Machtlosigkeit oder Gleichgültigkeit? | |
Von Dr. Pamela Schatzkes * | |
Man geht in der Regel davon aus, dass die Bemühungen des englischen Judentums zur Rettung der Juden in Europa in den 30er und 40er Jahren sehr beschränkt waren, der Situation keinesfalls entsprachen, ohne Überzeugung unternommen wurden und erschreckend ineffizient ausfielen. Jüngste Nachforschungen und eine grundlegend neue Beurteilung der Ereignisse haben nun gezeigt, dass das englische Judentum der Tragödie bei weitem nicht gleichgültig gegenüber stand und während dieser gesamten Zeitspanne hartnäckige Anstrengungen unternahm. Es muss auch hervorgehoben werden, dass die jüdische Führung in Grossbritannien vor und während des Kriegs unterschiedliche Aufgaben zu übernehmen hatte, für die sie eigentlich nicht qualifiziert war. In der Zwischenkriegszeit hatte sie erfreuliche Resultate erzielt, indem sie ihre administrative Findigkeit einsetzte, finanzielle Garantien für die grundlegenden Bedürfnisse gewährte und so über 50'000 jüdische Flüchtlinge rettete. Diese Leistung ist umso eindrücklicher, wenn man das Ausmass der Katastrophe, die von den Vorschriften der britischen Einwanderungspolitik auferlegten Zwänge, sowie den chronischen Geldmangel bedenkt. Die übermenschlichen Anstrengungen des englischen Judentums in den Jahren vor dem Krieg wurden bisher nicht angemessen gewürdigt. Im April 1933 übernahmen die Verantwortlichen der jüdischen Gemeinden in Grossbritannien gegenüber der britischen Regierung die formelle Verpflichtung, die Verantwortung für die Aufnahme der jüdischen Flüchtlinge vollumfänglich zu tragen und alle anfallenden Kosten zu übernehmen. Die britische Regierung gestattete die Einreise der jüdischen Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich erst aufgrund dieser Garantie und der finanziellen Unterstützung der einheimischen jüdischen Gemeinschaft. Zwischen 1933 und 1939 trug die englische Gemeinschaft über drei Millionen Pfund Sterling zusammen, was in einer Zeit der wirtschaftlichen Depression für eine Gemeinschaft mit etwas mehr als 330'000 Mitgliedern beachtlich war. Auf der anderen Seite hat man den jüdischen Organisationen in Grossbritannien oft vorgeworfen, gegenüber gewissen Flüchtlingen diskriminierende Auswahlverfahren angewendet zu haben. Sie waren nämlich zunächst davon ausgegangen, die Zahl der Asylsuchenden würde 3000 bis 4000 Menschen nicht überschreiten. Als sich nach der Kristallnacht (im November 1938) herausstellte, dass es sehr viel mehr sein würden, mussten die englischen Juden schwierige Entscheidungen treffen und gaben vorläufig denjenigen Flüchtlingen den Vorzug, die eine private finanzielle Garantie anbieten konnten, oder aber denjenigen, die wie z.B. die jungen Leute in ein anderes Land auswandern würden, sobald sie einmal nach England gelangt waren. Zur Bewältigung dieser Katastrophe waren sehr viel mehr helfende Hände und finanzielle Mittel erforderlich, als die jüdischen Verantwortlichen in England es sich vorstellen konnten, ausserdem überstieg dies bei weitem ihre Möglichkeiten. Es ist eine interessante Tatsache, dass trotz der erwähnten Selektion zwischen dem 1. Mai 1938 und dem 1. März 1939 fast 80'000 Visa ausgestellt wurden. Heute weiss man aber auch, dass die meisten Empfänger dieser britischen Visa nie in England eintrafen. Weshalb? Viele Flüchtlinge hatten zweifellos Mühe, ihre Angelegenheiten in Deutschland endgültig zu regeln und sich die Bewilligungen zu beschaffen, die zum Verlassen dieses Landes notwendig waren. Andere hatten sich die Visa vielleicht als letzte Sicherheit besorgt und hatten sie so lange verwahrt, bis man sie nicht mehr verwenden konnte. Doch mehrere tausend Visa-Inhaber, die in den Monaten vor Kriegsausbruch legal in Grossbritannien hätten einreisen dürfen, haben es dennoch nicht getan. Man kann sich allerdings auch fragen, wie das englische Judentum auf einen derartigen Ansturm reagiert hätte. Fest steht auf jeden Fall, dass die Flüchtlinge nicht abgewiesen worden wären. Man hat dem englischen Judentum zudem auch vorgeworfen, es habe zahlreiche Kinder über den Kindertransport (1938-1939) nach Grossbritannien geholt, um sie anschliessend nichtjüdischen Adoptivfamilien anzuvertrauen, bei denen sie in der Religion ihrer Gasteltern erzogen wurden. Es hat sich gezeigt, dass die Flüchtlingsorganisationen sich zwar nach Kräften dafür einsetzten, die Kinder in entsprechende Familien zu geben, dass dies jedoch nicht immer möglich war, da die zahlreichen Aufrufe an die jüdischen Familien, einem Kind Asyl zu gewähren, nicht in ausreichender Zahl beantwortet wurden. Was die Kriegsjahre selbst betrifft, fällt die Kritik gegenüber dem englischen Judentum noch schärfer aus; die Verantwortlichen wurden angeklagt, ihre eigenen Interessen vor ihre moralischen Aufgaben gestellt zu haben. Die jüdische Gemeinschaft in Grossbritannien besass aber keinerlei politischen Einfluss und war daher nicht in der Lage, irgendetwas Konkretes zu unternehmen, es sei denn mit der Regierung zu verhandeln und sie zum Handeln zu überreden zu versuchen. Dies konnte nur dann gelingen, wenn nicht administrative Findigkeit, sondern politische Talente erfolgreich eingesetzt würden. Der Mangel an politischer Erfahrung und an diplomatischem Geschick hinderte die jüdischen Verantwortlichen auf tragische Weise daran, irgendwie Einfluss zu nehmen. Die Gleichgültigkeit Grossbritanniens gegenüber der jüdischen Katastrophe war eine direkte Folge der Einwanderungsschwierigkeiten nach Grossbritannien und Palästina, welche die Rettung der europäischen Juden in den Augen der Behörden zwangsläufig nach sich ziehen würden. Die Gleichgültigkeit der britischen Regierung angesichts der Dezimierung des europäischen Judentums beruhte auf folgender Überlegung: die Rettung der Juden würde sowohl in Grossbritannien als auch in Palästina zu Problemen bei der Einwanderung führen; eine nicht streng geregelte Immigration der Juden in England würde eine drastische Verschlimmerung des Antisemitismus bewirken; und schliesslich würde man bedeutende, für die Kriegsführung unverzichtbare finanzielle Mittel sinnlos für eine Operation vergeuden, die unbedacht, gefährlich und praktisch zum Scheitern verurteilt war. Das im Mai 1939 veröffentlichte Weissbuch beschränkte die Gesamtzahl der Immigranten in Palästina bis im März 1944 auf 75'000 Menschen, wobei nach diesem Stichtag kein Jude mehr ohne die Zustimmung der Araber einwandern durfte. Diese Massnahme bewirkte, dass Palästina als Hauptzufluchtsort während des Kriegs völlig wegfiel. Die britische Politik strebte die Wahrung der inneren Sicherheit und die Stabilität im Nahen Osten an. Sie erachtete es als notwendig, die Araber zu besänftigen, um jeden Anflug eines antibritischen Gefühles zu einem Zeitpunkt im Keim zu ersticken, da Grossbritannien es sich nicht erlauben konnte, eine grosse Zahl von Soldaten in diese Region zu entsenden. Darüber hinaus lehnte es die britische Regierung immer ab, die europäischen Juden als einen Sonderfall zu betrachten, der besonderer Schutz- und Rettungsmassnahmen würdig sei. Sie verschloss also bewusst die Ohren vor den Hilferufen und weigerte sich hartnäckig, mahnende Erklärungen in Bezug auf die kritische Situation der Juden abzugeben (im Dezember 1944 wurde die einzige derartige Erklärung abgegeben). Die britische Regierung legte bei der Anerkennung der jüdischen Nationalidentität eine ähnliche Zurückhaltung an den Tag. In ihren Augen drohte dies die deutsche Propaganda zu verstärken, die behauptete, die Alliierten würden einen "jüdischen Krieg" führen, und somit die britische Politik in Palästina behindern und nach dem Krieg zu Schwierigkeiten bei der Rückführung ins eigene Land führen. Nachdem Ende 1942 die Gerüchte betreffend die Endlösung und die Genozidpläne der Nazis bestätigt worden waren, schlug die Führung des englischen Judentums eine Reihe von Schritten mit unterschiedlicher Erfolgsquote vor: ein Bet- und Fastentag wurde veranstaltet, gefolgt von einer öffentlichen Veranstaltung; die Abgeordneten wurden bei der Regierung vorstellig, um parlamentarische Debatten anzuregen und eventuell den Papst als Vermittler einzusetzen. Sie schlugen vor, die Grenzen Palästinas ohne Einschränkung allen Flüchtlingen zu öffnen, die für das Protektorat zuständigen Staaten, die neutralen Länder und das Internationale Komitee vom Roten Kreuz einzuschalten. Einige brachten die Idee vor, bei der europäischen Abteilung der BBC Sendungen auszustrahlen, andere wollten über Deutschland Flugblätter abwerfen lassen. Ein weiterer Vorschlag: den Juden in den polnischen Ghettos den Status von Kriegsgefangenen zu verleihen, damit sie Nahrungsmittelpakete erhalten und vom Schutz profitieren könnten, der in den Bestimmungen der Genfer Konvention vorgesehen ist. Kaum eine dieser Initiativen wurde positiv aufgenommen, vor allem wegen der Tatsache, dass für die Briten der Krieg Priorität besass und die Regierung Verhandlungen mit dem Feind kategorisch ablehnte. Die Behörden betonten bei jeder Gelegenheit, der Sieg der Alliierten sei die einzige Möglichkeit, dem europäischen Judentum zu helfen. Logische Folge dieser Position: die Kriegsbemühungen wurden über alles andere gestellt. Die Meinungen in Bezug auf die Rolle Winston Churchills für das Schicksal der Juden in Europa gehen immer noch stark auseinander. Ihm schien dies alles nahe genug zu gehen, dass er bei verschiedenen Gelegenheiten öffentliche Erklärungen zu ihren Gunsten abgab. Churchill sprach sich auch privat nachdrücklich zum Thema der Schoah aus, er schrieb insbesondere im Juli 1944 an Anthony Eden: "Dies ist mit Sicherheit das grösste und schrecklichste Verbrechen, das je in der Geschichte der Menschheit begangen wurde." Michael Cohen bestätigt jedoch, Churchill sei "nicht ganz frei von antijüdischen Vorurteilen gewesen", auch wenn er einräumt, er sei wahrscheinlich "zutiefst erschüttert" gewesen von den nationalsozialistischen Verfolgungen der Juden. Cohen bekräftigt aber, "die humanitären Gefühle... schlugen sich selten, wahrscheinlich überhaupt nie, in konkreter Unterstützung nieder". Es existieren unterschiedliche Ansichten betreffend das Ausmass der antisemitischen Haltung in den offiziellen Kreisen Grossbritanniens. Einige Historiker gehen davon aus, dass die Judenfeindlichkeit bei den Entscheidungen der britischen Regierung eine gewichtige Rolle spielte. Yehuda Bauer bestätigt, dass "die britischen Dokumente nachweisen, ... dass die Beschlüsse zur britischen Position einen grossen Teil Antisemitismus enthielten, der in den internen Diskussionen offen zum Ausdruck kam". Das Foreign Office war bestimmt nicht frei von antisemitischen Gefühlen, wie dies aus den eindeutig verletzenden Kommentaren einzelner Beamter ersichtlich wird. Es ist ebenfalls nicht von der Hand zu weisen, dass die Rettung der Juden in Europa bei den Alliierten nicht als Ziel des Kriegs galt. Doch dies alles allein beweist nicht, dass die britische Politik der Kriegsjahre aktiv judenfeindlich war. Die Fakten erlauben keine Widerlegung der Aussage von Bernard Wasserstein, gemäss der "ein bewusster Antisemitismus nicht als angemessene Erklärung für das offizielle Verhalten angesehen werden darf". Die heikelsten Phasen in der Katastrophe des europäischen Judentums fielen mit den entscheidenden Schlachten der britischen und alliierten Regierungen zusammen: das Flehen der jüdischen Organisationen erfolgte demnach im ungünstigsten Moment, ohne auf Mitgefühl zu stossen. So fielen im Sommer 1944 die Deportationen in Ungarn mit dem D-Day der Landung der Alliierten in der Normandie zusammen. Mitten im Krieg galten die Anstrengungen des britischen Judentums als doppelt lästig und verärgerten die Beamten der Regierung, denen eine Realpolitik mehr am Herzen lag als eine "ethische Politik", wie das Konzept nach dem Zweiten Weltkrieg genannt wurde. Trotz der Verzweiflung und der besten Absichten der Verantwortlichen des britischen Judentums - unter ihnen Professor Selig Brodetsky, ein militanter Zionist und Präsident des Board of Deputies of British Jews, der Institution, die das Judentum in Grossbritannien offiziell vertrat - muss eingeräumt werden, dass ihr Vorgehen mit einer gewissen Naivität behaftet war. Sie machten unrealistische Vorschläge, u.a. denjenigen anfangs 1943, der vorsah, zwei Millionen Juden aus Europa zu evakuieren, was selbst in Friedenszeiten völlig absurd gewesen wäre; die ständig wiederholte Forderung, die Grenzen Palästinas zu öffnen, obwohl die britische Regierung diesem Thema gegenüber eindeutig unnachgiebig auftrat; eine weitere Idee bestand darin, Hitler um die Befreiung aller jüdischen Frauen und Kinder zu bitten. Die logistischen und militärischen Probleme, mit denen diese Strategien verbunden waren, wurden dabei nie ernsthaft erwogen. Hätte ein einziger Vorschlag erfolgreich verwirklicht werden können? Es hat sich gezeigt, dass bestimmte originelle Rettungspläne mit bescheidener Tragweite manchmal zum Erfolg führten. Rabbi Dr. Solomon Schonfeld hatte völlig unabhängig einen Plan ausgearbeitet, dank dem einige wenige Flüchtlinge ein Visum für Mauritius erhalten sollten. Schon nur die Tatsache, ein derartiges Papier zu besitzen, ermöglichte manchmal den Inhabern der Deportation zu entgehen, auch wenn es letztendlich gar nicht verwendet wurde. Schonfeld wusste, dass die britische Regierung diesem Plan positiv gegenüber stehen würde, da er als Gegenargument bei der Kritik gegenüber der Behandlung der illegalen jüdischen Einwanderer dienen könnte, die aus Palästina deportiert wurden und seit November 1940 eben auf Mauritius in Haft sassen. Die Strategie mit Mauritius hat deswegen geklappt, weil Schonfeld mit einer bescheidenen Anfrage und einer Liste von 30 Namen begonnen hatte, die mit der Zeit auf 100 erweitert wurde; letztendlich sind auf diese Weise über 1000 Menschen gerettet worden. Das englische Judentum stand der Tragödie der Juden in Europa bestimmt nicht gleichgültig gegenüber, doch es lag nicht in ihrer Macht, direkt einzugreifen. Ihr fast vollständiges Versagen ist zum Teil ihrer eigenen diplomatischen Naivität, grösstenteils jedoch der Gleichgültigkeit der britischen Regierung zuzuschreiben angesichts des Schicksals einer ausländischen ethnischen Minderheit in Zeiten eines weiter reichenden Konflikts. Auch wenn man aber ihre bedauernswerte Ungeschicklichkeit zugibt, muss man doch auch einräumen, dass die Verantwortlichen des britischen Judentums selbst in den Sog der unermesslichen Tragödie gerieten und deswegen nicht weniger Respekt verdient haben. * Dr. Pamela Shatzkes ist Schriftstellerin und Dozentin an der "London School of Economics and Political Science". |