Leben retten! | |
Von Roland S. Süssmann | |
Noch vor gar nicht allzu langer Zeit scherzten meine israelischen Freunde, wenn sie die Sirene eines Krankenwagens hörten: "Bravo... schon wieder kommt ein jüdisches Kind zur Welt!". Seit zwei Jahren jedoch löst der durchdringende Ton der weissen Ambulanzen mit dem aufgemalten roten Stern Besorgnis und Leid aus, und dieselben jüdischen Freunde greifen rasch zum Handy und rufen die jüngsten Nachrichten ab... die oft schrecklich sind. Seit die arabischen Terroristen Angst und Schrecken verbreiten und in Israel jüdisches Blut vergiessen, wird der Mut, die Entschlossenheit und das Engagement einer Gruppe von Männern und Frauen auf eine harte Probe gestellt. Es handelt sich um die professionellen und freiwilligen Sanitäter von MAGEN DAVID ADOM (MADA), dieser aussergewöhnlichen Organisation, die oft fälschlicherweise "israelisches Rotes Kreuz" genannt wird. Neben den Rettungseinsätzen nach arabischen Terroranschlägen garantiert Magen David Adom weiterhin den normalen Verlauf aller sonst üblichen Notfalleinsätze.Wir wollten besser verstehen, wie die Organisation mit der grösseren Belastung durch den Terrorismus fertig wird, und haben den Generaldirektor von Magen David Adom, den Reservegeneral AVI ZOHAR, getroffen. Können Sie uns kurz beschreiben, wie Sie sich organisiert haben und wie Sie die neuen Herausforderungen bewältigen, mit denen Sie seit zwei Jahren konfrontiert werden? Im Verlauf der letzten zwanzig Monate haben wir über 4000 Personen geholfen, Zivilisten, Armeeangehörigen und Polizisten in ganz Israel, unter anderem auch in Judäa-Samaria und Gaza. Zur Veranschaulichung möchte ich als Beispiel unseren Einsatz beim Selbstmordattentat im Park Hotel in Netanya anführen, das am Sederabend verübt wurde. Innerhalb von weniger als 15 Minuten befanden sich 40 Krankenwagen vor Ort, und 20 Minuten nach der Explosion waren bereits alle Schwerverletzten abtransportiert worden und auf dem Weg ins Spital. Heute besitzen wir 700 Ambulanzwagen, von denen sieben gepanzert sind, denn unsere Sanitäter müssen sehr oft im Kugelregen arbeiten. Dazu möchte ich an Yochai Porat s.A. erinnern: er war einer unserer freiwilligen Mitarbeiter und wurde am 3. März 2002 um 6.41 Uhr morgens ermordet. Ein Terrorist hatte einen Wachtposten der Armee angegriffen und hinterliess sechs Tote und mehrere Verletzte. Yochai gehörte zu den ersten Rettungsleuten und hatte, wie immer, einen Entbindungskoffer dabei. Er nahm ihn zu allen seinen Einsätzen mit, denn er meinte: "Man weiss nie, plötzlich stehen wir vor einer hochschwangeren arabischen Frau und müssen ihr bei der Geburt helfen können." Neben unserer Tätigkeit bei Rettungseinsätzen führen wir auch die grösste Blutbank in Israel, da wir 93% der Blutreserven des Landes verwalten. Wir werden oft gefragt, ob wir auch Blutspenden von ausländischen Besuchern akzeptieren. Es hängt davon ab, woher sie stammen und welche Länder die Spender schon besucht haben, bevor sie uns ihr Blut anbieten. Wegen des Rinderwahnsinns nehmen wir z.B. kein Blut von Briten an oder von Menschen, die sich in den letzten sechs Monaten in Grossbritannien aufgehalten haben. Alle Blutspenden werden getestet und so haben wir in den vergangenen elf Jahren zwar insgesamt über zwei Millionen Blutkonserven erhalten, von denen aber nur eine 1991mit Hepatitis infiziert war. Die Opfer befinden sich also sehr rasch auf dem Weg ins Spital, doch wie bestimmen die Rettungsmannschaften, wohin die jeweiligen Verletzten gebracht werden? Jeder Mitarbeiter besitzt eine berufliche Ausbildung für den medizinischen Hilfsdienst und verfügt über viel Erfahrung. Je nach Art der Verletzung wissen sie genau, welches Krankenhaus für die adäquate Betreuung des Opfers ausgerüstet ist. Wenn sie jedoch feststellen, dass eine Person aufgrund ihrer schweren Wunden und der Todesgefahr, in der sie schwebt, möglichst rasch hospitalisiert werden muss, d.h. in den folgenden 5 bis 10 Minuten, bringen sie sie ins nächstgelegene Spital, das sich wiederum um den späteren Transfer kümmert. Auch hier wird durch ein Beispiel klarer, dass die Wirklichkeit oft sehr kompliziert ist. Ein junges Mädchen aus Chicago wurde von mehreren Kugeln aus dem Maschinengewehr eines Terroristen getroffen, der mitten in Jerusalem, auf der berühmten Jaffa-Strasse, auf sie geschossen hatte. Auf den ersten Blick schien sie tot zu sein, doch die Sanitäter haben alles getan, um sie wieder zu beleben, und allmählich fing ihr Puls wieder an zu schlagen. Sie beschlossen, sie ins Krankenhaus Hadassah Ein Karem zu fahren, einige Kilometer von Jerusalem entfernt. Unterwegs wurden sie sich bewusst, dass sie verloren war, wenn sie nicht sofort an Herz und Lunge operiert würde. Die Rettungsleute nahmen Kontakt mit dem Spital Schaare Tsedek im Zentrum von Jerusalem (siehe SHALOM Vol. 37) auf, damit dort in aller Eile ein OP und ein Team von Chirurgen bereit gestellt werden konnten, um das Mädchen innerhalb kürzester Zeit zu operieren. Seit zwei Jahren müssen Sie mit einem deutlichen Anstieg der Einsätze fertig werden. Waren Sie auf eine derartige Explosion der Gewalt vorbereitet? Wir haben seit 1998 unsere Kapazitäten erhöht, und als die Situation sich verschärfte, waren wir einsatzbereit für all jene, die auf uns angewiesen waren. Wir behandeln im Schnitt 420'000 Fälle pro Jahr, das sind ungefähr 1'200 Einsätze pro Tag. Probleme treten dann auf, wenn wir ganz plötzlich mehrere Dutzend Opfer, oft Schwerverletzte betreuen müssen. In Bezug auf die Krankenwagen sind wir so eingerichtet, dass wir sofort reagieren und losfahren können. Viele unserer Mitarbeiter fahren mit den Krankenwagen nach Hause und sind somit in der Lage, sich innerhalb kürzester Zeit am Ort der Tragödie einzufinden, ohne zuvor über das Hauptdepot fahren zu müssen. In Jerusalem verfügen wir über ca. 70 Ambulanzen, die alle innerhalb von 10 bis 15 Minuten an dem Ort eintreffen können, wo ein Attentat stattgefunden hat. Innerhalb der grünen Linie stehen uns keine gepanzerten Ambulanzen zur Verfügung, diese kommen nur in den Gebieten zum Einsatz. Da es aber vorkommt, dass unsere Rettungsmannschaften zur Zielscheibe der Terroristen werden, tragen sie in einigen Fällen schusssichere Westen. Im Verlauf der letzten zwei Jahre haben wir die Zahl unserer Mitarbeiter um 120 Personen erhöht und wir setzen 100 Ambulanzen mehr ein. Unsere Teams sind in drei Gruppen eingeteilt, wobei jede acht Stunden täglich arbeitet und dabei 180 Krankenwagen in Bereitschaft hält. Im Notfall können wir sofort alle drei Gruppen gleichzeitig los schicken und 540 Ambulanzen auf einmal einsetzen. Wir sind in der Lage, auf bedeutende Ereignisse mit weitreichenden Folgen zu reagieren, auch im Falle eines Konflikts. Es stellt sich natürlich die Frage, ob wir es schaffen würden, bei sehr intensivem Einsatz und unter hohem Druck während einer längeren, sich über mehrere Tage erstreckenden Zeitspanne immer noch so effizient zu sein. Ich bin überzeugt, dass wir dank unseren Mitarbeitern, unserer Erfahrung und unserer Ausrüstung diese schwere Aufgabe durchaus erfüllen könnten. Wir bilden unsere Leute auch für den Fall eines chemischen oder biologischen Angriffs aus. Sollte diese Situation tatsächlich eintreffen, würden wir uns nicht auf unsere freiwilligen Mitarbeiter stützen, sondern aktiv mit der Polizei, der Feuerwehr und der Armee zusammen arbeiten. Wer sind die Menschen, die Ihnen freiwillig ihre Unterstützung anbieten? Bei uns schreiben sich zahlreiche junge Leute ein, ca. 6500 von ihnen sind zwischen 16 und 18 Jahre alt, dazu kommen ungefähr 1500 bis 2000 Erwachsene. Wir führen im ganzen Land Kurse für unsere Freiwilligen durch, veranstalten aber auch einfachere Kurse für die gesamte Bevölkerung, damit alle wissen, was bei einem Herzanfall, einem Epilepsieanfall usw. zu tun ist. Die Ausbildung unserer Freiwilligen umfasst zwischen 30 und 120 Stunden, so dass jeder Teilnehmer ein anderes Niveau erreicht. Seit der Wiederaufnahme der Feindseligkeiten melden sich deutlich mehr Freiwillige bei uns. In Zusammenarbeit mit der Jewish Agency haben wir ebenfalls ein Volontariatsprogramm für die jungen Juden in der Diaspora ins Leben gerufen, die sich in Israel nützlich machen möchten; sie werden aber vor allem dazu ausgebildet, nach der Rückkehr in ihre jeweiligen Länder als "Botschafter von Magen David Adom" zu fungieren. In der Diaspora bestehen überall auf der Welt Fördergruppen. Welche konkrete Unterstützung erhalten Sie von ihnen? Diese Hilfe ist natürlich in erster Linie finanzieller Art. Angesichts der Umstände ist unser Budget und folglich unser Defizit empfindlich angewachsen. Dies haben unsere Freunde begriffen, und sie haben zusätzliche Anstrengungen unternommen, um uns zu helfen. Wir brauchen nämlich immer mehr Material. Es ist eine lange Liste und ich führe als Beispiel nur die Einweg-Gummihandschuhe an, von denen wir sehr viele verwenden. Gegenwärtig müssen wir 5 Millionen Handschuhe zusätzlich kaufen, die US$.30,-- pro tausend Exemplare kosten, d.h. insgesamt US$.150'000,-- usw. Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass wir in der Schweiz zwei Sektionen besitzen, eine in Basel, die andere in Zürich, und beide unterstützen uns in grossem Ausmass. Dafür sind wir sehr dankbar. Die Flutwelle der arabischen Gewalt stellt für die gesamte Bevölkerung eine harte Prüfung dar. Ich kann mir vorstellen, dass die Häufung der Terroranschläge für Ihre Rettungsmannschaften psychisch sehr belastend sein muss. Wie reagieren sie angesichts der Tragödien und welche psychologische Unterstützung geben Sie ihnen? Es stimmt, dass einige Tage schwerer zu ertragen sind als andere, vor allem, wenn zwei Attentate stattfinden. Doch jeder unserer Sanitäter hat das Gefühl, sich selbst übertreffen zu müssen. Innerhalb der Gruppen entsteht eine Art Selbstmotivation, die ihnen bei der Erfüllung ihrer Aufgabe hilft. Was die psychologische Unterstützung angeht, so entwickelt sich diese von allein und man hilft sich gegenseitig, ohne dass dazu besondere Sitzungen veranstaltet werden müssen. Wie sehen Ihre Beziehungen zum Internationalen Roten Kreuz aus? Der Davidsstern ist, wie Sie wissen, immer noch aus dieser Organisation ausgeschlossen. Wir arbeiten aber auf fast allen Gebieten zusammen und pflegen sogar gute Beziehungen zum palästinensischen Roten Halbmond, der von der PLO abhängig ist, da er von der internationalen Staatengemeinschaft finanziert wird. Muss beispielsweise ein Araber aus den Gebieten in ein israelisches Spital gebracht werden, holt ihn eines unserer Fahrzeuge an einem Übergangsposten ab. Die Araber bitten uns, ihnen beim Passieren der Kontrollstellen der Armee zu helfen, doch hier stehen wir vor einer Schwierigkeit, da einige palästinensische Ambulanzen für den Transport von Sprengstoff verwendet wurden. Ich erinnere an dieser Stelle daran, dass wir es waren, die in den Anfängen des palästinensischen Roten Halbmondes die ersten Sanitäter ausbildeten. Zum Schluss möchte ich noch hinzufügen, dass unser roter Stern zwar noch nicht "akzeptiert" ist, dass wir uns aber an Hilfsmissionen in der Türkei, im Kosovo, in Eritrea, in Äthiopien sowie in anderen Regionen mit einem hohen muslimischen Bevölkerungsanteil beteiligt haben. Unsere mit dem berühmten roten Stern gekennzeichneten Sanitäter waren da und haben geholfen... vom Roten Halbmond war hingegen weit und breit nichts zu sehen! |