Identität und Dasein | |
Von Roland S. Süssmann | |
Seit Jahrtausenden feiern wir nun Pessach, erzählen uns die Wunder um die Flucht aus Ägypten am Seder-Tisch, essen ungesäuertes Brot (Matzah) und bittere Kräuter (Maror), um unsere nationale Befreiung zu symbolisieren, man könnte also annehmen, das Thema sei nun erschöpft oder werde zumindest langweilig. Doch einer der besonderen Aspekte des Pessach-Festes liegt eben darin, dass es eine moderne Botschaft besitzt und uns eine Antwort auf die Fragen jeder Epoche gibt. Ihr zuhören, ein offenes Ohr schenken und verstehen, das bedeutet in Wirklichkeit "mit seiner Zeit zu gehen", kurz gesagt, "in" zu sein. Um zu erfahren, was uns an Pessach 5763 erwartet und wie uns das Fest direkt anspricht, uns in diesem Jahr führt und tröstet, haben wir eine aussergewöhnliche jüdische Persönlichkeit befragt, Rabbiner ITZCHAK DAVID GROSSMAN. Seine Geschichte und seine Tätigkeit könnten ohne weiteres eine ganze Enzyklopädie füllen. Dazu muss man wissen, dass Rabbi Grossman ein Dorf für Kinder und Jugendliche gegründet hat, in dem diejenigen Mitglieder der israelischen Gesellschaft aufgenommen werden, die wirklich in jeder Hinsicht zu kurz kommen, die Verbrecher, Drogenabhängigen, Verlassenen, Misshandelten usw. Rabbi Grossman hat beschlossen, auf diejenigen zuzugehen, die von allen anderen ausgestossen werden, irgendwann erhielt er sogar den Spitznamen "Rabbiner der Discos". Bis heute hat er sich insgesamt um sechstausend junge Leute gekümmert, die dank ihm eine Zukunft und einen würdigen Platz innerhalb der israelischen Gesellschaft haben. Eine Begegnung mit Rabbiner Itzchak David Grossman lässt niemanden unberührt, seine Güte, seine ansteckende Warmherzigkeit und vor allem seine durchdringenden und vor Intelligenz funkelnden Augen gehen jedem Gesprächspartner durch und durch. Darüber hinaus predigt er keine abstrakten Binsenweisheiten, er lässt seinen Worten konkrete Taten folgen, die täglich zu handfesten Resultaten führen. Der berühmteste Satz, den man am Seder spricht, wird von den Kindern aufgesagt, wenn sie die obligaten, im Wortlaut von "Mah Nischtanah" enthaltenen vier Fragen stellen: sie wollen wissen, worin sich diese Seder-Nacht von den anderen Nächten unterscheidet. Ändert man diese Frage um, die sich nur auf die Nacht dieses Feiertages bezieht, könnte man auch sagen: "Worin unterscheidet sich das Pessach-Fest in diesem Jahr von allen anderen in früheren Jahren?" Es stimmt, wir machen harte Zeiten durch. Israel wird von Gewalttaten und einer Wirtschaftskrise erschüttert, die Diaspora erzittert unter dem erneuten Aufkommen des Antisemitismus, von dem jedermann glauben wollte, er sei für immer verschwunden, und für die gegenwärtigen Probleme scheint es keine Lösung zu geben. Wenn zwei Juden sich begegnen, fragen sie sich gegenseitig: Was wird als Nächstes passieren? Was können wir tun? Wir sind sehr besorgt, wie haben ein phantastisches Land, eine starke Armee, die über die modernsten, schlagkräftigsten und kompliziertesten Waffen verfügt, und dennoch leben wir in Angst und Schrecken, denn seit zweieinhalb Jahren werden regelmässig Juden umgebracht. Unsere Weisen haben uns gelehrt, dass alles, was während der Flucht aus Ägypten geschah, sich zu dem Zeitpunkt wieder ereignen wird, wenn der Herr das Exil des jüdischen Volkes definitiv beenden wird. Wir stecken heute mitten in dieser Epoche, auch wenn wir uns dessen nicht wirklich gewahr werden, und die Geschichte von Pessach gibt uns Kraft, wenn wir bereit sind, ihrer Botschaft zu folgen. Als die Kinder Israels nach der Flucht aus Ägypten am Ufer des Roten Meeres standen, sahen sie Pharao mit sechshundert bewaffneten Soldaten herannahen, die sie angreifen wollten. Angesichts dieser auswegslosen Lage, das Meer im Rücken und eine tödliche Bedrohung vor sich, wurden vier verschiedene Standpunkte und Meinungen geäussert. Die erste Gruppe sagte: "Wir haben in Ägypten so viel gelitten, wir haben keine Kraft mehr zu kämpfen, lasst uns ins Meer gehen und gemeinsam Selbstmord begehen"; die zweite Gruppe erwiderte: "Lasst uns einfach nach Ägypten zurückkehren, wir haben 200 Jahre lang gelitten, wir werden es auch weiter ertragen"; die dritte liess verlauten: "Wir müssen die Ägypter bis auf den letzten Mann bekämpfen, nur der Kampf wir uns retten"; und die vierte Gruppe meinte nur: "Lasst uns beten". Moses hörte sich alle vier Vorschläge aufmerksam an, ergriff dann das Wort und sagte (Exodus 14, 13-14): "Fürchtet euch nicht, stehet fest und sehet zu, was für ein Heil der Herr heute an euch tun wird (Antwort an die Selbstmordkandidaten); Denn wie ihr die Ägypter heute seht, werdet ihr sie niemals wiedersehen (Antwort an diejenigen, die nach Ägypten zurückkehren wollten); Der Herr wird für euch streiten, (Antwort an die Kriegstreiber, die sich ihrer Kraft allzu sicher waren und jede Form von göttlicher Hilfe ignorierten) und ihr werdet stille sein (Antwort an die passiven Bigotten). Keine einzige der vier vorgeschlagenen Ideen war akzeptabel, und G'tt selbst legte ihnen die einzig mögliche Lösung dar mit den Worten (Exodus 14,15): "... Was schreist du zu mir? Sage den Israeliten, dass sie weiterziehen". Was will uns diese dramatische Szene lehren? Das Wesentliche ist in den letzten Worten enthalten, mit denen G'tt den Israeliten in Erinnerung ruft, weshalb sie aus Ägypten ausgezogen sind und nach welchem Ideal sie streben. Die Befreiung aus der ägyptischen Gefangenschaft, aus der Sklaverei, war nicht nur eine körperliche Erlösung, sie ging mit einer Botschaft einher, mit einem höhren Gedanken, einem Ziel, nämlich demjenigen, uns in unserem Land, in Israel, niederzulassen und uns zur Offenbarung am Berg Sinai zu führen, zu den Zehn Geboten, zu einem Leben gemäss den Vorschriften der Torah, d.h. den Regeln der Moral, der Würde und des frommen Lebens. Jedes Mal nämlich, wenn Moses Pharao bat, die Kinder Israels ausziehen zu lassen, sagte er (Exodus 7, 26): "So spricht der Herr: Lass mein Volk ziehen, dass es mir diene ". In diesem bestimmten Fall bedeutet der Begriff des Dienens eigentlich, gemäss den Vorschriften der jüdischen Ethik zu leben. Doch sobald die ersten Schwierigkeiten auftauchten, vergassen die Juden sehr schnell ihr Ideal und begannen nach unmöglichen und vor allem nach sofortigen Lösungen zu suchen. Ein bedeutender Gedanke kann aber nicht verwirklicht werden durch überstürztes Handeln, und jede Form von Schwäche oder Aufgabe stellt eine Gefahr dar, deren Folgen sich als verhängnisvoll erweisen können. Als sich die Juden wieder in Israel niederliessen, waren sie von einer einzigen Vorstellung beseelt: sie wollten in ihr Land zurückkehren, es wieder aufbauen und es entwickeln. Leider gibt es dieses Ideal heute nicht mehr. Wir befinden uns in derselben Situation wie damals unsere Vorfahren, als sie mit dem Rücken zum Roten Meer standen, und hier finden wir den direkten Bezug zwischen der Erlösung von Pessach und der Gegenwart. Die vier damals geäusserten Meinungen wiederholen sich heute; die Linke sagt: "Schliessen wir sofort Frieden und verzichten wir auf alles, was dazu nötig ist, einschliesslich auf Jerusalem"; die radikale Rechte schlägt "einen unerbittlichen Kampf" vor; andere Strömungen versuchen eine Form der Einigung um jeden Preis zu finden oder begnügen sich mit Beten. Wie damals teilt uns nun der Herr über die Botschaft von Pessach mit: "Bleibt eurem Ideal treu - vergesst nicht, dass Israel ausschliesslich den Juden gehört und dass es eure Pflicht ist, dieses Land zu entwickeln ". Es stimmt, dass die schwierigen Umstände uns verwirren und dass wir müde sind, doch wir müssen uns daran erinnern, wer wir sind und aus welchen Gründen wir hier sind. Wenn ich behaupte, dass es dieses Ideal nicht mehr gibt, will ich damit ausdrücken, dass wir uns nach Kräften bemühen müssen, die jüdische Eigenheit des Staates beizubehalten und zu verstärken. Die Bewahrung und Umsetzung der jüdischen Eigenheit des Staates ist eine Aufgabe, die eigentlich den Rabbinern und Erziehern obliegt. Es ist aber eine Tatsache, dass diese sich recht diskret verhalten und sich bei ihren Handlungen auf die Mitglieder ihrer Kreise beschränken, die ihnen sowieso gewogen, im Land aber in der Minderheit sind. Wie gedenken Sie die jüdische Eigenheit des Staates beizubehalten, wenn diejenigen, die sie fördern könnten, sich vor ihrer Pflicht drücken? Um eine so bedeutende Botschaft lehren und weitergeben zu können, muss man eine grosse Portion Nächstenliebe verspüren. Vielleicht kann ich dies durch eine Geschichte veranschaulichen: als ich meine Operation zu Gunsten der Aussenseiter in der israelischen Gesellschaft startete, galt ich sowohl in meinem Umkreis als auch bei meiner Zielgruppe als Träumer. Als ich zum ersten Mal mit meinem Bart und meinen Schläfenlocken eine Disco aufsuchte, sagten die Leute zu mir: "Rabbi, was tust du hier? Suchst du einen Mynian (Mindestzahl von zehn Männern für einen gemeinsamen G'ttesdienst)?" Wenn ich darauf gewartet hätte, dass die Stammgäste der Diskotheken in meine Synagoge kommen, würde ich noch heute allein da stehen. Ich habe also begonnen, mit viel Liebe und Offenheit auf sie zuzugehen und mich für sie zu interessieren. Mit der Zeit, allmählich, war mein Plan erfolgreich. Was ich in aller Bescheidenheit auf meiner Ebene erreicht habe, könnte vielleicht auf nationaler und internationaler Ebene angewandt werden. Ich glaube, dass zurzeit viele religiöse Verantwortliche die Augen öffnen und langsam, wenn auch reichlich spät, ich gebe es zu, die Tragweite ihrer Verantwortung erkennen. Die Juden der Diaspora machen sich gegenwärtig in zweierlei Hinsicht Sorgen: einerseits macht ihnen die Lage in Israel Angst, andererseits müssen sie zusehen, wie der Antisemitismus wieder zunimmt. Gleichzeitig und paradoxerweise ist die Solidarität mit Israel, die sich aufgrund dieser beiden Phänomene eigentlich verstärken sollte, schwächer denn je. Wie erklären Sie sich diesen Sachverhalt und was schlagen Sie vor, um diesem Missstand abzuhelfen? Das Gefühl der Zusammengehörigkeit zum jüdischen Volk und der starken Verbundenheit mit Israel kann nur über die jüdische Erziehung verstärkt werden. Ich reise in der ganzen Welt ständig von einer Gemeinschaft zur andern. Überall treffe ich auf dieselbe Realität, nämlich die Tatsache, dass dort, wo es kaum oder gar keine jüdischen Schulen, Jugendbewegungen und Talmudei Torah gibt, die Assimilierung rasend schnell vonstatten geht und die Verbindung zu Israel praktisch inexistent ist. Natürlich ist es die Aufgabe der Rabbiner, dieser fatalen Entwicklung Einhalt zu gebieten, doch es ist auch diejenige der Verantwortlichen und der Präsidenten der Gemeinschaften, die man gemeinhin als Honoratioren bezeichnet, die jedoch leider viel mehr Interesse für Fragen betreffend ihre Würde an den Tag legen als für den Wunsch, ihre Pflicht zu tun. Doch der Stolz, ein Jude zu sein, und die damit verbundenen Pflichten können nur dann gefördert werden, wenn die Höhergestellten als Vorbild dienen. Wir müssen alles unternehmen, vor allem in Bezug auf die Motivation der Eltern, der Schule und der Universität, um unsere Brüder daran zu erinnern, dass sie Juden sind. Dies alles mag Ihnen vorkommen wie eine Reihe von Schlagworten und hohlen Phrasen, doch ich werde Ihnen ein konkretes Beispiel für das geben, was erreicht werden kann. Im Rahmen meiner Institution schickte ich junge Gesandte nach Frankreich, Russland und in andere Länder der Diaspora, die sich liebevoll an die Jugend wenden sollten, weil diese im Hinblick auf ihre jüdische Identität oft desorientiert ist. Wir haben überall Schulen gegründet und Studentenverbindungen ins Leben gerufen. Der einzige Weg, etwas für Israel zu empfinden und seine Rechte - d.h. folglich unsere Rechte - angemessen verteidigen zu können, führt über die jüdische Erziehung und den Glauben an die Vorschriften unserer Torah, deren allererster Satz der ganzen Welt verkündet, dass Israel den Juden gehört. Erinnern wir uns daran, dass es heisst "am Anfang schuf G'tt Himmel und Erde"; dies bedeutet, dass wir ihn als Schöpfer und Besitzer anerkennen und dass er also das Land Israel denjenigen gab, die ihm angemessen erschienen: den Juden. Natürlich leben wir in einer Zeit, wo es verpönt, "deplatziert" ist, sich bewusst für eine Verstärkung des Stolzes auszusprechen, ein Jude zu sein. Es gilt als "rassistisch" daran zu erinnern, dass unsere gesamte individuelle und nationale Existenz von den Vorschriften unserer Torah und von der jüdischen Erziehung geprägt ist und dass eine mangelnde Verbreitung dieses Gedankenguts eine Sünde darstellt, deren Folgen uns nur nachhaltig schaden können. Doch die Geschichte von Pessach vermittelt uns noch eine andere aktuelle Botschaft. Als Moses zu Pharao sagte, er wolle ausziehen, fragte ihn Pharao (Exodus 10, 8-9) "Wer von euch soll aber hinziehen?". Moses antwortete: "Wir wollen ziehen mit jung und alt...". Zuerst die Jungen, dann die Alten. Der Anstand und der Respekt hätten verlangt, dass die Alten als Erste genannt werden. Doch indem er zuerst die Jungen erwähnt, wollte Moses betonen, dass bei uns die Zukunft aus der jüdischen Erziehung besteht, die sofort in den ersten Lebenstagen beginnt. Er hat gezeigt, dass die Unterstützung G'ttes nicht den Erwachsenen oder einer Gruppe vorbehalten ist, die aus den Hütern der Religion besteht, sondern dass bei den Juden jeder Einzelne die Verantwortung für diese Unterstützung trägt. Sie ist in unseren Taten und in unserem ethischen Verhalten verkörpert. Zuletzt möchte ich hervorheben, dass der Wille zum Widerstand in jedem von uns enthalten ist. Man braucht ihn nur zu aktivieren, deswegen haben wir kein Recht, unsere Handlungen von unseren Gefühlen diktieren zu lassen. Es stimmt, wir machen harte Zeiten durch und leider müssen viele von uns mit wirtschaftlichen Problemen kämpfen, doch das Pessach-Fest erinnert uns durch die Vielfalt seiner Botschaften daran, wer wir sind, welche Werte wir besitzen und welche Aufgabe auf uns wartet. Dieses Jahr will uns Pessach mitteilen, dass wir unsere Seele und unsere Identität wieder finden müssen, denn dank diesen beiden Elementen war es uns möglich, im Laufe unserer sowohl dramatischen als auch wunderbaren Geschichte zu überleben. Hier liegt die Quelle für unsere Kraft und hier liegt der Schlüssel zu unserem Erfolg und unserem Gelingen als Einzelne und als Nation! In diesem Sinne wünsche ich allen Leserinnen und Lesern von SHALOM: "CHAG PESSCAH KASCHER WE-SAMEACH". |