Serbien: Gestern - Heute - Morgen? | |
Von Roland S. Süssmann | |
Jugoslawien im Allgemeinen und Serbien im Besonderen sind die letzten Länder Westeuropas, die einen echten Krieg und in der Folge eine wirkliche Revolution erlebt haben. Der Balkankrieg, die Bombenangriffe der NATO, die Ausschweifungen und schliesslich der Sturz von Milosevic durch einen Aufstand des Volkes sind jedem von uns noch in deutlicher Erinnerung. Diese Ereignisse haben zwar lange Zeit für Schlagzeilen in der Presse gesorgt, doch das Schicksal der jüdischen Bevölkerung wurde dabei fast nie erwähnt. Daher haben wir beschlossen, unsere jugoslawischen Glaubensbrüder aufzusuchen, um ein genaueres Bild von der gegenwärtigen Situation der jüdischen Gemeinde vermitteln zu können und zu entdecken, was sie heute am meisten beschäftigt und wie die Verantwortlichen die Zukunft vorbereiten. Zu diesem Zweck haben wir MISCHA LEVI getroffen, den Präsidenten der jüdischen Gemeinde von Belgrad; sie ist die wichtigste des Landes, da ihr von den 3200 Juden (gemäss den Kriterien des Gesetzes über die Rückkehr nach Israel), die in Serbien und Montenegro leben, ungefähr 2000 als Mitglieder angehören. So sind ca. ein Drittel der Menschen in der Gemeinde authentische Juden gemäss der Gesetzgebung der Halacha, d.h. sie haben eine jüdische Mutter. Doch die Gemeinschaft folgt einer alten Tradition und nimmt auch all jene auf, die nur über einen jüdischen Vater oder gar Grossvater verfügen. In bestimmten Gemeinschaften besitzen die nichtjüdischen Ehegatten weder passives noch aktives Wahlrecht, profitieren aber von allen Vorteilen, die ihnen die Zugehörigkeit zur Gemeinde bietet. Wie überall in Osteuropa wird die jüdische Bevölkerung immer älter und umfasst noch zahlreiche Überlebende der Schoah. Die sozialen Dienstleistungen machen einen grossen Teil der Gemeindeaktivitäten aus, und die aus den Mitgliederbeiträgen bestehenden finanziellen Mittel reichen nicht aus, um alle Bedürfnisse abzudecken. Das American Joint Distribution Committee und das Jewish Relief in London kommen durch ihre Spenden für das Defizit auf. Es ist eine interessante Tatsache, dass die Gemeinde bis ins Jahr 2000 in ihren Räumlichkeiten eine Volksküche führte, die mittags gegen ein geringes Entgelt eine warme Mahlzeit anbot. Dieses System wurde abgeschafft und durch Einkaufsgutscheine ersetzt, die in den Supermärkten gültig sind und an ca. hundert Personen verteilt wurden. In Novi Sad, der zweitgrössten Gemeinschaft des Landes, zu der ungefähr 300 Juden gehören, wurde in Zusammenarbeit mit dem ökumenischen Rat eine Volksküche eingerichtet. In Belgrad erhalten diejenigen Menschen, die gemäss einer Skala auf der Grundlage des Existenzminimums als Not leidend gelten, eine direkte und gezielte finanzielle Unterstützung. Die Gemeinschaft verfügt ebenfalls über einen medizinischen Dienst, der von jüdischen Ärzten sowie einer Apotheke mitgetragen wird; letztere liefert eine Reihe von Medikamenten, die bei den staatlichen Einrichtungen nur schwer zu bekommen sind. Die Gemeinde befindet sich also, vor allem in finanzieller Hinsicht, in einer ziemlich komplizierten Lage, und es stellt sich die gleiche Frage wie in zahlreichen anderen Gemeinden Osteuropas, wie nämlich die Zukunft aussehen wird. Wie bereiten Sie als Leiter der Gemeinde Ihre Gemeinschaft auf die Zukunft vor? Nach dem Zweiten Weltkrieg haben unsere Eltern, wenn sie das Massaker überlebt hatten, die Gemeinschaft wieder aufgebaut, auch wenn sie davon überzeugt waren, nach ihnen würde es keine Juden mehr in Jugoslawien geben. Die Entwicklung hat aber das Gegenteil bewiesen, denn ihre Kinder haben das jüdische Leben hier weiter aufrecht erhalten, und heute ist schon die nächste Generation wieder bereit, unsere Arbeit fortzuführen. Einige dieser jungen Leute zeichnen sich übrigens bereits heute durch eine sehr enge Verbundenheit mit der Gemeinschaft aus. Es ist bei uns genauso wie anderswo, es gibt Mitglieder, die wir nur zu festlichen Gelegenheiten sehen, und es gibt andere, die von verschiedenen Vorteilen - in der Regel materieller Art - profitieren möchten, welche die Gemeinde anbietet; letztere sind natürlich nicht bereit, ehrenamtliche Arbeit zu leisten. Das reibungslose Funktionieren unserer Gemeinschaft beruht aber gerade auf der kostenlosen Mithilfe. Glücklicherweise besitzen andere Menschen dieses Verantwortungsgefühl gegenüber den Institutionen und dem jüdischen Leben in unserer Stadt, und sie sind es, die immer da sind, um schwierige und sehr unterschiedliche Aufgaben zu übernehmen. Unsere Gemeinde beschäftigt insgesamt sechs Angestellte, die gesamte übrige Arbeit wird von ehrenamtlichen Helfern übernommen. Was die geistige und intellektuelle Ebene der Gemeinde angeht, werden wir, denke ich, auch in Zukunft ein jüdisches Leben führen, das dem Vorbild unserer Eltern entspricht, es wird sich also mehr auf eine starke jüdische Identität im kulturellen Bereich stützen und weniger auf das eigentliche Praktizieren der Religion ausgerichtet sein, obwohl diese sich gegenwärtig im Aufwind befindet. Ich denke, dass das ganze Land allmählich zu einem etwas frommeren Leben zurückkehrt, von dieser Entwicklung ist auch die jüdische Gemeinschaft nicht ausgeschlossen. Ihre Gemeinde setzt sich grösstenteils aus Mitgliedern zusammen, die gemäss den Regeln der jüdischen Gesetzgebung eigentlich gar keine Juden sind. Sie haben bestimmt gute Gründe die Statuten so zu belassen, dass sie vollberechtigte Mitglieder der Gemeinschaft werden und bleiben dürfen. Welche Gründe veranlassen Ihrer Meinung nach diese Menschen, die vor dem Gesetz keine Juden sind, sich mit Ihnen identifizieren zu wollen? Ich denke, das die meisten von ihnen sich aus persönlichen Gründen als Juden fühlen, wie z.B. wegen Herkunft, Vorfahren, Ehegatte usw. Es gibt aber auch ein Element, das davon unabhängig ist und direkt mit der Entwicklung des Landes verknüpft ist. Zur Zeit der jugoslawischen Föderation besass die wirkliche Identität eines Menschen keine Bedeutung. Jeder wusste, dass er Serbe, Kroate, Slowene war oder aus Mazedonien oder Bosnien-Herzegowina stammte, die Juden wiederum besassen ihre jüdische Nationalität. Als die Föderation auseinanderbrach, wurden die verschiedenen nationalen Faktoren wieder wichtiger, jeder ist in seine "Herde" zurückgekehrt. Die Juden, die mit ihrer Gemeinschaft keineswegs eng verbunden waren, näherten sich ihr zwangsläufig wieder an, da sie sonst überall verstossen wurden. Darüber hinaus war nach dem Zweiten Weltkrieg ein recht interessantes Phänomen zu beobachten: 70- 90% der Kinder aus gemischten Ehen bezeichneten sich als Juden und hatten auch das Gefühl, Juden zu sein. Damals wurden die Kulturen und symbolischen Traditionen der Völker, aus denen sich die jugoslawische Föderation zusammensetzte, vom Regime ein wenig erstickt, da dieses versuchte jede Form von Nationalismus zu unterdrücken. Die Regierung hatte aber keinen Versuch unternommen, Elemente im Zusammenhang mit der jüdischen Identität zu unterdrücken. Man muss ebenfalls betonen, dass es zu jener Zeit keinerlei materielle Vorteile mit sich brachte, Mitglied der Gemeinde zu sein, damit drückte man nur ein Gefühl und eine persönliche Entscheidung aus. Man muss ebenfalls wissen, dass die Gemeinde als solche vor dem Zweiten Weltkrieg und bis zu Beginn der 90er Jahre weder gläubig noch fromm war, sie verkörperte eher eine Art von Zusammenschluss von Menschen, die eine ähnliche Identität aufwiesen. Zur Zeit des Kommunismus waren religiöse Gefühle im täglichen Leben praktisch inexistent. Seit dem Beginn der 90er Jahre geht jedoch der Anstieg des Nationalismus mit einer gewissen allgemeinen Wiederbelebung der Frömmigkeit einher, und zwar in allen Bevölkerungsgruppen der ehemaligen Staaten der Föderation. Die jüdische Gemeinschaft hat diese Entwicklung ebenfalls erlebt, ich denke aber nicht, dass der Anteil der frommen Mitglieder gegenwärtig sehr hoch sein dürfte. Welches ist Ihre Hauptsorge und welche Prioritäten setzen Sie? Ich möchte zwei Dinge entwickeln: die Teilnahme an Aktivitäten der Gemeinde und die ehrenamtliche Mitarbeit. Alle unsere kulturellen Veranstaltungen haben direkt mit jüdischen Themen zu tun und meines Erachtens nehmen heute noch viel zu wenige Leute daran teil. Das Problem der freiwilligen Mithilfe ist viel schwieriger und heikler, da wir es seit dem Beginn der 90er Jahre oft mit Menschen zu tun haben, die nichts anderes wollen als sich in Szene zu setzen oder von ihrer so genannten "ehrenamtlichen" Tätigkeit zu profitieren hoffen. Wie steht es heute um den Antisemitismus in Jugoslawien? Obwohl die Regierung, die in den 60er und 70er Jahren im Amt war, sich ganz bewusst für eine pro-arabische Politik entschieden hatte, litten wir nie unter Antisemitismus. In jener Zeit war vielmehr ein widersprüchliches Phänomen zu beobachten. Die Presse, die unter der absoluten Kontrolle des Regimes stand, verbreitete eine sehr eindeutige anti-israelische und anti-zionistische Propaganda, kritisierte aber im Gegenzug jede Form von Judenfeindlichkeit. Das Regime verbot es ausdrücklich, das Thema Israel in irgendeiner Weise mit den Juden in Verbindung zu bringen. Die Kirche besass sozusagen keinen Einfluss, die Frage des Gottesmordes war nie erwähnt worden. Am Anfang der 90er Jahre trat eine Veränderung ein. Die Pressefreiheit wurde von einigen mit der Freiheit verwechselt, Bosheiten zu verbreiten, es wurden mehrere antisemitische Werke veröffentlicht. Diese Entwicklung war in Wirklichkeit direkt mit der orthodoxen Kirche Serbiens verbunden, die es nie akzeptiert hatte, das Dogma vom jüdischen Gottesmord aufzuheben. Dennoch pflegen wir sehr gute Beziehungen zum Patriarchat. Wegen der westlichen Sanktionen hatte sich der serbische Handel vor allem in der UdSSR entwickelt, wo ein sehr scharfer Antisemitismus verbreitet war, der allmählich auch hierher drang und sowohl gewisse Verhaltensweisen beeinflusste als auch in der Literatur auftauchte, auf der Grundlage der "Protokolle der Weisen von Zion". Erinnern wir doch an die interessante Tatsache, dass die absurde These von der Kontrolle der Juden über die Welt anlässlich der Bombardierungen durch die NATO auf fruchtbaren Boden fiel, da sich an den Schlüsselpositionen Madeleine Albright sowie mehrere andere amerikanische Spitzenpolitiker befanden, deren Namen jüdisch klingen. Die serbischen Antisemiten hatten diese Gelegenheit ergriffen, um der Bevölkerung zu beweisen, dass es sehr wohl ein "jüdisches Komplott gegen die Serben" gebe. Uns traf in der Folge eine erneute Welle der Judenfeindlichkeit und eine Flut von antisemitischen Taten, die sich vor allem gegen unsere Friedhöfe richteten. Diese Form des Antisemitismus ist heute etwas zurückgegangen, doch sie wird immer noch von der arabischen Propaganda genährt. Es ist eine vollständige antisemitische Literatur ungehindert im Umlauf, "Mein Kampf" und "Die Protokolle der Weisen von Zion" gehen offen über den Ladentisch. Ein einheimischer Antisemit hat ca. fünfzehn Werke verfasst, von denen wir mit Müh und Not eines haben verbieten lassen können. Ausserdem treibt eine sehr aktive antisemitische Gruppierung ihr Unwesen an der philosophischen Fakultät; dieser Gruppe gehören zwar nicht viele Mitglieder an, doch sie ist dennoch sehr gefährlich, weil sie sich an die oberste intellektuelle Schicht des Landes wendet. Es gibt noch andere antisemitische Zellen und sogar Skinheads, die heute aber eher Zigeuner angreifen. Können Sie zum Schluss kurz beschreiben, wie sich das Leben der Gemeinschaft während den Bombenangriffen abspielte? Wir waren sehr gut organisiert, die Büros der Gemeinde waren Tag und Nacht geöffnet und es war jederzeit ein Verantwortlicher der Gemeinde anwesend, um auf die Bedürfnisse der Mitglieder einzugehen. Wir hatten die Frauen und Kinder nach Budapest evakuiert, denn Männer unter 60 Jahren durften das Land nicht mehr verlassen. Einige der Evakuierten sind nicht hierher zurückgekommen, sie leben heute in Israel. Wir hatten für unsere Gemeindemitglieder Reserven an Nahrungsmitteln, Wasser und Benzin angelegt. Die jüdische Gemeinschaft von Belgrad befindet sich in einer Übergangsphase. Die Pessimisten sagen, sie vegetiere vor sich hin, die Optimisten glauben an eine gewisse Erneuerung. Die Wahrheit liegt wahrscheinlich irgendwo in der Mitte. |