr erfreulich vermerkt werden.

Die Beziehungen zwischen Israel und dem Vatikan sind vielschichtig und schwierig, und doch herrscht der Eindruck vor, dass Sie in Bezug auf die Zukunft optimistisch eingestellt sind. Weshalb?

Meine Zuversicht hat verschiedene Quellen, und wir erleben ja im Grossen und Ganzen und mit Höhen und Tiefen eine positive Entwicklung unserer bilateralen Beziehungen. An dieser Stelle möchte ich daher ein Beispiel für eine gelungene Zusammenarbeit zwischen Israel und dem Vatikan anführen, die in keinem Vertrag vorgesehen war. Im Süden der Sahara, in der Sahel-Region, lebt eine katholische Bevölkerung, die zwar eine Minderheit darstellt, die aber unter einem Problem beim Wassertransport leidet. Es existiert aber eine einfache, in Israel entwickelte Technologie, die genau dieses Problem löst. Heute wird der lokalen Bevölkerung dank einem vom Vatikan finanzierten Projekt ermöglicht, in den Kursen der israelischen Experten, die dorthin entsandt wurden, zu lernen, wie dieses Wasser, dieser kostbare Lebensquell, gesammelt und weitergeleitet werden kann. Damit wird bewiesen, dass nicht alle Formen der Zusammenarbeit notwendigerweise rein politisch sein müssen...